
Ergänzend zu Ihrem Vorstellungsbesuch von 4.48 Psychose von Sarah Kane in der Regie von Ulrich Rasche erhalten Sie hier weiteres (digitales) Bonusmaterial.

Trailer 4.48 Psychose

Schauspielerin Kathleen Morgeneyer im Gespräch
Schauspieler Yannik Stöbener und Justus Pfankuch im Gespräch

Musik im Sprechtheater
– Pressure Composing in 4.48 Psychose –
von Harry Lehmann
Früh am Morgen öffnet sich ein kleines Zeitfenster in einem psychotischen und mit Medikamenten stillgestellten Ich; langsam lässt die Wirkung der Psychopharmaka nach: "Um 4 Uhr 48 / wenn die Klarheit vorbeischaut / für eine Stunde und 12 Minuten bin ich ganz bei Vernunft." So lautet ein zentraler Satz in Sarah Kanes Stück 4.48 Psychose, das im Januar 2020 am Deutschen Theater in Berlin in einer spektakulären Inszenierung von Ulrich Rasche Premiere hatte. Ihre starke ästhetische Wirkung gewinnt dieser Abend dadurch – und das ist ein Novum im Sprechtheater –, dass er gemeinsam mit dem Komponisten Nico van Wersch im Medium der Musik kreiert worden ist.
I. Maschine und Form
Sarah Kane verarbeitet in ihrem Stück ihre eigenen Klinikaufenthalte, sodass man beim Lesen des Textes nicht umhinkommt, ihn als einen vierzigseitigen Abschiedsbrief zu lesen; eine letzte Nachricht, die in jenen lichten Morgenstunden verfasst wurde, bevor sich die Autorin im Alter von 28 Jahren das Leben nahm. Dem dissoziierten Bewusstsein entspricht die fragmentierte Form des Textes, der aus freien Versen, inneren Monologen, Beschimpfungen, konkreter Poesie, Dialogen zwischen Therapeuten und Patientin, nüchternen Arztberichten und unverständlichen Zahlenmatrizen besteht. Man hat es also mit einem typischen postdramatischen Stück aus dem Jahr 1999 zu tun, in dem weder die Personen noch die Orte noch die zeitlichen Abläufe spezifiziert sind und in dem es keine Regieanweisungen gibt. Nichts ist naheliegender, als dieses Textrhizom als unkontrollierbaren Bewusstseinsstrom zu inszenieren.
Genau das aber macht Ulrich Rasche nicht, zu dessen Regiekonzept es seit Jahren gehört, die gesprochene Sprache durch Körperbewegungen zu rhythmisieren. Die Schauspieler schreiten bei jedem Wort, das sie sprechen, auf Laufbändern voran, die unablässig unter ihren Füßen hinwegrollen. Die Worte werden – von einzelnen Akteuren, zu zweit, zu dritt oder im vielstimmigen Chor – im Takt der Schritte gesprochen, geflüstert und geschrien. Der Regisseur hat sich hier ein Instrument geschaffen, mit dem er jedem beliebigen Text ein Versmaß einschreiben kann. Verstärkt wird diese Poetisierung der Sprache durch ein Quartett aus vier Musikern mit E-Orgel, E-Bass, Marimbaphon und Schlagwerk. Die Musik taktet die Bewegungen der Arme, Beine und Köpfe, die Bewegung der Schauspieler taktet die Sprache, und das, was gesprochen wird, gibt der Musik den Rhythmus vor.
"Wie kann ich zur Form zurückkehren / seit alles formstrenge Denken mir abgeht?", heißt es im Stück, und die Antwort, die Rasche gibt, lautet: durch eine Ästhetik, welche die Sprache, die Musik, die Kostüme und das Bühnenbild gleichermaßen integriert. Das formlos sich artikulierende Ich wird durch eine formstrenge Inszenierung stabilisiert. Über den ganzen Abend baut sich eine Spannung auf zwischen dem, was gesagt wird, und dem, wie es gesagt wird. Doch welchen Sinn hat es, dass der Sprechakt derart im Widerspruch zum Gesprochenen steht? Es gab Stimmen nach der Premiere, die in der Inszenierung eine perfide Ästhetisierung menschlichen Leidens sahen, aber es gibt auch genügend Anzeichen im Stück, die auf eine ganz andere Lesart hindeuten.
Genau das aber macht Ulrich Rasche nicht, zu dessen Regiekonzept es seit Jahren gehört, die gesprochene Sprache durch Körperbewegungen zu rhythmisieren. Die Schauspieler schreiten bei jedem Wort, das sie sprechen, auf Laufbändern voran, die unablässig unter ihren Füßen hinwegrollen. Die Worte werden – von einzelnen Akteuren, zu zweit, zu dritt oder im vielstimmigen Chor – im Takt der Schritte gesprochen, geflüstert und geschrien. Der Regisseur hat sich hier ein Instrument geschaffen, mit dem er jedem beliebigen Text ein Versmaß einschreiben kann. Verstärkt wird diese Poetisierung der Sprache durch ein Quartett aus vier Musikern mit E-Orgel, E-Bass, Marimbaphon und Schlagwerk. Die Musik taktet die Bewegungen der Arme, Beine und Köpfe, die Bewegung der Schauspieler taktet die Sprache, und das, was gesprochen wird, gibt der Musik den Rhythmus vor.
"Wie kann ich zur Form zurückkehren / seit alles formstrenge Denken mir abgeht?", heißt es im Stück, und die Antwort, die Rasche gibt, lautet: durch eine Ästhetik, welche die Sprache, die Musik, die Kostüme und das Bühnenbild gleichermaßen integriert. Das formlos sich artikulierende Ich wird durch eine formstrenge Inszenierung stabilisiert. Über den ganzen Abend baut sich eine Spannung auf zwischen dem, was gesagt wird, und dem, wie es gesagt wird. Doch welchen Sinn hat es, dass der Sprechakt derart im Widerspruch zum Gesprochenen steht? Es gab Stimmen nach der Premiere, die in der Inszenierung eine perfide Ästhetisierung menschlichen Leidens sahen, aber es gibt auch genügend Anzeichen im Stück, die auf eine ganz andere Lesart hindeuten.
II. Psyche und Existenz
Zum Beispiel tragen die drei Frauen und sechs Männer, auf welche das Textmaterial aufgeteilt wurde, entweder dunkle oder helle enganliegende Ganzkörperanzüge und treten in unterschiedlichen weißen, schwarzen oder schwarz-weiß gemischten Figurenkonstellationen auf. In der Regel tragen die Frauen die weißen und die Männer die schwarzen Kostüme, und oft ist der Text so verteilt, dass die weißen Figuren aus der Innensicht der Patientin und die schwarzen eher aus der Beobachterperspektive der Therapeuten sprechen. Erst später merkt man, dass es auch Ausnahmen gibt, die nicht in dieses Interpretationsschema passen.
Im letzten Drittel der Aufführung sind ein paar Schlüsselsätze zu hören, mit denen die merkwürdige Rollenverteilung plötzlich evident wird: "ein Ziel erreichen und Ehrgeiz entwickeln / Hürden überwinden und den höchsten Standard erlangen / den Selbstwert mehren und durch erfolgreiche Anwendung des eigenen Talents / Gegensätze überwinden / Kontrolle ausüben und Einfluss auf andere / sich selbst behaupten / den eigenen psychologischen Raum behaupten / das Ego verteidigen". Man sieht kein fragiles Ich zwischen zwei depressiven Schüben, sondern einen Männerchor, der dieses Mantra der Ich-Stabilisierung herausschreit. Solche Sätze müssen sich auch die starken und gesunden Leistungsträger der Gesellschaft vorsprechen, um tagein, tagaus funktionieren zu können. Die Inszenierung setzt am Anfang die Unterscheidung zwischen den hellen und den dunklen, den kranken und den gesunden Figuren, um sie später bewusst wieder aufheben zu können. Spätestens hier sieht man normale Menschen auf der Bühne, die – wie psychisch Kranke – um ihre Gesundheit kämpfen. Der vollständige Verlust allen Lebenssinns, den Sarah Kane in 4.48 Psychose zu Protokoll gibt, ist in Rasches Inszenierung kein Erfahrungsbericht mehr, sondern beschreibt die Verfasstheit des Daseins selbst – in ihren hautengen Ganzkörperanzügen wirken die Menschen, ganz gleich ob sie auf der Seite der Therapeuten oder auf der Seite der Therapierten stehen, gleichermaßen nackt. All das spielt sich in einem äußerst minimalistischen Bühnenbild ab, das von schmalen Neonleuchten definiert wird und jeden Raum meinen kann, ohne konkret an einen Klinikraum zu erinnern. Der Regisseur liest das Stück nicht psychologisch, sondern existenziell; die Textzeile "Doktoren die man verfluchtnochmal für Patienten hielte, wenn mans nicht besser wüsste" klingt jetzt wie ein Leitmotiv.
Im letzten Drittel der Aufführung sind ein paar Schlüsselsätze zu hören, mit denen die merkwürdige Rollenverteilung plötzlich evident wird: "ein Ziel erreichen und Ehrgeiz entwickeln / Hürden überwinden und den höchsten Standard erlangen / den Selbstwert mehren und durch erfolgreiche Anwendung des eigenen Talents / Gegensätze überwinden / Kontrolle ausüben und Einfluss auf andere / sich selbst behaupten / den eigenen psychologischen Raum behaupten / das Ego verteidigen". Man sieht kein fragiles Ich zwischen zwei depressiven Schüben, sondern einen Männerchor, der dieses Mantra der Ich-Stabilisierung herausschreit. Solche Sätze müssen sich auch die starken und gesunden Leistungsträger der Gesellschaft vorsprechen, um tagein, tagaus funktionieren zu können. Die Inszenierung setzt am Anfang die Unterscheidung zwischen den hellen und den dunklen, den kranken und den gesunden Figuren, um sie später bewusst wieder aufheben zu können. Spätestens hier sieht man normale Menschen auf der Bühne, die – wie psychisch Kranke – um ihre Gesundheit kämpfen. Der vollständige Verlust allen Lebenssinns, den Sarah Kane in 4.48 Psychose zu Protokoll gibt, ist in Rasches Inszenierung kein Erfahrungsbericht mehr, sondern beschreibt die Verfasstheit des Daseins selbst – in ihren hautengen Ganzkörperanzügen wirken die Menschen, ganz gleich ob sie auf der Seite der Therapeuten oder auf der Seite der Therapierten stehen, gleichermaßen nackt. All das spielt sich in einem äußerst minimalistischen Bühnenbild ab, das von schmalen Neonleuchten definiert wird und jeden Raum meinen kann, ohne konkret an einen Klinikraum zu erinnern. Der Regisseur liest das Stück nicht psychologisch, sondern existenziell; die Textzeile "Doktoren die man verfluchtnochmal für Patienten hielte, wenn mans nicht besser wüsste" klingt jetzt wie ein Leitmotiv.
III. Sprache und Musik
Seine ästhetische Kraft gewinnt der Abend zunächst einmal dadurch, dass die gesprochene Sprache von den Schritten der Schauspieler getaktet wird. Mit einer hyperrealistischen Prägnanz wird jede einzelne Silbe artikuliert und hallt akustisch verstärkt im Zuschauerraum nach. Indem Rasches Bewegungsmaschinerie der Sprache einen Rhythmus vorgibt, werden die elementaren Sprachbausteine für einen Sekundenbruchteil voneinander getrennt; jede Silbe, jedes Wort, jeder Satz stehen einen Moment lang für sich im Raum – so, als ob sie auf ihr eigenes Echo warten würden. Es ist dieser Nachhalleffekt der gesprochenen Sprache, der die Vorstellung evoziert, dass die Sätze aus 4.48 Psychose in einen großen, weiten Raum hineingesprochen werden, was ein Gefühl der Erhabenheit hervorruft. So könnten auch die Verse im antiken Dionysostheater von Athen geklungen haben, als sie sich mit einem leichten Nachhall in dieser riesigen Arena ausgebreitet hatten, die dreißig oder vierzig Mal so viele Sitzplätze fasste wie ein großer Saal in einem Stadttheater. Nur auf der Oberfläche ist Rasches Theater ein "Maschinen-Theater", eigentlich transferieren die "Maschinen" den Theatertext in einen Körpertext, aus dem jene Ästhetik des Erhabenen entsteht, die für Rasche charakteristisch ist.
Allein mit den Mitteln der Sprache ließe sich die hypnotische Wirkung dieser Inszenierung kaum erzielen; ganz wesentlich ist, dass sie von einer kongenialen Musik getragen wird, die auf die Kompositionstechniken der Neuen Musik zurückgreift. Der Komponist Nico van Wersch hat in 4.48 Psychose jede einzelne Szene durchkomponiert und eine elaborierte Bühnenmusik für das Stück geschrieben, die von vier Musikern vom Blatt gespielt wird – was bei einer Aufführung im Sprechtheater eigentlich nicht vorkommt. Eine solche musikalische Differenziertheit ist für Rasches Regiekonzept aber entscheidend, insofern die Musik unablässig den Takt der Schritte auf den Laufbändern abgreifen muss, was sie von vornherein stark limitiert. Bei einer dreistündigen Aufführung würde sich unweigerlich eine bleierne Monotonie über das Stück legen, könnte der Komponist nicht auch mit Polyrhythmen arbeiten, Drone-Music und stehende Klangflächen generieren, mikrotonal gestimmte Orgeln einsetzen, dissonante und atonale Akkorde einbauen und sich freizügig im Stilrepertoire der Kunstmusik bedienen.
Vor allem aber generiert die Musik ein Erwartungsmuster für den nächsten Schritt, die nächste Armbewegung und das nächste Wort. Doch die Rhythmen von Musik, Sprache und Bewegung folgen nur bedingt demselben Takt, manchmal verschieben sich ihre Phasen gegeneinander, manchmal laufen sie asynchron nebeneinander her und erzeugen überraschende rhythmische Interferenzen. Verankert in der rhythmischen Struktur der Musik, entstehen für die Schauspieler ganz andere Freiräume, einen Text zu sprechen. Jede Silbe kann wie ein singuläres Ereignis betont, jedes Wort aus dem Sprachfluss mit zwei Pausen herausgehoben werden. Da aber diese für sich stehenden semantischen Einheiten von der Musik durch die Zeit getragen werden, fallen sie nicht aus dem Sinnzusammenhang des Textes heraus. Damit können die Sprecher in jede elementare sprachliche Äußerung ein Maximum an Ausdruckskraft legen, was zu diesem charakteristischen hyperexpressiven Sprechen führt.
Gleich zu Beginn läuft Kathleen Morgeneyer mit mühsamen kleinen Schritten gegen ihr Schicksal an: "Ich langweile mich und bin unzufrieden mit allem / Ich bin ein absoluter Versager als Mensch / Ich möchte mich umbringen". Das Marimbaphon legt in dieser Szene ein rhythmisches Muster aus, in das die verzweifelten Sätze fallen. In Rasches Aufführung deklamieren die Schauspieler nicht einfach ihren Text, sondern sie bekommen von der Musik die Zeit, jede Silbe mit einem Gefühl, einer Bewegung und einem Gesichtsausdruck zu verknüpfen, was der Sprache eine Wirkmächtigkeit verleiht, die nicht nur das Publikum elektrisiert. In manchen Szenen sprechen sich auch die Schauspieler in einen Rausch, sodass ihre Worte mit ihrer Wut, ihrem Begehren oder ihrem Sarkasmus verschmelzen. Getrieben von Beat eines E-Basses und einer Trommel, spielt Katja Bürkle eine Wahnszene und schreit sich, bis sie vollkommen außer sich ist, in den Irrsinn eines psychotischen Schubs hinein: "Ich wars, ich habe die Juden vergast, die Kurden gekillt, ich hab die Araber bombardiert, ich hab kleine Kinder gefickt, während sie um Gnade flehten".
Allein mit den Mitteln der Sprache ließe sich die hypnotische Wirkung dieser Inszenierung kaum erzielen; ganz wesentlich ist, dass sie von einer kongenialen Musik getragen wird, die auf die Kompositionstechniken der Neuen Musik zurückgreift. Der Komponist Nico van Wersch hat in 4.48 Psychose jede einzelne Szene durchkomponiert und eine elaborierte Bühnenmusik für das Stück geschrieben, die von vier Musikern vom Blatt gespielt wird – was bei einer Aufführung im Sprechtheater eigentlich nicht vorkommt. Eine solche musikalische Differenziertheit ist für Rasches Regiekonzept aber entscheidend, insofern die Musik unablässig den Takt der Schritte auf den Laufbändern abgreifen muss, was sie von vornherein stark limitiert. Bei einer dreistündigen Aufführung würde sich unweigerlich eine bleierne Monotonie über das Stück legen, könnte der Komponist nicht auch mit Polyrhythmen arbeiten, Drone-Music und stehende Klangflächen generieren, mikrotonal gestimmte Orgeln einsetzen, dissonante und atonale Akkorde einbauen und sich freizügig im Stilrepertoire der Kunstmusik bedienen.
Vor allem aber generiert die Musik ein Erwartungsmuster für den nächsten Schritt, die nächste Armbewegung und das nächste Wort. Doch die Rhythmen von Musik, Sprache und Bewegung folgen nur bedingt demselben Takt, manchmal verschieben sich ihre Phasen gegeneinander, manchmal laufen sie asynchron nebeneinander her und erzeugen überraschende rhythmische Interferenzen. Verankert in der rhythmischen Struktur der Musik, entstehen für die Schauspieler ganz andere Freiräume, einen Text zu sprechen. Jede Silbe kann wie ein singuläres Ereignis betont, jedes Wort aus dem Sprachfluss mit zwei Pausen herausgehoben werden. Da aber diese für sich stehenden semantischen Einheiten von der Musik durch die Zeit getragen werden, fallen sie nicht aus dem Sinnzusammenhang des Textes heraus. Damit können die Sprecher in jede elementare sprachliche Äußerung ein Maximum an Ausdruckskraft legen, was zu diesem charakteristischen hyperexpressiven Sprechen führt.
Gleich zu Beginn läuft Kathleen Morgeneyer mit mühsamen kleinen Schritten gegen ihr Schicksal an: "Ich langweile mich und bin unzufrieden mit allem / Ich bin ein absoluter Versager als Mensch / Ich möchte mich umbringen". Das Marimbaphon legt in dieser Szene ein rhythmisches Muster aus, in das die verzweifelten Sätze fallen. In Rasches Aufführung deklamieren die Schauspieler nicht einfach ihren Text, sondern sie bekommen von der Musik die Zeit, jede Silbe mit einem Gefühl, einer Bewegung und einem Gesichtsausdruck zu verknüpfen, was der Sprache eine Wirkmächtigkeit verleiht, die nicht nur das Publikum elektrisiert. In manchen Szenen sprechen sich auch die Schauspieler in einen Rausch, sodass ihre Worte mit ihrer Wut, ihrem Begehren oder ihrem Sarkasmus verschmelzen. Getrieben von Beat eines E-Basses und einer Trommel, spielt Katja Bürkle eine Wahnszene und schreit sich, bis sie vollkommen außer sich ist, in den Irrsinn eines psychotischen Schubs hinein: "Ich wars, ich habe die Juden vergast, die Kurden gekillt, ich hab die Araber bombardiert, ich hab kleine Kinder gefickt, während sie um Gnade flehten".
Im Sprechtheater kommt häufig Musik zum Einsatz, aber normalerweise wird Popmusik oder Klassische Musik vom Band eingespielt, oder es steht ein kleines Ensemble am Bühnenrand und improvisiert. Was man auf einer Theaterbühne in der Regel nicht hört, ist live gespielte Klassische oder Neue Musik. Diese auffällige Abwesenheit von Kunstmusik im Sprechtheater hat sowohl ökonomische als auch künstlerische Gründe. Zum einen fehlen hier die finanziellen Ressourcen, um Musiker über Wochen hinweg Probenzeiten zu bezahlen, was in jedes Opernbudget fest eingepreist ist. Zum anderen sind Theaterregisseure größere künstlerische Freiräume gewohnt, die sie nicht einfach an einen Komponisten abtreten werden. Eine zeitgenössische Oper beginnt mit einem Kompositionsauftrag, der in eine Orchesterpartitur mündet, welche die ganze Inszenierung in vielen Hinsichten determiniert. Aus diesem Grund konnten und können Theaterregisseure, deren Inszenierungen primär auf den Proben entstehen, mit Kunstmusik wenig anfangen.
Diese doppelte Zugangsbarriere zum Sprechtheater überwindet van Wersch, indem er vorab auf seinem Computer eine umfangreiche Matrix mit kurzen Samplekompositionen erstellt, die sich – noch bevor einer der Musiker involviert ist – mit ePlayern auf den Theaterproben abspielen lassen. Während der Regisseur mit den Schauspielern arbeitet, komponiert van Wersch mithilfe dieses Samplebaukastens die Musik zu den entsprechenden Einzelszenen. Er nennt diese Phase "Pressure Composing", weil hier an der Musik weiterkomponiert wird, während sie bereits auf den Proben läuft und den Schauspielern den Takt vorgibt. Anfangs wird nur ein einfacher Samplebaustein geloopt, der dann aber unter Zeitdruck Takt für Takt ergänzt, transformiert und mit innerer Komplexität angereichert wird.
Der große Vorzug dieses Kompositionsverfahrens besteht darin, dass es flexibel auf die Anforderungen der Regie reagieren kann und sich bis zuletzt neue musikalische Einfälle ausprobieren lassen. So vermag die Musik unmittelbar auf den Probenprozess einzuwirken und lässt eine Vielzahl unvorhersehbarer Feedbackloops zwischen Regisseur, Komponist und Schauspielern entstehen. Auch der Regisseur gewinnt jetzt die Freiheit, mit den provisorischen Einspielungen zu experimentieren und einzelne Szenen spezifisch auf einen bestimmten Sound hin zu inszenieren.
Dieses Echtzeitkomponieren von Kunstmusik kann nur gelingen, weil ein Großteil der Kompositionsarbeit bereits vorab geleistet wurde und in den Samplebausteinen steckt, mit denen auf den Theaterproben weiterkomponiert wird. Das in der Samplesammlung abgespeicherte musikalische Material ist auf der einen Seite viel reichhaltiger als das, was man tatsächlich als Musik in 4.48 Psychose hören kann; am Ende wurden höchstens zwanzig Prozent des präkomponierten Materials benutzt. Auf der anderen Seite handelt es sich um ein sehr spezifisches Material, das genau für diese eine konkrete Inszenierung hergestellt worden ist. Der Komponist bringt sozusagen zu jeder neuen Theaterproduktion einen neuen Samplebaukasten mit.
Wie eine solche Samplesammlung konkret beschaffen ist, wird durch stückspezifische Konzepte definiert. Für die Musik in 4.48 Psychose stand von Anfang an fest, dass der emotionale Kern des Textes aus Trauer, Hass, Wut und Verzweiflung nicht musikalisch illustriert werden soll, weshalb van Wersch in der Präkompositionsarbeit auf Melodien und erkennbare Kadenzen komplett verzichtet hat. Stattdessen werden in der Aufführung Keyboards eingesetzt, die nicht nur vorab verstimmt wurden, sondern auch noch während des Spielens verstimmt werden. Die daraus entstehenden flirrenden harmonischen Schwebungen hinterlassen beim Hören ein Gefühl der Haltlosigkeit und zielen damit nicht auf die Emotionen an sich, sondern exakt auf jenen Zustand einer alles ergreifenden existenziellen Verunsicherung, aus dem Trauer, Hass, Wut und Verzweiflung überhaupt erst entstehen.
Der Inbegriff von Kitsch ist das nachgeahmte große Gefühl; und diese Gefahr der Verkitschung potenziert sich im Theater noch einmal, wenn ein Text explizit von solchen Gefühlen spricht. Van Wersch vermeidet mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die musikalischen Pathosformeln. Zu diesen Mitteln gehören auch Cluster-Akkorde im Stil von Xenakis und Messiaen, die aufgrund ihrer inneren Komplexität mit keinem bestimmten Ausdruckswert verknüpft werden können, sowie eine Vielzahl von Polyrhythmen, die immer wieder aufs Neue überraschende Interferenzen erzeugen. Mikrotonale Schwebungen, Cluster-Akkorde und Polyrhythmen imitieren nicht die dunklen Emotionen von 4.48 Psychose, sondern erzeugen den schwankenden Grund, auf dem solche Gefühle in den Subjekten entstehen.
Ein derart komplementäres Zusammenspiel zwischen Regie und Komposition, wie es Rasche und van Wersch realisiert haben, ist eine der typischen nichtintendierten Nebenfolgen der digitalen Revolution. Das Komponieren im Medium der Samples erlaubt es van Wersch, den kompakten Kompositionsprozess, der bislang im Schreiben einer Partitur bestand, auf drei Phasen zu entzerren: Eine Präkompositionsphase, eine Pressure-Kompositionsphase und eine Probenphase mit den Musikern. Von den drei Monaten Probenzeit, in denen 4.48 Psychose einstudiert wurde, benötigte der Komponist gerade einmal zehn Tage, um mit den Musikern auf der Bühne zu arbeiten. Und erst zu diesem Zeitpunkt, in den letzten anderthalb Probenwochen, hat er aus seiner Samplekomposition eine Partitur für die Musiker erstellt.
Die Aufführung von 4.48 Psychose wirkt deswegen so außergewöhnlich musikalisch, weil sie im Medium der Musik kreiert worden ist. Durch die Option, die es bis vor kurzem nicht gab, mit Samplekompositionen und ePlayern zu proben, gewinnen ausgebildete Komponisten einen Zugang zu den Theaterbühnen, und aus dieser Synthese von Drama und Kunstmusik wird sich in den nächsten Jahren ganz sicher auch ein eigenes Theatergenre entwickeln: ein Musiktheater, das aus dem Sprechtheater und nicht von der Oper kommt. Die Arbeit von Rasche und van Wersch ist hier ein Referenzstück, das Maßstäbe setzt. Aufgrund der viel freieren Regiekonzepte dürfte dieses Kunstmusik-Theater zu einer echten Herausforderung für die schwerfällige zeitgenössische Oper werden. Was Nietzsche einst für das antike Drama postulierte, wird in den kommenden Jahren tatsächlich zu bestaunen sein: eine Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.
Diese doppelte Zugangsbarriere zum Sprechtheater überwindet van Wersch, indem er vorab auf seinem Computer eine umfangreiche Matrix mit kurzen Samplekompositionen erstellt, die sich – noch bevor einer der Musiker involviert ist – mit ePlayern auf den Theaterproben abspielen lassen. Während der Regisseur mit den Schauspielern arbeitet, komponiert van Wersch mithilfe dieses Samplebaukastens die Musik zu den entsprechenden Einzelszenen. Er nennt diese Phase "Pressure Composing", weil hier an der Musik weiterkomponiert wird, während sie bereits auf den Proben läuft und den Schauspielern den Takt vorgibt. Anfangs wird nur ein einfacher Samplebaustein geloopt, der dann aber unter Zeitdruck Takt für Takt ergänzt, transformiert und mit innerer Komplexität angereichert wird.
Der große Vorzug dieses Kompositionsverfahrens besteht darin, dass es flexibel auf die Anforderungen der Regie reagieren kann und sich bis zuletzt neue musikalische Einfälle ausprobieren lassen. So vermag die Musik unmittelbar auf den Probenprozess einzuwirken und lässt eine Vielzahl unvorhersehbarer Feedbackloops zwischen Regisseur, Komponist und Schauspielern entstehen. Auch der Regisseur gewinnt jetzt die Freiheit, mit den provisorischen Einspielungen zu experimentieren und einzelne Szenen spezifisch auf einen bestimmten Sound hin zu inszenieren.
Dieses Echtzeitkomponieren von Kunstmusik kann nur gelingen, weil ein Großteil der Kompositionsarbeit bereits vorab geleistet wurde und in den Samplebausteinen steckt, mit denen auf den Theaterproben weiterkomponiert wird. Das in der Samplesammlung abgespeicherte musikalische Material ist auf der einen Seite viel reichhaltiger als das, was man tatsächlich als Musik in 4.48 Psychose hören kann; am Ende wurden höchstens zwanzig Prozent des präkomponierten Materials benutzt. Auf der anderen Seite handelt es sich um ein sehr spezifisches Material, das genau für diese eine konkrete Inszenierung hergestellt worden ist. Der Komponist bringt sozusagen zu jeder neuen Theaterproduktion einen neuen Samplebaukasten mit.
Wie eine solche Samplesammlung konkret beschaffen ist, wird durch stückspezifische Konzepte definiert. Für die Musik in 4.48 Psychose stand von Anfang an fest, dass der emotionale Kern des Textes aus Trauer, Hass, Wut und Verzweiflung nicht musikalisch illustriert werden soll, weshalb van Wersch in der Präkompositionsarbeit auf Melodien und erkennbare Kadenzen komplett verzichtet hat. Stattdessen werden in der Aufführung Keyboards eingesetzt, die nicht nur vorab verstimmt wurden, sondern auch noch während des Spielens verstimmt werden. Die daraus entstehenden flirrenden harmonischen Schwebungen hinterlassen beim Hören ein Gefühl der Haltlosigkeit und zielen damit nicht auf die Emotionen an sich, sondern exakt auf jenen Zustand einer alles ergreifenden existenziellen Verunsicherung, aus dem Trauer, Hass, Wut und Verzweiflung überhaupt erst entstehen.
Der Inbegriff von Kitsch ist das nachgeahmte große Gefühl; und diese Gefahr der Verkitschung potenziert sich im Theater noch einmal, wenn ein Text explizit von solchen Gefühlen spricht. Van Wersch vermeidet mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die musikalischen Pathosformeln. Zu diesen Mitteln gehören auch Cluster-Akkorde im Stil von Xenakis und Messiaen, die aufgrund ihrer inneren Komplexität mit keinem bestimmten Ausdruckswert verknüpft werden können, sowie eine Vielzahl von Polyrhythmen, die immer wieder aufs Neue überraschende Interferenzen erzeugen. Mikrotonale Schwebungen, Cluster-Akkorde und Polyrhythmen imitieren nicht die dunklen Emotionen von 4.48 Psychose, sondern erzeugen den schwankenden Grund, auf dem solche Gefühle in den Subjekten entstehen.
Ein derart komplementäres Zusammenspiel zwischen Regie und Komposition, wie es Rasche und van Wersch realisiert haben, ist eine der typischen nichtintendierten Nebenfolgen der digitalen Revolution. Das Komponieren im Medium der Samples erlaubt es van Wersch, den kompakten Kompositionsprozess, der bislang im Schreiben einer Partitur bestand, auf drei Phasen zu entzerren: Eine Präkompositionsphase, eine Pressure-Kompositionsphase und eine Probenphase mit den Musikern. Von den drei Monaten Probenzeit, in denen 4.48 Psychose einstudiert wurde, benötigte der Komponist gerade einmal zehn Tage, um mit den Musikern auf der Bühne zu arbeiten. Und erst zu diesem Zeitpunkt, in den letzten anderthalb Probenwochen, hat er aus seiner Samplekomposition eine Partitur für die Musiker erstellt.
Die Aufführung von 4.48 Psychose wirkt deswegen so außergewöhnlich musikalisch, weil sie im Medium der Musik kreiert worden ist. Durch die Option, die es bis vor kurzem nicht gab, mit Samplekompositionen und ePlayern zu proben, gewinnen ausgebildete Komponisten einen Zugang zu den Theaterbühnen, und aus dieser Synthese von Drama und Kunstmusik wird sich in den nächsten Jahren ganz sicher auch ein eigenes Theatergenre entwickeln: ein Musiktheater, das aus dem Sprechtheater und nicht von der Oper kommt. Die Arbeit von Rasche und van Wersch ist hier ein Referenzstück, das Maßstäbe setzt. Aufgrund der viel freieren Regiekonzepte dürfte dieses Kunstmusik-Theater zu einer echten Herausforderung für die schwerfällige zeitgenössische Oper werden. Was Nietzsche einst für das antike Drama postulierte, wird in den kommenden Jahren tatsächlich zu bestaunen sein: eine Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.
IV. Sinn und Dekonstruktion
Wegweisende Inszenierungen entdecken nicht nur eine neue Lesart für ein altes Stück, sondern verschieben zugleich den ganzen kulturellen Rezeptionskontext bzw. vollziehen diese Kontextverschiebung exemplarisch an sich selbst. Genau das passiert im Verlauf dieses Abends, der en passant eine fundamentale kulturelle Erwartung infrage stellt, nämlich unsere Vorstellung von dem, was man "Sinn" nennt. 4.48 Psychose ist an und für sich ein Text, der Sinnfragen stellt, denn das Abgleiten in die Lebenstaubheit ist nichts anderes als eine Erfahrung des totalen Sinnverlustes. "Keine Droge auf Erden könnte dem Leben irgendeinen Sinn geben", "nichts füllt die Leere in meinem Herzen", sagt ein Teil des gespaltenen Bühnen-Ichs.
Solche Sätze fielen bislang in ein postmodernes Kulturparadigma, das zum einen von der tiefen Überzeugung geprägt ist, dass sich der Sinn eines jeden Satzes dekonstruieren lässt, zum anderen aber auch von dem Motiv getragen wird, dass die Dekonstruktion selbst einen Sinn hat – weil sie im Dienst einer Idee von Gerechtigkeit steht. Man geht von der Prämisse aus, dass sich in allen kulturellen Formen tradierte Machtverhältnisse kristallisieren, die Ungleichheit legitimieren und fortschreiben. Der dekonstruktive Akt kann dann als revolutionäres Handeln verstanden werden, das auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts steht.
Solche Sätze fielen bislang in ein postmodernes Kulturparadigma, das zum einen von der tiefen Überzeugung geprägt ist, dass sich der Sinn eines jeden Satzes dekonstruieren lässt, zum anderen aber auch von dem Motiv getragen wird, dass die Dekonstruktion selbst einen Sinn hat – weil sie im Dienst einer Idee von Gerechtigkeit steht. Man geht von der Prämisse aus, dass sich in allen kulturellen Formen tradierte Machtverhältnisse kristallisieren, die Ungleichheit legitimieren und fortschreiben. Der dekonstruktive Akt kann dann als revolutionäres Handeln verstanden werden, das auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts steht.
Als Kanes Stück unter diesem postmodernen Erwartungshorizont aufgeführt wurde, gewann es wie von selbst eine politische Dimension, denn der Sinnverlust des psychotischen Subjekts, das sich in zersplitterten Textfragmenten äußert, wirkte wie eine Anklage an das Psychiatriesystem und an die Disziplinargesellschaft, welche die Subjekte erst in die Verzweiflung und dann in den Suizid treiben. Die Patienten-Therapeuten-Relation, die im Klinikkontext beschrieben wird, verwandelt sich in eine Opfer-Täter-Beziehung; das Publikum fühlt sich persönlich nicht betroffen, aber solidarisiert sich mit dem Menschen, der von der Gesellschaft zerschlissen wird.
Mit dieser Interpretationsgeschichte bricht Rasches Inszenierung: Die rhythmisierte Sprache, die musikalische Gliederung der Zeit, die Figurenaufteilung, das abstrakte Bühnenbild und die sternenklare Prägnanz jedes einzelnen ausgesprochenen Wortes lassen die versprengten Sinnfragmente des Stücks wie in einem Kaleidoskop zusammenschießen und setzen das Prinzip der Dekonstruktion, das dem postdramatischen Text bislang wie eine Gesetzestafel eingeschrieben war, ästhetisch außer Kraft. Plötzlich wirkt Kanes Text nicht mehr wie eine Allegorie des Sinnzerfalls, und plötzlich verändert sich auch der Blick auf die Sinnlosigkeitserfahrung, die das depressive Subjekt aus dem Leben treibt.
Kanes Text ist kein nihilistischer Text, der das Dasein für sinnlos erklärt. Die letzten Brücken zur Menschheit werden nicht abgebrochen, sondern hier versucht jemand am Ende des schwarzen Tunnels, "ein Zeichen zu hinterlassen das mich selbst überdauert". Das Subjekt sucht und findet noch einen ultimativen Sinn im eigenen Verschwinden. „Für die Toten schreib ich die Ungeborenen“, sagt das Alter Ego der Autorin. Es ist diese Sinnschicht, die in Rasches Inszenierung an die Oberfläche treibt.
Als Derrida 1967 seine Grammatologie publizierte, schuf er damit eine Weltbildgrammatik, welche die Sinnverarbeitung westlicher Kulturen für Jahrzehnte prägen sollte. Erfunden wurde ein universeller Emanzipationsalgorithmus, der immer und jederzeit gegen die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Stellung gebracht werden konnte und der Parole folgte: Jede tradierte Form lässt sich delegitimieren, weil man sie dekonstruieren kann.
Ein halbes Jahrhundert später haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert, es gibt keine tradierten Kulturformen mehr, die unverbrüchlich gelten, und die Subjekte stehen heute eher vor der Daueraufgabe, ihrem Leben eine Form zu geben. "Ich hasse diesen Scheißjob, ich brauch meine Freunde, um bei Verstand zu bleiben", sagt der Arzt zu seiner depressiven Patientin. Die Inszenierung bringt Kanes Text in einer hellhörigen Weise zum Sprechen, indem sie ein Vexierbild von psychisch Kranken und psychisch Gesunden erzeugt und zeigt, dass die Desintegration des Ichs zum menschlichen Dasein dazugehört. Und das ist nicht nur ein Spiel mit Kanes Text, sondern eine Aussage über die Verfasstheit der Welt. Das heißt aber, dass sich in dieser Aufführung von 4.48 Psychose die Weltbildgrammatik der Dekonstruktion nicht länger manifestiert, sondern invertiert und aufgehoben wird.
Ulrich Rasches Inszenierung gehört zu jenen seltenen und großartigen Theaterereignissen, die aus dem glücklichen Zusammentreffen von vielen Unwahrscheinlichkeiten entstehen. Hierzu gehört auch die scharfsinnige Übersetzung von Durs Grünbein, die jene existenzielle Sinnschicht zur Sprache bringt, welche bei Rasche zum Kristallisationskern der ganzen Inszenierung wird. Vor allem aber verdankt sich Nico van Werschs irisierende Bühnenmusik einem glücklichen Zufall, weil sie sowohl technisch als auch kompositorisch erst heute an einem Stadttheater realisierbar ist. Die Komposition spielt sich nicht in den Vordergrund, variiert dafür aber das Sprechtempo und lässt die Sätze in den rhythmischen Mustern der Instrumente vibrieren, sie baut einen Spannungsbogen in den einzelnen Szenen auf und verführt Schauspieler dazu, sich in tranceartige Zustände hineinzusteigern. So etwas lässt sich nur mit den elaborierten Mitteln der Kunstmusik realisieren, für die sich nun in einer digitalen Musikkultur die Türen des Sprechtheaters öffnen. Es gibt sicherlich ähnliche Projekte, wo ein Theater mit zeitgenössischen Komponisten zusammenarbeitet, aber es braucht eine derart exemplarische Referenzinszenierung, wie sie am Deutschen Theater von Rasche und van Wersch geschaffen wurde, damit solche Innovationsspielräume in der Theaterszene auch bemerkt und von anderen ausgetestet werden – womit in einem Stadttheaterbetrieb, der dringend neue Ideen braucht, auch zu rechnen ist.
Schließlich besitzt die Inszenierung noch eine subkutane weltanschauliche Schicht, derentwegen Rasches Theater vermutlich nicht immer auf Resonanz stößt und das Publikum und die Kritiker spaltet – was in der Kunst ja ein Qualitätsmerkmal ist. Die politische Krise, in der sich die liberalen Demokratien derzeit befinden, lässt sich deswegen so schwer auflösen, weil sie aufs engste mit einer fundamentalen Weltanschauungskrise verknüpft ist. Das politische Realignment, das sich vollzieht, lässt sich in der Grammatik der postmodernen Philosophie, welche die intellektuelle und ästhetische Kultur in den letzten Jahrzehnten geprägt hat, weder adäquat wahrnehmen noch angemessen beschreiben. Rasches Theater integriert einen postdramatischen Text, Kunstmusik, ein minimalistisches Bühnenbild und eine hyperexpressive Sprache zu einem Sinnzusammenhang und schafft damit die denkbar größte Gegenwelt zum postmodernen kontingenten Spiel mit Inhalten und Formen. Es sind solche imaginären Gegenwelten, in denen sich neue Selbstbeschreibungen der Gesellschaft ausbilden können, was für liberale Demokratien in Umbruchzeiten überlebensnotwendig ist.
Und schließlich gibt es von dieser Inszenierung eine phantastische Videoaufzeichnung von großer akustischer Prägnanz, wo man durch die Nahaufnahmen dieses ekstatischen Theaters vielleicht anders, aber nicht weniger ergriffen wird als von der Live-Aufführung. So, wie es fotogene Gesichter gibt, gibt es auch "virtugene" Theaterinszenierungen, und die Kane-Inszenierung von Rasche besitzt zweifellos diese Qualität. Auch das ist eine unintendierte Nebenfolge der digitalen Revolution: dass außergewöhnliche Inszenierungen ein Nachleben haben werden. Und vielleicht gehört dieser Abend zu den ersten, die in einigen Jahren mehr Menschen am Bildschirm als im Zuschauerraum erlebt haben werden.
Der Beitrag wurde ursprünglich publiziert in: Neue Zeitschrift für Musik 4/2021, S. 48-51.
Mit dieser Interpretationsgeschichte bricht Rasches Inszenierung: Die rhythmisierte Sprache, die musikalische Gliederung der Zeit, die Figurenaufteilung, das abstrakte Bühnenbild und die sternenklare Prägnanz jedes einzelnen ausgesprochenen Wortes lassen die versprengten Sinnfragmente des Stücks wie in einem Kaleidoskop zusammenschießen und setzen das Prinzip der Dekonstruktion, das dem postdramatischen Text bislang wie eine Gesetzestafel eingeschrieben war, ästhetisch außer Kraft. Plötzlich wirkt Kanes Text nicht mehr wie eine Allegorie des Sinnzerfalls, und plötzlich verändert sich auch der Blick auf die Sinnlosigkeitserfahrung, die das depressive Subjekt aus dem Leben treibt.
Kanes Text ist kein nihilistischer Text, der das Dasein für sinnlos erklärt. Die letzten Brücken zur Menschheit werden nicht abgebrochen, sondern hier versucht jemand am Ende des schwarzen Tunnels, "ein Zeichen zu hinterlassen das mich selbst überdauert". Das Subjekt sucht und findet noch einen ultimativen Sinn im eigenen Verschwinden. „Für die Toten schreib ich die Ungeborenen“, sagt das Alter Ego der Autorin. Es ist diese Sinnschicht, die in Rasches Inszenierung an die Oberfläche treibt.
Als Derrida 1967 seine Grammatologie publizierte, schuf er damit eine Weltbildgrammatik, welche die Sinnverarbeitung westlicher Kulturen für Jahrzehnte prägen sollte. Erfunden wurde ein universeller Emanzipationsalgorithmus, der immer und jederzeit gegen die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Stellung gebracht werden konnte und der Parole folgte: Jede tradierte Form lässt sich delegitimieren, weil man sie dekonstruieren kann.
Ein halbes Jahrhundert später haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert, es gibt keine tradierten Kulturformen mehr, die unverbrüchlich gelten, und die Subjekte stehen heute eher vor der Daueraufgabe, ihrem Leben eine Form zu geben. "Ich hasse diesen Scheißjob, ich brauch meine Freunde, um bei Verstand zu bleiben", sagt der Arzt zu seiner depressiven Patientin. Die Inszenierung bringt Kanes Text in einer hellhörigen Weise zum Sprechen, indem sie ein Vexierbild von psychisch Kranken und psychisch Gesunden erzeugt und zeigt, dass die Desintegration des Ichs zum menschlichen Dasein dazugehört. Und das ist nicht nur ein Spiel mit Kanes Text, sondern eine Aussage über die Verfasstheit der Welt. Das heißt aber, dass sich in dieser Aufführung von 4.48 Psychose die Weltbildgrammatik der Dekonstruktion nicht länger manifestiert, sondern invertiert und aufgehoben wird.
Ulrich Rasches Inszenierung gehört zu jenen seltenen und großartigen Theaterereignissen, die aus dem glücklichen Zusammentreffen von vielen Unwahrscheinlichkeiten entstehen. Hierzu gehört auch die scharfsinnige Übersetzung von Durs Grünbein, die jene existenzielle Sinnschicht zur Sprache bringt, welche bei Rasche zum Kristallisationskern der ganzen Inszenierung wird. Vor allem aber verdankt sich Nico van Werschs irisierende Bühnenmusik einem glücklichen Zufall, weil sie sowohl technisch als auch kompositorisch erst heute an einem Stadttheater realisierbar ist. Die Komposition spielt sich nicht in den Vordergrund, variiert dafür aber das Sprechtempo und lässt die Sätze in den rhythmischen Mustern der Instrumente vibrieren, sie baut einen Spannungsbogen in den einzelnen Szenen auf und verführt Schauspieler dazu, sich in tranceartige Zustände hineinzusteigern. So etwas lässt sich nur mit den elaborierten Mitteln der Kunstmusik realisieren, für die sich nun in einer digitalen Musikkultur die Türen des Sprechtheaters öffnen. Es gibt sicherlich ähnliche Projekte, wo ein Theater mit zeitgenössischen Komponisten zusammenarbeitet, aber es braucht eine derart exemplarische Referenzinszenierung, wie sie am Deutschen Theater von Rasche und van Wersch geschaffen wurde, damit solche Innovationsspielräume in der Theaterszene auch bemerkt und von anderen ausgetestet werden – womit in einem Stadttheaterbetrieb, der dringend neue Ideen braucht, auch zu rechnen ist.
Schließlich besitzt die Inszenierung noch eine subkutane weltanschauliche Schicht, derentwegen Rasches Theater vermutlich nicht immer auf Resonanz stößt und das Publikum und die Kritiker spaltet – was in der Kunst ja ein Qualitätsmerkmal ist. Die politische Krise, in der sich die liberalen Demokratien derzeit befinden, lässt sich deswegen so schwer auflösen, weil sie aufs engste mit einer fundamentalen Weltanschauungskrise verknüpft ist. Das politische Realignment, das sich vollzieht, lässt sich in der Grammatik der postmodernen Philosophie, welche die intellektuelle und ästhetische Kultur in den letzten Jahrzehnten geprägt hat, weder adäquat wahrnehmen noch angemessen beschreiben. Rasches Theater integriert einen postdramatischen Text, Kunstmusik, ein minimalistisches Bühnenbild und eine hyperexpressive Sprache zu einem Sinnzusammenhang und schafft damit die denkbar größte Gegenwelt zum postmodernen kontingenten Spiel mit Inhalten und Formen. Es sind solche imaginären Gegenwelten, in denen sich neue Selbstbeschreibungen der Gesellschaft ausbilden können, was für liberale Demokratien in Umbruchzeiten überlebensnotwendig ist.
Und schließlich gibt es von dieser Inszenierung eine phantastische Videoaufzeichnung von großer akustischer Prägnanz, wo man durch die Nahaufnahmen dieses ekstatischen Theaters vielleicht anders, aber nicht weniger ergriffen wird als von der Live-Aufführung. So, wie es fotogene Gesichter gibt, gibt es auch "virtugene" Theaterinszenierungen, und die Kane-Inszenierung von Rasche besitzt zweifellos diese Qualität. Auch das ist eine unintendierte Nebenfolge der digitalen Revolution: dass außergewöhnliche Inszenierungen ein Nachleben haben werden. Und vielleicht gehört dieser Abend zu den ersten, die in einigen Jahren mehr Menschen am Bildschirm als im Zuschauerraum erlebt haben werden.
Der Beitrag wurde ursprünglich publiziert in: Neue Zeitschrift für Musik 4/2021, S. 48-51.
Harry Lehmann studierte Physik, promovierte 2003 an der Universität Potsdam in Philosophie und ist Autor der Bücher Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (2012) und Gehaltsästhetik. Ein Kunstphilosophie (2016).