

Caligula
Trailer
Begegnung auf dem Bühnenboden
Text: Manuel Harder
Caligula von Albert Camus ist die vierte Zusammenarbeit des Deutschen Theaters mit dem inklusiven RambaZamba Theater in der Regie von Lilja Rupprecht. DT-Ensemblemitglied Manuel Harder über die Proben mit den Kolleg:innen vom Prenzlauer Berg.

Erste Leseprobe "Caligula" © Julia Beier
Ich liege am Boden. Es geht mir nicht so besonders. Weil Pause ist, habe ich mich da hingelegt, wo ich eben noch stand. Ich höre die Schritte der anderen. Und dann – tripp trapp tripp trapp! – setzt sich Antigone zu mir, öffnet ihre Brotdose, fängt an zu essen. Und dann – tripp trapp tripp trapp! – kommt Ismene dazu, kuschelt sich an ihre Schwester. Und dann – tripp trapp tripp trapp! – setzt sich auch der Bote zu unserer stummen Gruppe. Wortlos nimmt er meinen kleinen Finger, wiegt ihn hin und her, bewegt ihn, spielt mit ihm. Von außen geben wir womöglich ein seltsames Bild ab, ein merkwürdiges Stillleben am Boden. Etwas Wohltuenderes hätte ich mir in dem Moment nicht wünschen können. Ich wäre auch gar nicht erst auf die Idee gekommen. Diese Szene aus den Proben zu Antigone habe ich immer wieder erzählt, wenn ich gefragt wurde, wie denn die Arbeit "so war" mit dem RambaZamba. "Mit den Kolleginnen und Kollegen", betonte ich dann meistens. Obwohl mir diese Betonung gleich wieder peinlich war, weil selbstverständlich. Oder eben doch nicht. Überhaupt nicht selbstverständlich war diese besondere Form der Aufmerksamkeit. Der liebevollen, humorvollen, phantasiereichen Anwesenheit. Dadurch entstand das Gefühl von etwas sehr Wichtigem, das da stattfindet, unverstellt da ist, ohne viel Aufhebens. Selbstverständlich halt!
BEIM PROBEN IM STADTTHEATER VERLIERT MAN MANCHMAL DIE TATSÄCHLICHEN BEGEGNUNGEN AUS DEM BLICK
Jeder weiß mehr oder weniger, was der Spielprozess für Begegnungen ermöglicht. Beim Proben im Stadttheater verliert man manchmal diese tatsächlichen Begegnungen aus dem Blick: Timings und Texte müssen stimmen, Szenen hergestellt und verabredet werden, und nicht selten stehen einem Fremd- und Selbstbilder, Egoismen und Eitelkeiten sowohl zur Verfügung als auch im Weg. Dies alles schien in unseren gemeinsamen Proben – nein, nicht weg, nicht verschwunden – aber verändert, anders gewichtet zu sein. Die Begegnung wurde wichtiger als das Erfüllen, das Abwarten reicher als der Ablauf, das Wahrnehmen bewusster als das Abliefern, das Ringen und Versuchen beredter als das Ziel, das Herausfordern liebevoller, direkter, stärker, wacher als die Verabredung. Und zwar ohne, dass es Konzept war. Selbstverständlich eben. Das eigene Spiel wurde anders als gewohnt beantwortet. Und zu anderen eigenen Antworten gebracht. Antigone ist eine meiner wertvollsten und schönsten Arbeitserfahrungen. Damals, 2019, war das Deutsche Theater als Kooperationspartner eingesprungen. Lilja Rupprecht hatte bereits am RambaZamba inszeniert, auch früher hatte es schon Berührungspunkte der Theater gegeben. Für mich war es die erste Zusammenarbeit. Zora Schemm spielte Antigone, Juliana Götze Ismene, Jonas Sippel den Boten. Weitere Spielende vom RambaZamba waren Hieu Pham als Botin und Aaron Smith als Haimon. Vom Deutschen Theater waren Lisa Hrdina und ich als Teiresias und Kreon dabei, dazu ein Bürger:innen-Chor, den ich hier in diesem Zusammenhang mal namenlos halte (man möge mir verzeihen). Eine Kollegin der Garderobe blickte dem Treiben auf den Gängen zu. Ich erinnere sinngemäß, was sie mir sagte: "Weißt du, Manuel, ich wünschte, wir hätten diese Kraft häufiger im Haus!" Es gab Diskussionen, ob wir diese Produktion nicht länger am Haus halten könnten. Doch zum einen war sie, wie erwähnt, ursprünglich nicht vorgesehen. Zum anderen tauchte der Gedanke auf, ob das Deutsche Theater nicht mehr vom RambaZamba Theater profitierte als umgekehrt. Ein Gedanke, den ich, wenn auch bedauerlich, durchaus relevant fand. Ich bin kein Experte, aber sicherlich muss der Inklusionsgedanke immer wieder aufs Neue weitergedacht, umgesetzt und erlebt werden. Wieviel Eigenständigkeit ist nötig, wieviel Gemeinsamkeit? Wieviel Schutzraum und wieviel Risiko? Wieviel Förderung und wieviel Forderung? Und nicht zuletzt: welche Produktion – und was ist das Produkt? In weiteren Inszenierungen von Lilja Rupprecht gab es für mich Wiederbegegnungen mit Juliana und Jonas, in Ode von Thomas Melle und Der Steppenwolf nach Hermann Hesse. Eine kleine Arbeit konnte ich mit Jonas für eine "Frei-Boxen"-Veranstaltung machen. Nicht selten entstanden bei diesen Arbeiten auch Probleme in den Abläufen der auf Planung, Timing und Leistung getrimmten Maschine Theater. Probleme, die für mich keine sind, solange die Maschine in der Lage ist, sich auch selbst zu unterbrechen und zu bemerken, dass ihre Abläufe kein Selbstzweck sind. Problematisch wird es nur, wenn die Abläufe dem anderen "Funktionieren" keinen Raum geben, seine Poesie – ja, jetzt nehme ich doch mal dieses große Wort! – nicht zulassen. Erstickt werden kann diese jedoch nie. Sie setzt sich immer durch, wird immer sichtbar, spürbar. Das ist eine Stärke.
HÄUFIG FALLEN BEGRIFFE WIE ÜBERFORDERUNG, AUSGESTELLTWERDEN ODER GAR AUSNUTZEN
Bisweilen gibt es nach diesen Vorstellungen Diskussionen mit Zuschauer:innen über die Sinnhaftigkeit und manchmal auch Rechtmäßigkeit der RambaZamba-Besetzungen. Häufig fallen dabei Begriffe wie Überforderung, Ausgestelltwerden oder gar Ausnutzen. Ich empfinde bei diesen Diskussionen – je nach Tonlage – Scham, Demut, berechtigte Fragen oder Wut. Scham aufgrund der Unverschämtheit äußerer Leistungskriterien und Unterstellungen. Demut hinsichtlich der Frage, was Befähigung bedeutet. Fragen nicht zuletzt darüber, welche Diskriminierungen in der sogenannten Fürsorge stecken. Und Wut über Ausgrenzungen, ob bewusst oder unbewusst, offen geäußert oder hinter Bedenken getarnt. Generell, wenn das freie Spiel verhindert werden soll. Zum Glück erleben es die meisten anders. Neulich sah ein Freund aus Island eine Steppenwolf-Vorstellung. Ein Musiker. Ein sehr angenehmer Gesprächspartner und abseitiger Beobachter. Lange hatte er kein Theater gesehen. Das Kunst-Fertige hinterließ bei ihm immer ein Gefühl der Leere. Die Zeit würde ihm dann eng und zäh. Er war fasziniert von Julianas und Jonas’ Gesang, Sprechen und Spiel – in dem erlebten Gesamtrahmen der Inszenierung. Nicht aus Sentimentalität, sondern der besonderen Musikalität wegen. Der Zeit wegen, die ihm dadurch spürbarer und weiter würde im Erleben. Der kleinen, besonderen Momente anderen Zuhörens wegen. Spielende Menschen. Es ist immer auch eine eigene Entscheidung, ob man den Raum eng oder weit werden lassen will. Als Spielende:r wie als Zuschauende:r. Ich glaube, die meisten entscheiden sich lieber für die Weite.
WIE ICH HÖRE, SOLL DIESE BESONDERE BEZIEHUNG BEIDER HÄUSER SOGAR AUSGEBAUT WERDEN
Und darum freue ich mich, ganz persönlich, dass es weitergeht. Auch in der anstehenden Produktion von Camus’ Caligula werden wieder RambaZamba-Kolleg:innen gastieren und wie ich höre, soll diese besondere Beziehung beider Häuser fortbestehen und eventuell sogar ausgebaut werden. Was mich sehr freut. Wenn es eben zu tatsächlichen Begegnungen kommt, nicht nur auf dem Bühnenboden. Seit unserer ersten Begegnung will Jonas mich inszenieren – er Regisseur, ich Spieler. Die Odyssee will er machen. Schon lange träumen und spinnen wir dazu. Vor, während und nach den Lockdowns. Mögliches und Unmögliches. Irgendwann passiert es einfach. Wir werden es sehen.
Dieser Text ist ein Originalbeitrag für unser Dezember-Magazin
BEIM PROBEN IM STADTTHEATER VERLIERT MAN MANCHMAL DIE TATSÄCHLICHEN BEGEGNUNGEN AUS DEM BLICK
Jeder weiß mehr oder weniger, was der Spielprozess für Begegnungen ermöglicht. Beim Proben im Stadttheater verliert man manchmal diese tatsächlichen Begegnungen aus dem Blick: Timings und Texte müssen stimmen, Szenen hergestellt und verabredet werden, und nicht selten stehen einem Fremd- und Selbstbilder, Egoismen und Eitelkeiten sowohl zur Verfügung als auch im Weg. Dies alles schien in unseren gemeinsamen Proben – nein, nicht weg, nicht verschwunden – aber verändert, anders gewichtet zu sein. Die Begegnung wurde wichtiger als das Erfüllen, das Abwarten reicher als der Ablauf, das Wahrnehmen bewusster als das Abliefern, das Ringen und Versuchen beredter als das Ziel, das Herausfordern liebevoller, direkter, stärker, wacher als die Verabredung. Und zwar ohne, dass es Konzept war. Selbstverständlich eben. Das eigene Spiel wurde anders als gewohnt beantwortet. Und zu anderen eigenen Antworten gebracht. Antigone ist eine meiner wertvollsten und schönsten Arbeitserfahrungen. Damals, 2019, war das Deutsche Theater als Kooperationspartner eingesprungen. Lilja Rupprecht hatte bereits am RambaZamba inszeniert, auch früher hatte es schon Berührungspunkte der Theater gegeben. Für mich war es die erste Zusammenarbeit. Zora Schemm spielte Antigone, Juliana Götze Ismene, Jonas Sippel den Boten. Weitere Spielende vom RambaZamba waren Hieu Pham als Botin und Aaron Smith als Haimon. Vom Deutschen Theater waren Lisa Hrdina und ich als Teiresias und Kreon dabei, dazu ein Bürger:innen-Chor, den ich hier in diesem Zusammenhang mal namenlos halte (man möge mir verzeihen). Eine Kollegin der Garderobe blickte dem Treiben auf den Gängen zu. Ich erinnere sinngemäß, was sie mir sagte: "Weißt du, Manuel, ich wünschte, wir hätten diese Kraft häufiger im Haus!" Es gab Diskussionen, ob wir diese Produktion nicht länger am Haus halten könnten. Doch zum einen war sie, wie erwähnt, ursprünglich nicht vorgesehen. Zum anderen tauchte der Gedanke auf, ob das Deutsche Theater nicht mehr vom RambaZamba Theater profitierte als umgekehrt. Ein Gedanke, den ich, wenn auch bedauerlich, durchaus relevant fand. Ich bin kein Experte, aber sicherlich muss der Inklusionsgedanke immer wieder aufs Neue weitergedacht, umgesetzt und erlebt werden. Wieviel Eigenständigkeit ist nötig, wieviel Gemeinsamkeit? Wieviel Schutzraum und wieviel Risiko? Wieviel Förderung und wieviel Forderung? Und nicht zuletzt: welche Produktion – und was ist das Produkt? In weiteren Inszenierungen von Lilja Rupprecht gab es für mich Wiederbegegnungen mit Juliana und Jonas, in Ode von Thomas Melle und Der Steppenwolf nach Hermann Hesse. Eine kleine Arbeit konnte ich mit Jonas für eine "Frei-Boxen"-Veranstaltung machen. Nicht selten entstanden bei diesen Arbeiten auch Probleme in den Abläufen der auf Planung, Timing und Leistung getrimmten Maschine Theater. Probleme, die für mich keine sind, solange die Maschine in der Lage ist, sich auch selbst zu unterbrechen und zu bemerken, dass ihre Abläufe kein Selbstzweck sind. Problematisch wird es nur, wenn die Abläufe dem anderen "Funktionieren" keinen Raum geben, seine Poesie – ja, jetzt nehme ich doch mal dieses große Wort! – nicht zulassen. Erstickt werden kann diese jedoch nie. Sie setzt sich immer durch, wird immer sichtbar, spürbar. Das ist eine Stärke.
HÄUFIG FALLEN BEGRIFFE WIE ÜBERFORDERUNG, AUSGESTELLTWERDEN ODER GAR AUSNUTZEN
Bisweilen gibt es nach diesen Vorstellungen Diskussionen mit Zuschauer:innen über die Sinnhaftigkeit und manchmal auch Rechtmäßigkeit der RambaZamba-Besetzungen. Häufig fallen dabei Begriffe wie Überforderung, Ausgestelltwerden oder gar Ausnutzen. Ich empfinde bei diesen Diskussionen – je nach Tonlage – Scham, Demut, berechtigte Fragen oder Wut. Scham aufgrund der Unverschämtheit äußerer Leistungskriterien und Unterstellungen. Demut hinsichtlich der Frage, was Befähigung bedeutet. Fragen nicht zuletzt darüber, welche Diskriminierungen in der sogenannten Fürsorge stecken. Und Wut über Ausgrenzungen, ob bewusst oder unbewusst, offen geäußert oder hinter Bedenken getarnt. Generell, wenn das freie Spiel verhindert werden soll. Zum Glück erleben es die meisten anders. Neulich sah ein Freund aus Island eine Steppenwolf-Vorstellung. Ein Musiker. Ein sehr angenehmer Gesprächspartner und abseitiger Beobachter. Lange hatte er kein Theater gesehen. Das Kunst-Fertige hinterließ bei ihm immer ein Gefühl der Leere. Die Zeit würde ihm dann eng und zäh. Er war fasziniert von Julianas und Jonas’ Gesang, Sprechen und Spiel – in dem erlebten Gesamtrahmen der Inszenierung. Nicht aus Sentimentalität, sondern der besonderen Musikalität wegen. Der Zeit wegen, die ihm dadurch spürbarer und weiter würde im Erleben. Der kleinen, besonderen Momente anderen Zuhörens wegen. Spielende Menschen. Es ist immer auch eine eigene Entscheidung, ob man den Raum eng oder weit werden lassen will. Als Spielende:r wie als Zuschauende:r. Ich glaube, die meisten entscheiden sich lieber für die Weite.
WIE ICH HÖRE, SOLL DIESE BESONDERE BEZIEHUNG BEIDER HÄUSER SOGAR AUSGEBAUT WERDEN
Und darum freue ich mich, ganz persönlich, dass es weitergeht. Auch in der anstehenden Produktion von Camus’ Caligula werden wieder RambaZamba-Kolleg:innen gastieren und wie ich höre, soll diese besondere Beziehung beider Häuser fortbestehen und eventuell sogar ausgebaut werden. Was mich sehr freut. Wenn es eben zu tatsächlichen Begegnungen kommt, nicht nur auf dem Bühnenboden. Seit unserer ersten Begegnung will Jonas mich inszenieren – er Regisseur, ich Spieler. Die Odyssee will er machen. Schon lange träumen und spinnen wir dazu. Vor, während und nach den Lockdowns. Mögliches und Unmögliches. Irgendwann passiert es einfach. Wir werden es sehen.
Dieser Text ist ein Originalbeitrag für unser Dezember-Magazin