

Der Einzige und sein Eigentum
Trailer
"Fort mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die 'gute Sache' sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache „des Menschen“. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichts über mich!"
Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum
Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum

"Den Lack vom Ich herunterkratzen"
Regisseur Sebastian Hartmann im Gespräch

© Arno Declair
An einem schwülen Sonnabendvormittag kommt Regisseur Sebastian Hartmann ins Dramaturgiebüro. Zwei Wochen sind es noch bis zur Premiere von Der Einzige und sein Eigentum. Normalerweise ist das die Phase, in der die Proben spürbar anziehen und Hartmann zusammen mit dem Ensemble die stets lange andauernden Probebühnentischgespräche auf der Bühne szenisch fruchtbar macht. Doch dieses Mal haben die Schauspieler:innen bereits monatelang geprobt und geübt, denn Der Einzige und sein Eigentum ist, überraschend für Sebastian Hartmann, ein Stück Musiktheater. Wie es dazu gekommen ist und was er mit dem Abend vorhat, erzählt er im Gespräch.
In vielen der Arbeiten, die ich in den letzten Jahren von dir gesehen oder hier begleitet habe, hast du große Stoffe für die Bühne adaptiert, ob das Hunger. Peer Gynt war von Hamsun/Ibsen oder Der Zauberberg von Thomas Mann, beide am Deutschen Theater, Pessoas Buch der Unruhe und Schuld und Sühne am Staatsschauspiel Dresden oder zuletzt Dostojewskis Idiot, auch am DT. Du hast diese Stoffe immer so erzählt, dass Kategorien wie Figuren, Story oder Konflikt keine Rolle spielten. Warum interessiert dich diese herkömmliche Art einer Bühnenerzählung nicht?
Ich betrachte Theater mit all seinen Möglichkeiten als eigenständige Kunst, die nicht im Nacherzählen von Handlungssträngen aufgeht. Mich interessieren auf der Bühne andere Erzählweisen, die viel mit Bildender Kunst, Musik und dem Performativen zu tun haben. Deswegen würde ich auch nicht sagen, dass ich auf etwas verzichte. Im Gegenteil, mir geht es um eine Erweiterung der Möglichkeiten, wie sich auf dem Theater erzählen lässt. Du hast meine Beschäftigung mit Dostojewski angesprochen. Wenn ich, als Beispiel, einen seiner Romane inszeniere, suche ich immer nach dem inneren Kern der Geschichte. Dass sich dieser Kern über eine bürgerliche, psychologische Lesart entdecken lässt, daran glaube ich nicht. Stattdessen strebe ich auf dem Weg dahin einen Destillationsprozess des textlichen Reichtums an, auch eine Genauigkeit im Hinsehen, in der Hoffnung, dass sich das Theater dann anders in Richtung Publikum überträgt. Wenn ich mir etwa Filme von Pasolini oder Tarkovskij ansehe, beide haben große Bedeutung für mich, trete ich als Zuschauer auch nicht unmittelbar in eine Handlung ein, sondern immer in einen epischen Moment, der mich nicht in eine Hollywood-Dramaturgie verwickelt, sondern als Betrachter eigenständig werden lässt. Das erlebe ich als eine Art produktiver Langeweile, falls man bereit ist, Langeweile einmal anders zu lesen, nämlich als langes Verweilen in einer Geschichte. Das interessiert mich im Theater, und da ich ja weiß, dass viele meiner Kolleg:innen ganz anders erzählen, wenn sie dem Publikum die Möglichkeit geben, dicht an einer Geschichte dran zu sein – wogegen ich gar nichts habe, im Gegenteil –, fühle ich mich frei darin, andere Wege einzuschlagen. Für mich ist die Suche im Theater einfach eine andere.
Bei der Suche nach einem Stoff für diese Produktion hatten wir vorgeschlagen, dieses Mal nach einem eher thetischen, nicht-erzählerischen Text zu suchen. In dem Zusammenhang fiel, als möglicher Diskussionseinstieg, auch der Titel von Max Stirners Buch Der Einzige und sein Eigentum. Zunächst hast du ziemlich abwehrend darauf reagiert. Dann verging etwas Zeit, wir sprachen wieder miteinander und du sagtest, durchaus zu meiner Überraschung, du würdest den Text inszenieren wollen. Woher der Sinneswandel?
Naja, zunächst war ich mit deiner Anmoderation nicht einverstanden: Der Sebi will ja sowieso keine Geschichten erzählen, also geben wir ihm gleich einen Text, der gar keine Geschichte hat. Der Einzige und sein Eigentum war mir zwar schon begegnet, hauptsächlich durch die Kritik von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie und im Zusammenhang meiner Nietzsche-Lektüren, aber das war alles lange her. Eigentlich wollte ich da nicht ran. Dann aber habe ich gemerkt, dass in diesem theoretischen Text, so wie ich ihn gelesen habe, doch eine Geschichte versteckt sein könnte, und mich hat interessiert, wie sich das erzählen ließe.
Dir Der Einzige und sein Eigentum vorzuschlagen, hatte auch den Hintergrund, dass sein Denken um ein Ich kreist, das er freizulegen versucht. Und meine Überlegung war, dass du daran eventuell anknüpfen könntest. Der Reichtum eines Ich, das quer zur Welt steht, ist ja ein Thema, das sich durch deine letzten Arbeiten zieht…
… da muss ich etwas ausholen. Es gibt immer wieder Intendant:innen, die sich Stücke von mir wünschen. Dann heißt es, du mit deiner Phantasie, von dir würde ich gern mal das und das mal sehen. Meistens reagiere ich darauf sehr skeptisch. Vor zwei Jahren hatten wir ja hier Thomas Manns Zauberberg, das war damals euer Vorschlag. Ich sagte, ich hätte den Text in Leipzig schon mal inszeniert und sei damals in eine Falle getappt. Denn ich hatte diesen Roman seinerzeit sehr brav und ordentlich erzählt, vielleicht auch gar nicht schlecht im Sinne einer Literaturverwaltung auf der Bühne. Aber gegen Ende der Arbeit merkte ich, dass wir, um den Roman adäquat greifen zu können und nicht nur aufgesagte Literatur auf der Bühne zu haben, mit der theatralen Umsetzung woanders hätten landen müssen. Daher kam auch meine anfängliche Abwehr des Textes von Max Stirner. Die inhaltlichen Korrespondenzen, von denen du gesprochen hast, über die hätte man diskutieren können. Aber zunächst hatte ich Angst vor diesem auf den ersten Blick doch sehr trocken daherkommenden, theoretischen Text und vor allem Angst vor dessen Wiedergabe im Theater. Denn ich kann keine Schauspieler:innen auf die Bühne stellen, sie wichtig aussehen und einen philosophischen Text aufsagen lassen, Standbein/Spielbein, um zum nächsten wichtigen Text überzuleiten. Als ich Der Einzige und sein Eigentum dann ein zweites und ein drittes Mal gelesen habe, wurde mir dessen unglaubliche Kraft bewusst, eine im besten Sinn wahnsinnige Wut und Jugendlichkeit, mit der er seine Thesen in den Raum stellt. Die sind ja erstmal anschließbar an einen Egoismus, den wir heute in unserer Gesellschaft wahrnehmen und der uns daran verzweifeln lässt, dass wir keine Empathie mehr dafür aufbringen, was ein paar Hundert Kilometer weiter passiert geschweige denn auf einem anderen Kontinent oder in der Atmosphäre dieses Planeten.
Wenn man Stirner mal sehr verknappt, dann gibt es bei ihm einerseits ein Ich, das sich jeder Indienstnahme, jeder Regel, jeder Gemeinschaftlichkeit verweigert. Andererseits ist dieses Ich aber auch, wie du sagst, in unserem Sinne egoistisch, sehr nutzenorientiert. Bei Stirner läuft es ja immer darauf hinaus, dass ich etwas mache, weil es mir und zuallererst mir nützt. Einerseits findet sich da also eine Vorstellung von Freiheit, die als Befreiung von etwas funktioniert, andererseits läuft es auf Kampf oder – im Wortsinn – Asozialität hinaus. Diese beiden Ebenen durchziehen den Text.
Meiner Ansicht nach lesen wir Stirner falsch. Der Einzige und sein Eigentum ist 1844 erschienen, und ich glaube, dass wir als völlig effiziente Kosten-Nutzen-Optimierer mit dem Ich, das Stirner beschreibt, nicht mehr viel zu tun haben. Das ist das eine. Darüber hinaus übersehen wir in der Lektüre aber auch, dass das ein philosophischer Text ist. Uns erst einmal in Konzept- und Gedankenräumen aufzuhalten und über das Denken vielleicht irgendwann zu einer Praxis zu kommen und nicht alles sofort als Gebrauchsanleitung für irgendetwas zu lesen, dazu sind wir gar nicht mehr in der Lage.
Gesetzt den Fall, dass das stimmt, wie gehen wir mit dieser Differenz um?
So wie ich ihn lese, ist das Ich, das Stirner beschreibt, erst einmal ein absolut theoretisches. Ich kann mir nicht vorstellen, mit diesem Ich am Tisch zu sitzen und ernsthaft darüber zu diskutieren, es sei richtig, jemanden umzubringen, wenn es dem Ich entspräche. Das ist aber eine der Konsequenzen aus seinen Überlegungen zum Rechtssystem, dem sich das Ich nicht unterordnen will. Gleichzeitig muss man diese Überlegung übersetzen und umkehren und sich zum Beispiel fragen, wen ich als westlicher, mitteleuropäischer Mann mit jedem Griff an die Zapfsäule umbringe. Stirner schwebt ein Ich vor, das sich keinen Idealen und Allgemeinbegriffen unterordnet und, so würde ich ergänzen, sich auch von den sozialen Räumen und Prägungen befreit hat, in denen wir uns über Bildung und Sozialisation immer schon aufhalten. Und indem wir das tun, schreiben wir diese Prägungen fort, bilden diese Räume weiter aus. Wenn ich an die Lear-Inszenierung vor drei Jahren zurückdenke, war das eines der großen Themen: verzweifelt aufzubegehren gegen das Erbe der Väter, der Wunsch nach anderen Lebensweisen im Angesicht der Katastrophe. Aber wir haben auch damals schon gesehen, dass es ungeheuer schwer und langwierig und vielleicht auch unmöglich ist, sich davon zu befreien.
Was du gerade angesprochen hast, hat viel mit dem Begriff des Gespensts oder des Spuks zu tun, der das ganze Buch durchzieht.
Genau. Wie spricht ein Ich, oder wie würde es sprechen, wenn es nicht von Gespenstern heimgesucht würde? Wir alle kennen die Situation, dass wir etwas mit großer Dringlichkeit formulieren wollen, aber nicht durchkommen zu den Anderen, nicht verstanden werden. Weil das, was wir eigentlich sagen wollen, verdeckt ist von Konventionen, von Kultur, manchmal auch verdeckt ist von der Sprache selbst. Ich glaube, Stirner hatte nichts anderes vor, als diesen Lack vom Ich und der Gesellschaft herunterzukratzen. Er wollte ein Ich freilegen, das so ungebunden ist wie ein Atom. Ein absoluter Laborgedanke. Mich wundert nach wie vor, dass er nur dieses eine Buch geschrieben hat.
Soweit ich sehe, ist es das erste Mal, dass eine Inszenierung von dir zentral auf Musik und Gesang setzt. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks hatten wir zunächst von einem Musical gesprochen. Warum ein solcher Zugriff bei diesem Stoff?
Im Sinne des künstlerischen Umgangs mit dem Material schien mir das nur konsequent zu sein. In unseren Gesprächen war schnell klar, dass wir für das Trockene und Theoretische des Stoffs irgendeine Form von Übertragung brauchen würden, auch, um ihn ins Heute zu übersetzen. Sonst hätte man vielleicht einen Werkstattabend daraus machen können oder eine Rede draußen auf dem Vorplatz. Wenn ich mich richtig erinnere, bist ursprünglich du es gewesen, der gesagt hat, man könne den Stoff doch singen. Worauf ich sehr lange lachen musste, und ich glaube, dass du schon in meinem Lachen gemerkt hast, ach herrje, wo habe ich Sebi denn jetzt hingeleitet (lacht). Der Impuls kam von dir und war vielleicht anders gemeint, aber in dem Moment explodierte es in mir. Eigentlich ist mir die Form des Musicals oder der Operette sehr fremd. Ich kann gut damit umgehen, wenn Schauspieler:innen sprechen, ich kann auch gut damit umgehen, wenn sie singen, aber der Übergang vom Singen zum Sprechen bzw. umgekehrt, das ist für mich etwas, das ich grundsätzlich nur schwer aushalte. Das passt nicht zusammen. Gleichzeitig fand ich es reizvoll, diesen philosophischen Text in eine im weitesten Sinne musiktheaterhafte Form zu bringen, mit dem Widerstand zu arbeiten. Dass wir mittlerweile sehr konsequent sind und im Grunde kaum mehr sprechen, dass damit das Problem des Übergangs erst gar nicht auftritt, das ist ein Ergebnis der Probenzeit, jetzt, zwei Wochen vor der Premiere. Ich bin über diese Verdichtung und den Umweg Gesang – ein Musical ist es nicht – besser an den Text herangekommen, habe mich dem Thema ernsthafter genähert, als wenn ich ihn sujethaft bearbeitet hätte.
Wie verlief deine Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musiker PC Nackt?
PC kenne ich schon lange, noch aus meiner Leipziger Zeit. Er hatte sich zunächst gewünscht, dass ich ihm ein Libretto schreibe, auf das er dann musikalisch hätte reagieren können. Meine Idee war die entgegengesetzte. Ich stellte mir vor, dass erstmal er die Musik schreibt, auf die ich textlich antworten wollte, auch, um noch etwas in der Deckung zu bleiben (lacht). Letztlich haben wir uns in der Mitte getroffen. In der Zusammenarbeit wurde dann schnell klar, dass wir uns inhaltlich von Stirner auch entfernen würden. Er sollte an diesem Abend kein bloßer Stichwortgeber oder Thesenlieferant sein, sondern eher ein Begleiter.
Und worauf wird der Abend hinauslaufen?
Neulich ist mein alter Freund Hermann Nitsch gestorben. In den letzten Jahren hatte ich das Glück, ihn häufiger in Österreich besuchen und ihm beim Malen zusehen zu dürfen. Die Räume, die er mit seiner Kunst eröffnet hat, haben es mir ermöglicht, eigenständig zu denken. Etwas Ähnliches meinte ich zu Anfang des Gesprächs, als es um Tarkovskij und Pasolini ging. Mit meinen Arbeiten möchte auch ich versuchen, solche gedanklichen Räume zur Verfügung zu stellen. Sicherlich polarisiert das in manchen Fällen, weil einige sagen, das ist doch kein Stirner oder das ist doch kein Shakespeare. Andere wollen vielleicht schneller lesen und schneller verstehen. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass viele Zuschauer:innen in den letzten Jahren dankbar dafür waren, dass wir ihnen einen Raum angeboten habe, in dem ich mich auch selber gern aufhalte, nämlich einen Denkraum.
Wie würdest du die musikalische Ebene beschreiben?
Den Bogen, den PC mit seiner Komposition zieht, finde ich musiktheoretisch ziemlich interessant: von einer Grundrhythmik, in der ich möglicherweise Anklänge an die Dreigroschenoper erkenne, bis zur gegenwärtigen elektronischen Popmusik, und das alles nur mit Schlagzeug und Klavier. Mir kommt die Musik oft auch sehr eingängig vor, aber das ist natürlich Geschmackssache. Auf jeden Fall erreichen Stirners Texte in der Komprimierung unsere Hirne durch die Verbindung mit der Musik auf andere Weise, als wenn sie nur deklamiert oder gelesen werden würden. Und natürlich versuchen wir auch, mit der Unterhaltung zu kokettieren.
Fragen: Claus Caesar
In vielen der Arbeiten, die ich in den letzten Jahren von dir gesehen oder hier begleitet habe, hast du große Stoffe für die Bühne adaptiert, ob das Hunger. Peer Gynt war von Hamsun/Ibsen oder Der Zauberberg von Thomas Mann, beide am Deutschen Theater, Pessoas Buch der Unruhe und Schuld und Sühne am Staatsschauspiel Dresden oder zuletzt Dostojewskis Idiot, auch am DT. Du hast diese Stoffe immer so erzählt, dass Kategorien wie Figuren, Story oder Konflikt keine Rolle spielten. Warum interessiert dich diese herkömmliche Art einer Bühnenerzählung nicht?
Ich betrachte Theater mit all seinen Möglichkeiten als eigenständige Kunst, die nicht im Nacherzählen von Handlungssträngen aufgeht. Mich interessieren auf der Bühne andere Erzählweisen, die viel mit Bildender Kunst, Musik und dem Performativen zu tun haben. Deswegen würde ich auch nicht sagen, dass ich auf etwas verzichte. Im Gegenteil, mir geht es um eine Erweiterung der Möglichkeiten, wie sich auf dem Theater erzählen lässt. Du hast meine Beschäftigung mit Dostojewski angesprochen. Wenn ich, als Beispiel, einen seiner Romane inszeniere, suche ich immer nach dem inneren Kern der Geschichte. Dass sich dieser Kern über eine bürgerliche, psychologische Lesart entdecken lässt, daran glaube ich nicht. Stattdessen strebe ich auf dem Weg dahin einen Destillationsprozess des textlichen Reichtums an, auch eine Genauigkeit im Hinsehen, in der Hoffnung, dass sich das Theater dann anders in Richtung Publikum überträgt. Wenn ich mir etwa Filme von Pasolini oder Tarkovskij ansehe, beide haben große Bedeutung für mich, trete ich als Zuschauer auch nicht unmittelbar in eine Handlung ein, sondern immer in einen epischen Moment, der mich nicht in eine Hollywood-Dramaturgie verwickelt, sondern als Betrachter eigenständig werden lässt. Das erlebe ich als eine Art produktiver Langeweile, falls man bereit ist, Langeweile einmal anders zu lesen, nämlich als langes Verweilen in einer Geschichte. Das interessiert mich im Theater, und da ich ja weiß, dass viele meiner Kolleg:innen ganz anders erzählen, wenn sie dem Publikum die Möglichkeit geben, dicht an einer Geschichte dran zu sein – wogegen ich gar nichts habe, im Gegenteil –, fühle ich mich frei darin, andere Wege einzuschlagen. Für mich ist die Suche im Theater einfach eine andere.
Bei der Suche nach einem Stoff für diese Produktion hatten wir vorgeschlagen, dieses Mal nach einem eher thetischen, nicht-erzählerischen Text zu suchen. In dem Zusammenhang fiel, als möglicher Diskussionseinstieg, auch der Titel von Max Stirners Buch Der Einzige und sein Eigentum. Zunächst hast du ziemlich abwehrend darauf reagiert. Dann verging etwas Zeit, wir sprachen wieder miteinander und du sagtest, durchaus zu meiner Überraschung, du würdest den Text inszenieren wollen. Woher der Sinneswandel?
Naja, zunächst war ich mit deiner Anmoderation nicht einverstanden: Der Sebi will ja sowieso keine Geschichten erzählen, also geben wir ihm gleich einen Text, der gar keine Geschichte hat. Der Einzige und sein Eigentum war mir zwar schon begegnet, hauptsächlich durch die Kritik von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie und im Zusammenhang meiner Nietzsche-Lektüren, aber das war alles lange her. Eigentlich wollte ich da nicht ran. Dann aber habe ich gemerkt, dass in diesem theoretischen Text, so wie ich ihn gelesen habe, doch eine Geschichte versteckt sein könnte, und mich hat interessiert, wie sich das erzählen ließe.
Dir Der Einzige und sein Eigentum vorzuschlagen, hatte auch den Hintergrund, dass sein Denken um ein Ich kreist, das er freizulegen versucht. Und meine Überlegung war, dass du daran eventuell anknüpfen könntest. Der Reichtum eines Ich, das quer zur Welt steht, ist ja ein Thema, das sich durch deine letzten Arbeiten zieht…
… da muss ich etwas ausholen. Es gibt immer wieder Intendant:innen, die sich Stücke von mir wünschen. Dann heißt es, du mit deiner Phantasie, von dir würde ich gern mal das und das mal sehen. Meistens reagiere ich darauf sehr skeptisch. Vor zwei Jahren hatten wir ja hier Thomas Manns Zauberberg, das war damals euer Vorschlag. Ich sagte, ich hätte den Text in Leipzig schon mal inszeniert und sei damals in eine Falle getappt. Denn ich hatte diesen Roman seinerzeit sehr brav und ordentlich erzählt, vielleicht auch gar nicht schlecht im Sinne einer Literaturverwaltung auf der Bühne. Aber gegen Ende der Arbeit merkte ich, dass wir, um den Roman adäquat greifen zu können und nicht nur aufgesagte Literatur auf der Bühne zu haben, mit der theatralen Umsetzung woanders hätten landen müssen. Daher kam auch meine anfängliche Abwehr des Textes von Max Stirner. Die inhaltlichen Korrespondenzen, von denen du gesprochen hast, über die hätte man diskutieren können. Aber zunächst hatte ich Angst vor diesem auf den ersten Blick doch sehr trocken daherkommenden, theoretischen Text und vor allem Angst vor dessen Wiedergabe im Theater. Denn ich kann keine Schauspieler:innen auf die Bühne stellen, sie wichtig aussehen und einen philosophischen Text aufsagen lassen, Standbein/Spielbein, um zum nächsten wichtigen Text überzuleiten. Als ich Der Einzige und sein Eigentum dann ein zweites und ein drittes Mal gelesen habe, wurde mir dessen unglaubliche Kraft bewusst, eine im besten Sinn wahnsinnige Wut und Jugendlichkeit, mit der er seine Thesen in den Raum stellt. Die sind ja erstmal anschließbar an einen Egoismus, den wir heute in unserer Gesellschaft wahrnehmen und der uns daran verzweifeln lässt, dass wir keine Empathie mehr dafür aufbringen, was ein paar Hundert Kilometer weiter passiert geschweige denn auf einem anderen Kontinent oder in der Atmosphäre dieses Planeten.
Wenn man Stirner mal sehr verknappt, dann gibt es bei ihm einerseits ein Ich, das sich jeder Indienstnahme, jeder Regel, jeder Gemeinschaftlichkeit verweigert. Andererseits ist dieses Ich aber auch, wie du sagst, in unserem Sinne egoistisch, sehr nutzenorientiert. Bei Stirner läuft es ja immer darauf hinaus, dass ich etwas mache, weil es mir und zuallererst mir nützt. Einerseits findet sich da also eine Vorstellung von Freiheit, die als Befreiung von etwas funktioniert, andererseits läuft es auf Kampf oder – im Wortsinn – Asozialität hinaus. Diese beiden Ebenen durchziehen den Text.
Meiner Ansicht nach lesen wir Stirner falsch. Der Einzige und sein Eigentum ist 1844 erschienen, und ich glaube, dass wir als völlig effiziente Kosten-Nutzen-Optimierer mit dem Ich, das Stirner beschreibt, nicht mehr viel zu tun haben. Das ist das eine. Darüber hinaus übersehen wir in der Lektüre aber auch, dass das ein philosophischer Text ist. Uns erst einmal in Konzept- und Gedankenräumen aufzuhalten und über das Denken vielleicht irgendwann zu einer Praxis zu kommen und nicht alles sofort als Gebrauchsanleitung für irgendetwas zu lesen, dazu sind wir gar nicht mehr in der Lage.
Gesetzt den Fall, dass das stimmt, wie gehen wir mit dieser Differenz um?
So wie ich ihn lese, ist das Ich, das Stirner beschreibt, erst einmal ein absolut theoretisches. Ich kann mir nicht vorstellen, mit diesem Ich am Tisch zu sitzen und ernsthaft darüber zu diskutieren, es sei richtig, jemanden umzubringen, wenn es dem Ich entspräche. Das ist aber eine der Konsequenzen aus seinen Überlegungen zum Rechtssystem, dem sich das Ich nicht unterordnen will. Gleichzeitig muss man diese Überlegung übersetzen und umkehren und sich zum Beispiel fragen, wen ich als westlicher, mitteleuropäischer Mann mit jedem Griff an die Zapfsäule umbringe. Stirner schwebt ein Ich vor, das sich keinen Idealen und Allgemeinbegriffen unterordnet und, so würde ich ergänzen, sich auch von den sozialen Räumen und Prägungen befreit hat, in denen wir uns über Bildung und Sozialisation immer schon aufhalten. Und indem wir das tun, schreiben wir diese Prägungen fort, bilden diese Räume weiter aus. Wenn ich an die Lear-Inszenierung vor drei Jahren zurückdenke, war das eines der großen Themen: verzweifelt aufzubegehren gegen das Erbe der Väter, der Wunsch nach anderen Lebensweisen im Angesicht der Katastrophe. Aber wir haben auch damals schon gesehen, dass es ungeheuer schwer und langwierig und vielleicht auch unmöglich ist, sich davon zu befreien.
Was du gerade angesprochen hast, hat viel mit dem Begriff des Gespensts oder des Spuks zu tun, der das ganze Buch durchzieht.
Genau. Wie spricht ein Ich, oder wie würde es sprechen, wenn es nicht von Gespenstern heimgesucht würde? Wir alle kennen die Situation, dass wir etwas mit großer Dringlichkeit formulieren wollen, aber nicht durchkommen zu den Anderen, nicht verstanden werden. Weil das, was wir eigentlich sagen wollen, verdeckt ist von Konventionen, von Kultur, manchmal auch verdeckt ist von der Sprache selbst. Ich glaube, Stirner hatte nichts anderes vor, als diesen Lack vom Ich und der Gesellschaft herunterzukratzen. Er wollte ein Ich freilegen, das so ungebunden ist wie ein Atom. Ein absoluter Laborgedanke. Mich wundert nach wie vor, dass er nur dieses eine Buch geschrieben hat.
Soweit ich sehe, ist es das erste Mal, dass eine Inszenierung von dir zentral auf Musik und Gesang setzt. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks hatten wir zunächst von einem Musical gesprochen. Warum ein solcher Zugriff bei diesem Stoff?
Im Sinne des künstlerischen Umgangs mit dem Material schien mir das nur konsequent zu sein. In unseren Gesprächen war schnell klar, dass wir für das Trockene und Theoretische des Stoffs irgendeine Form von Übertragung brauchen würden, auch, um ihn ins Heute zu übersetzen. Sonst hätte man vielleicht einen Werkstattabend daraus machen können oder eine Rede draußen auf dem Vorplatz. Wenn ich mich richtig erinnere, bist ursprünglich du es gewesen, der gesagt hat, man könne den Stoff doch singen. Worauf ich sehr lange lachen musste, und ich glaube, dass du schon in meinem Lachen gemerkt hast, ach herrje, wo habe ich Sebi denn jetzt hingeleitet (lacht). Der Impuls kam von dir und war vielleicht anders gemeint, aber in dem Moment explodierte es in mir. Eigentlich ist mir die Form des Musicals oder der Operette sehr fremd. Ich kann gut damit umgehen, wenn Schauspieler:innen sprechen, ich kann auch gut damit umgehen, wenn sie singen, aber der Übergang vom Singen zum Sprechen bzw. umgekehrt, das ist für mich etwas, das ich grundsätzlich nur schwer aushalte. Das passt nicht zusammen. Gleichzeitig fand ich es reizvoll, diesen philosophischen Text in eine im weitesten Sinne musiktheaterhafte Form zu bringen, mit dem Widerstand zu arbeiten. Dass wir mittlerweile sehr konsequent sind und im Grunde kaum mehr sprechen, dass damit das Problem des Übergangs erst gar nicht auftritt, das ist ein Ergebnis der Probenzeit, jetzt, zwei Wochen vor der Premiere. Ich bin über diese Verdichtung und den Umweg Gesang – ein Musical ist es nicht – besser an den Text herangekommen, habe mich dem Thema ernsthafter genähert, als wenn ich ihn sujethaft bearbeitet hätte.
Wie verlief deine Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musiker PC Nackt?
PC kenne ich schon lange, noch aus meiner Leipziger Zeit. Er hatte sich zunächst gewünscht, dass ich ihm ein Libretto schreibe, auf das er dann musikalisch hätte reagieren können. Meine Idee war die entgegengesetzte. Ich stellte mir vor, dass erstmal er die Musik schreibt, auf die ich textlich antworten wollte, auch, um noch etwas in der Deckung zu bleiben (lacht). Letztlich haben wir uns in der Mitte getroffen. In der Zusammenarbeit wurde dann schnell klar, dass wir uns inhaltlich von Stirner auch entfernen würden. Er sollte an diesem Abend kein bloßer Stichwortgeber oder Thesenlieferant sein, sondern eher ein Begleiter.
Und worauf wird der Abend hinauslaufen?
Neulich ist mein alter Freund Hermann Nitsch gestorben. In den letzten Jahren hatte ich das Glück, ihn häufiger in Österreich besuchen und ihm beim Malen zusehen zu dürfen. Die Räume, die er mit seiner Kunst eröffnet hat, haben es mir ermöglicht, eigenständig zu denken. Etwas Ähnliches meinte ich zu Anfang des Gesprächs, als es um Tarkovskij und Pasolini ging. Mit meinen Arbeiten möchte auch ich versuchen, solche gedanklichen Räume zur Verfügung zu stellen. Sicherlich polarisiert das in manchen Fällen, weil einige sagen, das ist doch kein Stirner oder das ist doch kein Shakespeare. Andere wollen vielleicht schneller lesen und schneller verstehen. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass viele Zuschauer:innen in den letzten Jahren dankbar dafür waren, dass wir ihnen einen Raum angeboten habe, in dem ich mich auch selber gern aufhalte, nämlich einen Denkraum.
Wie würdest du die musikalische Ebene beschreiben?
Den Bogen, den PC mit seiner Komposition zieht, finde ich musiktheoretisch ziemlich interessant: von einer Grundrhythmik, in der ich möglicherweise Anklänge an die Dreigroschenoper erkenne, bis zur gegenwärtigen elektronischen Popmusik, und das alles nur mit Schlagzeug und Klavier. Mir kommt die Musik oft auch sehr eingängig vor, aber das ist natürlich Geschmackssache. Auf jeden Fall erreichen Stirners Texte in der Komprimierung unsere Hirne durch die Verbindung mit der Musik auf andere Weise, als wenn sie nur deklamiert oder gelesen werden würden. Und natürlich versuchen wir auch, mit der Unterhaltung zu kokettieren.
Fragen: Claus Caesar
Komponist PC Nackt über
Der Einzige und sein Eigentum
PC Nackt und Felix Goeser im radioeins Interview

"Der Einzige und sein Eigentum" © Arno Declair
Im radioeins Interview sprechen Komponist PC Nackt und DT-Ensemble-Mitglied Felix Goeser über Der Einzige und sein Eigentum, die Bedeutung von Musik und ihre persönliche Erfahrungen. Den Beitrag können Sie in voller Länge hier anhören: