

Der Sturm
Trailer

Videointerview mit Jan Bosse
Der Sturm
Videointerview
Eine eigene Sprache für zwei Stunden Theater
Regisseur Jan Bosse und Übersetzer Jakob Nolte im Gespräch
Worum geht es eigentlich in Shakespeares Sturm?
Jakob Nolte: Es hat eine Weile gebraucht, bis ich diese Frage einigermaßen für mich beantworten konnte, weil ich es für ein doch unübersichtliches Stück halte. Jetzt würde ich sagen, dass es für mich um Verrat geht, um die Folgen von Verrat und eine Welt, die auf Verrat beruht. Der Auslöser ist der Verrat des Bruders am Bruder. Bei Shakespeare steht er im königlichen Kontext, weswegen die Folgen auch internationale Auswirkungen haben. Die Usurpation, die Sehnsucht nach Macht, der Wunsch nach oben zu kommen – das wären andere thematische Schwerpunkte. Aber das Mittel des "Machthungers" ist der Verrat. Fast in allen Szenen stellt sich die Frage: Wer kann hier eigentlich wem vertrauen? Und warum.
Wie kam es zur Entscheidung, Shakespeares Sturm für diese Inszenierung neu übersetzen zu lassen?
Jan Bosse: Uns wurde in den ersten Gesprächen klar, dass, wenn wir den Sturm inszenieren, gern eine Neuübersetzung in Auftrag geben würden. Nicht, weil es keine guten Übersetzungen gäbe, es gibt mehrere gute. Ich selbst habe mit einer Dramaturgin mehrere Shakespeare-Stücke neu übersetzt, zum Beispiel Was ihr wollt und Othello. Aber das war etwas hochstaplerisch, nicht um dem Literaturkanon eine weitere Shakespeare-Übersetzung hinzuzufügen, sondern nur für die Theaterarbeit, mit konkreten Schauspielern und Schauspielerinnen im Hinterkopf. Bei Sturm war dem Dramaturgen David Heiligers und mir früh klar, dass das nicht der richtige Weg wäre, weil dieses Stück viel rätselhafter, illusionistischer, märchenhafter ist als beispielsweise die Königsdramen mit ihren politischen Intrigen. Kämpfe und Verrat finden ja in allen Shakespeare-Stücken statt, aber so wie im Sturm kommt meines Wissens nur im Wintermärchen und natürlich im Sommernachtstraum mit der Verzauberung etwas wirklich Surreales herein. Sommernachtstraum ist das Parallelstück zu Sturm. Puck und Ariel, das hat nicht erst der tolle polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott entdeckt, basieren eher auf einer Teufelsfigur als einem Engel oder einer Fee.
Wir dachten, wir brauchen einen starken poetischen Zugriff eines Autors oder einer Autorin, um für die Fremdheit, die in dieser Welt beschrieben wird, einen Ausdruck in der Sprache zu finden. Die Erfahrung mit Jakob Nolte bei Don Quijote, der auch bei den Bregenzer Festspielen zur Premiere kam, war sehr positiv. Das war ja keine Übersetzung, sondern eine kluge und kraftvolle Bearbeitung von Cervantes‘ Text. Ich war verliebt in diese Art der Sprache und konnte mir einen Nolte‘schen Sturm gut vorstellen.
Welches Thema bot den Ausgangspunkt für das Inzenierungskonzept?
Bosse: Mich hat am meisten interessiert, dass das Stück auf einer Insel spielt. Die Vorgeschichte ist zwölf Jahre her, es geht viel um Erinnerung, aber nicht in einem psychologischen, sondern in einem archaischen Sinn. Es ist alles schon passiert, wenn das Stück beginnt. Mit dem Sturm werden die Figuren und damit auch die Vergangenheit auf diese Insel gespült, zwischen Zufall, Schicksal und Manipulation. Es wird zwar Zufall genannt, aber der Sturm ist von Ariel und Prospero inszeniert, als dieses Schiff zufällig vorbeifährt. Das ist eine typische Shakespeare-Konstruktion, an der gar nichts Zufall ist. Natürlich ist immer schon etwas und jemand da, wenn eine Insel entdeckt wird, Menschen oder Wesen, in diesem Fall Geister und sogenannte Monster. Und Prosperos Behauptung "Das ist jetzt mein Reich und ich erfinde die Welt neu" basiert automatisch auf Unterdrückung und ist auch zwölf Jahre her. Die Verhältnisse auf dieser Insel, die wir im Urzustand gar nicht erleben, sind schon kaputt, sobald dieses Stück beginnt.
Wir erfahren von der Vergangenheit also aus unterschiedlicher Perspektive …
Bosse: Es stellt sich häufig die Frage "Who is telling the story?". Prospero behauptet, dass Caliban versucht habe, seine Tochter zu vergewaltigen oder wörtlich sagt er "die Ehre zu verletzen", Caliban widerspricht ihm auch nicht und phantasiert von "lauter kleinen Calibans". Aber es gibt keinen Beweis für die Ohren des Publikums, also ist es zu einer Story geworden. Sprache ist eben auch Macht: sie definiert den Anspruch, die Hybris, die utopische Hoffnung, aber auch die Lüge. Der Vater hat seiner Tochter 12 Jahre lang nichts erzählt, mit jetzt 15 Jahren fragt sie zum ersten Mal und er berichtet, woher sie kommen und wie sie dort hingeraten sind.
Wie lässt sich der Prozess der Übersetzung beschreiben?
Nolte: Bei Shakespeare stellt sich bei mir das Gefühl der Fremdheit mit jedem Stück ein. Ob bei Romeo und Julia oder Hamlet: Es bleibt beim Lesen ein 400 Jahre alter Schleier, den man auch nicht mehr verschwinden lassen kann. Ob das dem englischen Leser auch so geht? Wahrscheinlich schon. Ich habe verschiedene Wege ausprobiert, und schnell stellen sich Fragen der Repräsentation: Wie soll man Caliban oder Miranda darstellen, im Jahr 2022 mit dem Wissen von Feminismus und Postkolonialismus?
Ich habe den Versuch gestartet, es wirklich Wort für Wort zu übersetzen, weil ich Kunstsprachen mag, die eine Verortung in der Wirklichkeit haben. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der Übersetzen selbstverständlich sein wird. Ich habe in China, wenn die andere Person kein Englisch konnte und ich kein Chinesisch, meine Bestellung einfach ins Smartphone gesprochen. Wir haben die technischen Möglichkeiten, digital simultan zu übersetzen mit unseren Smartphones. Wie verändert sich gerade die Aufgabe des Übersetzers und der Übersetzerin? Es gibt im Italienischen die Redewendung "Traduttore, traditore" ("Übersetzer, Verräter") womit wir wieder beim Verrat wären. Gilt diese Warnung nicht auch für Übersetzungs-Apps? Für mich hat diese Sprache etwas, als wäre sie aus einem zu kleinen Genpool entstanden und ein bisschen verknorpelt – etwas Fälschliches, aber voller Schönheit. Es gibt sie nur im Verhältnis zu Shakespeare. Nur für diese zwei Stunden.
Bosse: Das mit dem kleinen Genpool finde ich an dieser Übersetzung die tollste Idee, dass irgendwas an dieser Sprache verroht ist, nicht inhaltlich, sondern grammatikalisch verschoben.
Nolte: … über die Zeit hinweg, die vergangen ist. Ich möchte das nicht verstecken, sonst müsste ich mir für viele Dinge eine Entsprechung ausdenken, die nicht bei Shakespeare steht. Wenn die Wortspiele nicht mehr funktionieren, funktionieren sie eben nicht mehr – beispielsweise sagt Gonzalo: "It is foul weather in us all" und Sebastian fragt "foul weather?", was Geflügel heißt, und bekommt zur Antwort: "very foul". In der Übersetzung habe ich probiert, dass es phonetisch einigermaßen Spaß macht, dass "übles Wetter in uns allen" ist und "Geflügel Wetter? / Sehr übel". Aber auch ich kann nicht erklären, warum das im Englischen lustig sein soll …
Bosse: Vielleicht geht es auch nur darum, dass jemand ein Wortspiel macht, welches nur er selbst witzig findet.
Wie entsteht für das Publikum eine Nähe zu den Figuren, wenn ich die Fremdheit der Sprache immer spüre? Gibt es dennoch Möglichkeiten der Identifikation?
Bosse: Es gibt natürlich trotzdem all die Emotionalität und die Themen der Figuren, womit ich mich als Publikum hoffentlich verbinde. Shakespeare schreibt sich in fast all seine Stücke selbst in die Figuren hinein. Klar ist er irgendwie auch Prospero, als älterer Autor, der zweifelt und hadert. Irgendwie ist alles schiefgegangen, was er versucht hat zu konstruieren. Oder es ist der alternde König, der kapiert, dass seine Inselutopie gescheitert ist, dass er den Verrat, an dem er selbst gelitten hat, nur reproduziert hat. Aber auch bei den anderen Figuren: Ein junger Königssohn, der auf diese Insel kommt, denkt, dass alle tot sind, und sieht dann plötzlich dieses Wesen und kann nicht anders als sich zu verlieben. Dann ist sie auch noch eine Königstochter, was wiederum auf dieser Märchenebene spielt – ich kann da als Zuschauer:in hoffentlich überall andocken.
Nolte: Mir hilft es beispielsweise in den Szenen zwischen Ferdinand und Miranda zu sehen, dass zwischen ihnen etwas klemmt, weil sie diese Sprache sprechen. Etwas an dieser Liebesszene wirkt so bekloppt und altertümlich, dass ich einen anderen Blick darauf bekomme. Es entschärft für mich die Probleme, die ich sonst im Text sähe, wenn ich behauptete, es wäre heute. Doch hier wird markiert, dass wir uns in einer Illusion befinden, im Theater, in einem Shakespeare, der sozusagen die Regeln von 1611 befolgt.
Bosse: Durch die Sprache wird die Konstruiertheit der Szene thematisiert. Diese Liebessituation ist ein tolles Beispiel, denn bisher hatte ich in Sturm-Aufführungen Probleme mit der naiven Behauptung, dass Miranda das einzige Mädchen ist und Ferdinand der einzige Junge, heterosexuell und ungebunden. Sie wirken fast wie Marionetten, zumindest sehr konstruiert in ihrer Liebe. Bei uns verstehen die beiden sich erst einmal gar nicht, weil die Sprache seltsam um die Ecke ist. Ich denke, dass wir damit ganz nah an Shakespeare sind und gleichzeitig das Konstrukt thematisieren können. Aber den Schritt darüber hinaus müssen wir alle heute selbst machen: Was passiert, wenn Prospero endlich diese Insel verlassen hat? Dann geht doch eigentlich was los mit all den 20-Jährigen, mit der Generation unter ihm!
Alle Darstellenden spielen und verheddern sich auch immer wieder in den Seilen, die das Bühnenbild ausmachen. Wie kam es zu dieser klaren und dennoch verstrickten Bildidee?
Bosse: Die Seile auf der Bühne sind Theater pur, weil – wie unser Bühnenbildner Stéphane Laimé erklärt hat – die Seiltechnik der Theaterzüge tatsächlich aus der Schifffahrt kommt. Die Theater haben die Technik übernommen und daraus gelernt. Deswegen verwenden wir auch keine Gummiseile oder Stangen, sondern Hanf, also verarbeitetes Naturmaterial. Wir haben ursprünglich nach einem konkreten Element gesucht, das trotzdem durch die Vervielfältigung eine Abstraktion ermöglicht. In der ersten Szene im Sturm wird komischerweise eines dieser Schiffstaue, die nicht verhindern können, dass alle umkommen, "rope of destiny", Schicksalsseil, genannt. Der Seemann, der vielleicht für die Verfluchung des Königs gehängt wird, ist jetzt wichtiger als jeder König auf Erden, weil er der Einzige ist, der uns im Sturm mit seinem Schiffstau retten kann. Eigentlich ist das ganze Stück wie ein Sturm, der anfängliche Sturm aber schon vorbei, und gleichzeitig ist es ein innerer Sturm, der alle diese Figuren herumwirbelt.
Es gibt eine weitere Ebene mit den Songs, welche die Musik zur eigenen Sprache werden lassen.
Nolte: Musik ist ein zentrales Thema in dem Stück, weil die Insel beherrscht ist von Musik, von seltsamen Tönen, Klängen, Kreischen.
Bosse: Ich habe mich darauf gestürzt, dass wir Songs im Originalenglisch aufführen können, nur ganz leicht adaptiert, um der völligen Unverständlichkeit zu entkommen. Ich finde es gut, wenn sich zur deutschen Übersetzung, dieser Nolte’schen Shakespeare-Sprache, dieses ebenso kryptische Englisch gesellt. Man kommt von der einen seltsamen Sprache in die andere.
Wie werden diese Songs praktisch auf der Bühne umgesetzt?
Bosse: Es gibt mit Carolina Bigge eine Live-Musikerin auf der Bühne, sie spielt Keyboard und Drum Machine, hat aber auch eine Gitarre und eine Ukulele dabei. Es gibt Instrumente auf dieser Insel, wie es Donnerbleche und Windmaschinen gibt, und die Geräusche der Theatertechnik, also auch hier eine Metapher des Theaters in der Inszenierung.
Nolte: Bereits im Originaltext sind Geräusch und Musik die Hauptmittel der Weltgestaltung, wenn man sich das Shakespeare-Theater vorstellt, das mit wenig Bühnenbild ausgekommen ist, um Orte herzustellen. So funktioniert es auch für die Spielenden, dass sie immer etwas hören. Die Insel wird beschrieben über ihre Klanglichkeit. Es gibt das Donnerblech und diese Maschinerie, welche die Illusion eines Raumes herstellen, die Illusion einer Wolke, die Illusion eines Vögelchens.
Diese Klänge machen die Menschen mit einem Ort vertraut, weil wir die Welt auch akustisch wahrnehmen.
Bosse: Das ist immer die Frage beim Imaginären, wenn Figuren Halluzinationen haben: zeigt man sie? Haben die Zuschauerin und der Zuschauer sie auch? Neben der Live-Musik gibt es auch die Klanginstallationen von Arno Kraehahn. Diese Mischung finde ich interessant, wenn es auf dieser Insel eine ganz leise elektronische Fläche gibt, und Carolina dann Gitarre spielt und die Schauspieler:innen Vogelgeräusche machen. Dann wird es fast psychedelisch. Es gibt wohl kein Stück mit so vielen Aufwachenden und Schlafenden, ständig ist jemand entweder gerade am Aufwachen oder am Einschlafen und es wird sehr viel über Traum und Realität geredet – das alte große Thema. Und die Träume sind manchmal stärker und vielleicht sogar intensiver als das Eigentliche …
Das Gespräch führte Olaf Schmitt für das Magazin der Bregenzer Festspiele.
Jakob Nolte: Es hat eine Weile gebraucht, bis ich diese Frage einigermaßen für mich beantworten konnte, weil ich es für ein doch unübersichtliches Stück halte. Jetzt würde ich sagen, dass es für mich um Verrat geht, um die Folgen von Verrat und eine Welt, die auf Verrat beruht. Der Auslöser ist der Verrat des Bruders am Bruder. Bei Shakespeare steht er im königlichen Kontext, weswegen die Folgen auch internationale Auswirkungen haben. Die Usurpation, die Sehnsucht nach Macht, der Wunsch nach oben zu kommen – das wären andere thematische Schwerpunkte. Aber das Mittel des "Machthungers" ist der Verrat. Fast in allen Szenen stellt sich die Frage: Wer kann hier eigentlich wem vertrauen? Und warum.
Wie kam es zur Entscheidung, Shakespeares Sturm für diese Inszenierung neu übersetzen zu lassen?
Jan Bosse: Uns wurde in den ersten Gesprächen klar, dass, wenn wir den Sturm inszenieren, gern eine Neuübersetzung in Auftrag geben würden. Nicht, weil es keine guten Übersetzungen gäbe, es gibt mehrere gute. Ich selbst habe mit einer Dramaturgin mehrere Shakespeare-Stücke neu übersetzt, zum Beispiel Was ihr wollt und Othello. Aber das war etwas hochstaplerisch, nicht um dem Literaturkanon eine weitere Shakespeare-Übersetzung hinzuzufügen, sondern nur für die Theaterarbeit, mit konkreten Schauspielern und Schauspielerinnen im Hinterkopf. Bei Sturm war dem Dramaturgen David Heiligers und mir früh klar, dass das nicht der richtige Weg wäre, weil dieses Stück viel rätselhafter, illusionistischer, märchenhafter ist als beispielsweise die Königsdramen mit ihren politischen Intrigen. Kämpfe und Verrat finden ja in allen Shakespeare-Stücken statt, aber so wie im Sturm kommt meines Wissens nur im Wintermärchen und natürlich im Sommernachtstraum mit der Verzauberung etwas wirklich Surreales herein. Sommernachtstraum ist das Parallelstück zu Sturm. Puck und Ariel, das hat nicht erst der tolle polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott entdeckt, basieren eher auf einer Teufelsfigur als einem Engel oder einer Fee.
Wir dachten, wir brauchen einen starken poetischen Zugriff eines Autors oder einer Autorin, um für die Fremdheit, die in dieser Welt beschrieben wird, einen Ausdruck in der Sprache zu finden. Die Erfahrung mit Jakob Nolte bei Don Quijote, der auch bei den Bregenzer Festspielen zur Premiere kam, war sehr positiv. Das war ja keine Übersetzung, sondern eine kluge und kraftvolle Bearbeitung von Cervantes‘ Text. Ich war verliebt in diese Art der Sprache und konnte mir einen Nolte‘schen Sturm gut vorstellen.
Welches Thema bot den Ausgangspunkt für das Inzenierungskonzept?
Bosse: Mich hat am meisten interessiert, dass das Stück auf einer Insel spielt. Die Vorgeschichte ist zwölf Jahre her, es geht viel um Erinnerung, aber nicht in einem psychologischen, sondern in einem archaischen Sinn. Es ist alles schon passiert, wenn das Stück beginnt. Mit dem Sturm werden die Figuren und damit auch die Vergangenheit auf diese Insel gespült, zwischen Zufall, Schicksal und Manipulation. Es wird zwar Zufall genannt, aber der Sturm ist von Ariel und Prospero inszeniert, als dieses Schiff zufällig vorbeifährt. Das ist eine typische Shakespeare-Konstruktion, an der gar nichts Zufall ist. Natürlich ist immer schon etwas und jemand da, wenn eine Insel entdeckt wird, Menschen oder Wesen, in diesem Fall Geister und sogenannte Monster. Und Prosperos Behauptung "Das ist jetzt mein Reich und ich erfinde die Welt neu" basiert automatisch auf Unterdrückung und ist auch zwölf Jahre her. Die Verhältnisse auf dieser Insel, die wir im Urzustand gar nicht erleben, sind schon kaputt, sobald dieses Stück beginnt.
Wir erfahren von der Vergangenheit also aus unterschiedlicher Perspektive …
Bosse: Es stellt sich häufig die Frage "Who is telling the story?". Prospero behauptet, dass Caliban versucht habe, seine Tochter zu vergewaltigen oder wörtlich sagt er "die Ehre zu verletzen", Caliban widerspricht ihm auch nicht und phantasiert von "lauter kleinen Calibans". Aber es gibt keinen Beweis für die Ohren des Publikums, also ist es zu einer Story geworden. Sprache ist eben auch Macht: sie definiert den Anspruch, die Hybris, die utopische Hoffnung, aber auch die Lüge. Der Vater hat seiner Tochter 12 Jahre lang nichts erzählt, mit jetzt 15 Jahren fragt sie zum ersten Mal und er berichtet, woher sie kommen und wie sie dort hingeraten sind.
Wie lässt sich der Prozess der Übersetzung beschreiben?
Nolte: Bei Shakespeare stellt sich bei mir das Gefühl der Fremdheit mit jedem Stück ein. Ob bei Romeo und Julia oder Hamlet: Es bleibt beim Lesen ein 400 Jahre alter Schleier, den man auch nicht mehr verschwinden lassen kann. Ob das dem englischen Leser auch so geht? Wahrscheinlich schon. Ich habe verschiedene Wege ausprobiert, und schnell stellen sich Fragen der Repräsentation: Wie soll man Caliban oder Miranda darstellen, im Jahr 2022 mit dem Wissen von Feminismus und Postkolonialismus?
Ich habe den Versuch gestartet, es wirklich Wort für Wort zu übersetzen, weil ich Kunstsprachen mag, die eine Verortung in der Wirklichkeit haben. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der Übersetzen selbstverständlich sein wird. Ich habe in China, wenn die andere Person kein Englisch konnte und ich kein Chinesisch, meine Bestellung einfach ins Smartphone gesprochen. Wir haben die technischen Möglichkeiten, digital simultan zu übersetzen mit unseren Smartphones. Wie verändert sich gerade die Aufgabe des Übersetzers und der Übersetzerin? Es gibt im Italienischen die Redewendung "Traduttore, traditore" ("Übersetzer, Verräter") womit wir wieder beim Verrat wären. Gilt diese Warnung nicht auch für Übersetzungs-Apps? Für mich hat diese Sprache etwas, als wäre sie aus einem zu kleinen Genpool entstanden und ein bisschen verknorpelt – etwas Fälschliches, aber voller Schönheit. Es gibt sie nur im Verhältnis zu Shakespeare. Nur für diese zwei Stunden.
Bosse: Das mit dem kleinen Genpool finde ich an dieser Übersetzung die tollste Idee, dass irgendwas an dieser Sprache verroht ist, nicht inhaltlich, sondern grammatikalisch verschoben.
Nolte: … über die Zeit hinweg, die vergangen ist. Ich möchte das nicht verstecken, sonst müsste ich mir für viele Dinge eine Entsprechung ausdenken, die nicht bei Shakespeare steht. Wenn die Wortspiele nicht mehr funktionieren, funktionieren sie eben nicht mehr – beispielsweise sagt Gonzalo: "It is foul weather in us all" und Sebastian fragt "foul weather?", was Geflügel heißt, und bekommt zur Antwort: "very foul". In der Übersetzung habe ich probiert, dass es phonetisch einigermaßen Spaß macht, dass "übles Wetter in uns allen" ist und "Geflügel Wetter? / Sehr übel". Aber auch ich kann nicht erklären, warum das im Englischen lustig sein soll …
Bosse: Vielleicht geht es auch nur darum, dass jemand ein Wortspiel macht, welches nur er selbst witzig findet.
Wie entsteht für das Publikum eine Nähe zu den Figuren, wenn ich die Fremdheit der Sprache immer spüre? Gibt es dennoch Möglichkeiten der Identifikation?
Bosse: Es gibt natürlich trotzdem all die Emotionalität und die Themen der Figuren, womit ich mich als Publikum hoffentlich verbinde. Shakespeare schreibt sich in fast all seine Stücke selbst in die Figuren hinein. Klar ist er irgendwie auch Prospero, als älterer Autor, der zweifelt und hadert. Irgendwie ist alles schiefgegangen, was er versucht hat zu konstruieren. Oder es ist der alternde König, der kapiert, dass seine Inselutopie gescheitert ist, dass er den Verrat, an dem er selbst gelitten hat, nur reproduziert hat. Aber auch bei den anderen Figuren: Ein junger Königssohn, der auf diese Insel kommt, denkt, dass alle tot sind, und sieht dann plötzlich dieses Wesen und kann nicht anders als sich zu verlieben. Dann ist sie auch noch eine Königstochter, was wiederum auf dieser Märchenebene spielt – ich kann da als Zuschauer:in hoffentlich überall andocken.
Nolte: Mir hilft es beispielsweise in den Szenen zwischen Ferdinand und Miranda zu sehen, dass zwischen ihnen etwas klemmt, weil sie diese Sprache sprechen. Etwas an dieser Liebesszene wirkt so bekloppt und altertümlich, dass ich einen anderen Blick darauf bekomme. Es entschärft für mich die Probleme, die ich sonst im Text sähe, wenn ich behauptete, es wäre heute. Doch hier wird markiert, dass wir uns in einer Illusion befinden, im Theater, in einem Shakespeare, der sozusagen die Regeln von 1611 befolgt.
Bosse: Durch die Sprache wird die Konstruiertheit der Szene thematisiert. Diese Liebessituation ist ein tolles Beispiel, denn bisher hatte ich in Sturm-Aufführungen Probleme mit der naiven Behauptung, dass Miranda das einzige Mädchen ist und Ferdinand der einzige Junge, heterosexuell und ungebunden. Sie wirken fast wie Marionetten, zumindest sehr konstruiert in ihrer Liebe. Bei uns verstehen die beiden sich erst einmal gar nicht, weil die Sprache seltsam um die Ecke ist. Ich denke, dass wir damit ganz nah an Shakespeare sind und gleichzeitig das Konstrukt thematisieren können. Aber den Schritt darüber hinaus müssen wir alle heute selbst machen: Was passiert, wenn Prospero endlich diese Insel verlassen hat? Dann geht doch eigentlich was los mit all den 20-Jährigen, mit der Generation unter ihm!
Alle Darstellenden spielen und verheddern sich auch immer wieder in den Seilen, die das Bühnenbild ausmachen. Wie kam es zu dieser klaren und dennoch verstrickten Bildidee?
Bosse: Die Seile auf der Bühne sind Theater pur, weil – wie unser Bühnenbildner Stéphane Laimé erklärt hat – die Seiltechnik der Theaterzüge tatsächlich aus der Schifffahrt kommt. Die Theater haben die Technik übernommen und daraus gelernt. Deswegen verwenden wir auch keine Gummiseile oder Stangen, sondern Hanf, also verarbeitetes Naturmaterial. Wir haben ursprünglich nach einem konkreten Element gesucht, das trotzdem durch die Vervielfältigung eine Abstraktion ermöglicht. In der ersten Szene im Sturm wird komischerweise eines dieser Schiffstaue, die nicht verhindern können, dass alle umkommen, "rope of destiny", Schicksalsseil, genannt. Der Seemann, der vielleicht für die Verfluchung des Königs gehängt wird, ist jetzt wichtiger als jeder König auf Erden, weil er der Einzige ist, der uns im Sturm mit seinem Schiffstau retten kann. Eigentlich ist das ganze Stück wie ein Sturm, der anfängliche Sturm aber schon vorbei, und gleichzeitig ist es ein innerer Sturm, der alle diese Figuren herumwirbelt.
Es gibt eine weitere Ebene mit den Songs, welche die Musik zur eigenen Sprache werden lassen.
Nolte: Musik ist ein zentrales Thema in dem Stück, weil die Insel beherrscht ist von Musik, von seltsamen Tönen, Klängen, Kreischen.
Bosse: Ich habe mich darauf gestürzt, dass wir Songs im Originalenglisch aufführen können, nur ganz leicht adaptiert, um der völligen Unverständlichkeit zu entkommen. Ich finde es gut, wenn sich zur deutschen Übersetzung, dieser Nolte’schen Shakespeare-Sprache, dieses ebenso kryptische Englisch gesellt. Man kommt von der einen seltsamen Sprache in die andere.
Wie werden diese Songs praktisch auf der Bühne umgesetzt?
Bosse: Es gibt mit Carolina Bigge eine Live-Musikerin auf der Bühne, sie spielt Keyboard und Drum Machine, hat aber auch eine Gitarre und eine Ukulele dabei. Es gibt Instrumente auf dieser Insel, wie es Donnerbleche und Windmaschinen gibt, und die Geräusche der Theatertechnik, also auch hier eine Metapher des Theaters in der Inszenierung.
Nolte: Bereits im Originaltext sind Geräusch und Musik die Hauptmittel der Weltgestaltung, wenn man sich das Shakespeare-Theater vorstellt, das mit wenig Bühnenbild ausgekommen ist, um Orte herzustellen. So funktioniert es auch für die Spielenden, dass sie immer etwas hören. Die Insel wird beschrieben über ihre Klanglichkeit. Es gibt das Donnerblech und diese Maschinerie, welche die Illusion eines Raumes herstellen, die Illusion einer Wolke, die Illusion eines Vögelchens.
Diese Klänge machen die Menschen mit einem Ort vertraut, weil wir die Welt auch akustisch wahrnehmen.
Bosse: Das ist immer die Frage beim Imaginären, wenn Figuren Halluzinationen haben: zeigt man sie? Haben die Zuschauerin und der Zuschauer sie auch? Neben der Live-Musik gibt es auch die Klanginstallationen von Arno Kraehahn. Diese Mischung finde ich interessant, wenn es auf dieser Insel eine ganz leise elektronische Fläche gibt, und Carolina dann Gitarre spielt und die Schauspieler:innen Vogelgeräusche machen. Dann wird es fast psychedelisch. Es gibt wohl kein Stück mit so vielen Aufwachenden und Schlafenden, ständig ist jemand entweder gerade am Aufwachen oder am Einschlafen und es wird sehr viel über Traum und Realität geredet – das alte große Thema. Und die Träume sind manchmal stärker und vielleicht sogar intensiver als das Eigentliche …
Das Gespräch führte Olaf Schmitt für das Magazin der Bregenzer Festspiele.

Stürmischer Lärm.
Jakob Noltes Übersetzung von Shakespeares The Tempest.
von Wolfgang Hottner
Im Jahr 1887 erscheint in London eine Neuübersetzung von Gustave Flauberts Madame Bovary. Die Verfasserin ist Eleanor Marx, jüngste Tochter von Karl Marx, die ihrem Vater stets – ohne dass dieser es jemals für erwähnenswert gehalten hat – bei der englischen Übersetzung seiner Werke zur Seite stand. Ihrer Flaubert-Übersetzung fügt Eleanor Marx ein Vorwort hinzu, in dem sie drei verschiedene Formen übersetzerischer Praxis unterscheidet:
Es gibt drei Methoden zu übersetzen. Die erste ist die genialische, mit der das zu übersetzende Werk in der eigenen Sprache buchstäblich neuerschaffen wird. Schlegel ist dies mit Shakespeare gelungen, Baudelaire mit Edgar Poe. Aber es finden sich nur wenige Genies auf dieser Welt und die paar, die es gibt, widmen sich der undankbaren Aufgabe des Übersetzers eher selten. Zweitens gibt es den Trickübersetzer (hack translator), der hemdsärmlich und unverfroren und lediglich mit einem Wörterbuch bewaffnet in Bereiche vordringt, in die sich seine Mitstreiter kaum wagen würden. Er ist es, der den Übersetzern den zweifelhaften Beinamen tradittore eingebracht hat und dessen Arbeit oft eher einer Entstellung oder Verkehrung als seiner Wiedergabe des Originals gleicht. Schließlich gibt es auch noch den pflichtbewussten Arbeiter, der beim besten Willen nicht zur ersten Kategorie, aber auch nicht in die zweite gehört. Er gibt auf ehrliche und ernsthafte Weise sein Bestes. Zu dieser Kategorie zähle ich mich selbst.[1]
Neben den Ausführungen zu den Allgemeinplätzen der Übersetzungstheorie – geniale Neuschöpfung vs. getreue Reproduktion – scheint vor allem die Figur des hack translators interessant zu sein, dessen dubiosen Absichten etwas Militantes, Polemisches und Interventionistisches innewohnt. Bewaffnet nur mit einem Wörterbuch (oder mit Google Translate) ist ein solches Gewerkel am Material der Sprachen zwar pervers, dringt aber auch unbeirrt und furchtlos in bisher unkartiertes sprachliches Gelände vor. Die Übersetzungen des hack translators entfernen sich mutwillig von der Treue zum Original, zielen nicht so sehr auf unbestechliche Wiedergabe der fremden, sondern auf die Verkehrung der ‚eigenen‘ Sprache. Übersetzen als Verrat – gemäß dem italienischen Sprichwort: traduttore, tradittore.
Ein solcher Umgang mit Sprache scheint auch Jakob Noltes Neuübersetzung von Shakespeares im Jahre 1611 uraufgeführten The Tempest zu Grunde zu liegen. Doch von Verrat am Original kann keineswegs die Rede sein – steht die Haltung des hack translators Nolte doch in völligem Einklang mit der Logik und Poetik des Stücks selbst, in dem es von Verrat und Verrätern nur so wimmelt. In The Tempest erzählt Shakespeare nicht nur von Schiffbruch, Zauberkraft und Liebesglück, sondern vor allem von Intrigen, Hinterhältigkeiten und Doppeldeutigkeiten.
In ihrer Interlinearität produziert Noltes Übersetzung einen nahezu paradoxen Effekt: sie wähnt sich auf der einen Seite Wort für Wort am Original, auf der anderen Seite rückt gerade diese Nähe den Text in eine eigentümliche Ferne. Die Wörtlichkeit der Übertragung, die strikte Orientierung an der englischen Syntax verstärkt dabei sowohl das Zauberhafte als das Enigmatische des Shakespeare‘schen Spätwerks. Die Übersetzung versucht dabei erst gar nicht den Abstand von mehr als 400 Jahren zu übertünchen, der die Entstehungszeit des Stückes von unserer Gegenwart trennt. Sie lässt sich damit auch als leisen Einspruch gegen eine leichtfertige ‚Aktualisierung‘ Shakespeares für die Verhandlung gegenwärtiger Themen verstehen. Anstatt zu fragen, was Shakespeare uns ‚heute‘ noch zu sagen hat, rückt Noltes Shakespeares Sprache selbst in den Blick, und bietet somit ihrer Schönheit, spielerischen Elastizität und wortschöpferischen Kraft eine Bühne.
Nolte arbeitet mit und gegen das Material, begibt sich bewusst in den Zwischenraum der Sprachen, gleichermaßen abständig vom Englischen wie vom Deutschen. In dieser translation zone entsteht ein windschiefer, zauberhafter Sprachzustand, erfährt der Text eine neue Luftigkeit und Leichtigkeit – in Anlehnung an den „luftigen Geist“ Ariel möchte man fast sagen: eine Arielisierung. Noltes Übersetzung verwandelt die eigentümliche „strangeness“ des Stücks nicht wie der berühmteste deutsche Shakespeare-Übersetzer August Wilhelm Schlegel in etwas romantisch „Wunderbares“, sondern insistiert auf dem Befremden, oder wie es bei Nolte heißt, auf deren „Seltsamkeit“. Shakespeares Englisch scheint in diesem Phantasiedeutsch nicht nur gelegentlich durch, es stürmt einem von Anfang an blitzend und donnernd entgegen. Ähnlich den auf der Insel Gestrandeten bedarf es einer kurzen Phase der Orientierung, um sich in diesem broken shakespearisch zurecht zu finden, doch es dauert nicht lange, um dessen Charme zu verfallen. So etwa gleich zu Anfang in Gonzalos Beschreibung des Bootsmanns:
Ich habe großen Trost von diesem Kerl: michdenkt er hat kein
Ertrinken-Anzeichen über sich; sein Teint ist völlig Galgen. Steh schnell,
gute Fügung, zu seinem Hängen; mach den Strick von seinem Schicksal
unser Tau, für unser eigenes tut wenig Vorteil. Falls er sei nicht geboren zu sein
hängend, unser Fall ist elend.
Jenseits herkömmlicher syntaktischer Ordnung fügen sich die Wörter neu, werden die Sätze neu vertaut, gehen intrikate Verknüpfungen und Verstrickungen ein. Mit einer traumwandlerischen Sicherheit schwingt sich die Übersetzung dabei von Wendung zu Wendung, ist extrem genau und extrem verfehlt zugleich. Für die Handlung des Stücks, wie auch die Übersetzung gilt: So synkopiert, gebrochen und schwankend es zugeht, am Ende findet sich doch eine „gute Fügung“ und die Liebenden zusammen, verkehrt sich vermeintlicher Unfug doch noch in Sinn. Noltes Übersetzung verstärkt damit das Tragi-komische des Stücks, das Klamaukhafte, Besoffene und Wunderkabinettmäßige, die Absurdität und den Surrealismus der Handlung.
In einem Stück, in dem die Unterscheidung zwischen „Kunst“ (art) und „üblem Spiel“ (foul play) nie ganz klar ist, die Ebenen und Sphären sich ständig vermischen, tut auch die Übersetzung gut daran, sich dieser messiness nicht zu verwehren. Nolte übersetzt daher grundsätzlich ins Unreine, um einen Begriff der Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf zu gebrauchen. Sein Verfahren zielt auf eine ästhetisch hochinteressante Mischung der Sprachen, auf die „Lust, das fremde Material in der Zielsprache poetisch wirksam werden zu lassen, wie ein sanftes Gift/gift.“[2] Jenseits der Treue zum Original steht hier die willentliche Störung, die Sichtbarmachung der Übersetzung als solche im Vordergrund. Übersetzen als respektlose Praxis, die insbesondere an die Grenzen der eigenen Sprache führt und dabei „[h]öchste Gewissenhaftigkeit mit größter Brutalität“ verbindet.[3]
Dabei entsteht eine eigentümliche Klanglichkeit, ein anderer so noch nie gehörter Shakespeare. Der unerhörte sound ist der eigentliche Clou von Noltes Übertragung und von entscheidender Bedeutung für ein Stück, das von akustischen Elementen durchzogen ist: angefangen mit dem „tempestous noise“ in der ersten Szene, der von Prospero erzählten Vorgeschichte, die gar „Taubheit“ zu heilen vermag, den sprechenden Wogen und singenden Winden sowie den nahezu himmlischen Liedern des Luftgeistes Ariel. Dabei schwankt die Akustik der Insel sowie das sound-design des Stücks immer wieder zwischen Lärm und süßestem Klang.
Wo sollte diese Musik sein? i' de' Luft oder der 'rde?
Es klingt nicht mehr: und, sicher, es wartet auf
Irgend Gott vo' de' Insel. Sitzend auf einer Bank,
Weinend wieder des Königs meines Vaters Wrack,
Diese Musik kroch mich an von den Wassern,
Lindernd beides ihre Wut und meine Leidenschaft
Mit ihrer süßen Arie: daher ich habe g'folgt ihr,
Oder sie hat gezogen mich eher. Aber 'sist fort.
Noltes Übersetzung löst diese konstitutive Gleichzeitigkeit von Lärm und Klang nicht in Wohltemperiertheit auf, sondern macht sie zum übersetzerischen Prinzip. Insbesondere Ariels Lieder, diese „feierliche und seltsame Musik“, erhalten eine neue, fast dissonante Qualität:
Volle Fäden fünf dein Vater liegt;
Aus seinen Knochen sind Korallen gemacht;
Dies sind Perlen die waren seine Augen:
Nichts von ihm tut schwinden,
Aber tut erleiden eine Meer-Änderung
Zu etwas Reichem und Seltsamen.
Meer-Nymphen stündlich schlagen seine Totenglocke:
(Chor) Ding-Dong.
Horche! jetzt und höre dann, – Ding-Dong, Glocke.
Nichts bleibt bestehen im unaufhörlichen Spiel der Gezeiten, dem Wandeln der Zeiten – dieses Gesetz der „Meer-Änderung“ gilt auch und vor allem für Übersetzungen. Jede Übertragung, so getreu oder verräterisch sie sich auch geben mag, ist Anverwandlung und damit Entstellung und Umschrift zugleich. Noltes Shakespeare macht dies auf eindrucksvolle Weise sichtbar: er verwandelt und versteckt die „Seltsamkeiten“ des Originals nicht unter dem Schleier von Bedeutsamkeit und Wohlklang, er lässt sie vielmehr als solche hervortreten, eröffnet einen unbekannten Raum zwischen den Sprachen. Nolte verfährt dabei, dem wendigen Luftgeist Ariel nicht unähnlich, trickreich, spielerisch und gewandt zugleich. Die gelben Strände der Shakespearschen Insel, ihre Zaubereien und happy ends erstrahlen dabei in einem neuen Licht, gemäß Ariels Weisung: „es füßelt anmutig hier und da“.
Wolfgang Hottner, geb. 1987, ist Associate Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bergen. Er studierte Germanistik, Komparatistik, Kunstgeschichte und Philosophie in München, Berkeley und Yale, und arbeitete von 2017 bis 2022 am Peter-Szondi-Institut an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Ästhetik und der Wissensgeschichte, Übersetzungstheorie sowie Literaturtheorie.
Dieser Essay ist ein Originalbeitrag für das Programmheft der Bregenzer Festspiele.
[1]) Eleanor Marx-Aveling, „Translator’s Introduction“, in: Madame Bovary: Provincial Manners, London 1892, vii-xxii, hier: xxi-xxii: „There are three possible methods of translation. The first is that of the genius, who literally re-creates a work in his own language. Schlegel has done this for Shakespeare, Baudelaire for Edgar Poe. But there are few geniuses in the world, and those we have do not, for the most part, devote themselves to the thankless task of translating. Next, there is the hack translator, who, armed with dictionary, rushes in where his betters fear to tread. He it is who has earned for the translator the epithet of tradittore, and his work is but too often a perversion, not a rendering. Finally, there is the conscientious worker. He cannot if he would belong to the first category of translators. He would not if he could belong to the second. He can but strive to do his best; to be honest, earnest. To this last category I claim to belong.”
[2]) Uljana Wolf, Etymologischer Gossip. Essays und Reden, Berlin 2021, S. 18.
[3]) Walter Benjamin, „Notizen zur Übersetzung“, in: Ders., Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VII: Tabelaux Parisiens, hg. v. Antonia Birnbaum und Michael Métayer, Berlin 2017, S. 192-194, S. 192.
Es gibt drei Methoden zu übersetzen. Die erste ist die genialische, mit der das zu übersetzende Werk in der eigenen Sprache buchstäblich neuerschaffen wird. Schlegel ist dies mit Shakespeare gelungen, Baudelaire mit Edgar Poe. Aber es finden sich nur wenige Genies auf dieser Welt und die paar, die es gibt, widmen sich der undankbaren Aufgabe des Übersetzers eher selten. Zweitens gibt es den Trickübersetzer (hack translator), der hemdsärmlich und unverfroren und lediglich mit einem Wörterbuch bewaffnet in Bereiche vordringt, in die sich seine Mitstreiter kaum wagen würden. Er ist es, der den Übersetzern den zweifelhaften Beinamen tradittore eingebracht hat und dessen Arbeit oft eher einer Entstellung oder Verkehrung als seiner Wiedergabe des Originals gleicht. Schließlich gibt es auch noch den pflichtbewussten Arbeiter, der beim besten Willen nicht zur ersten Kategorie, aber auch nicht in die zweite gehört. Er gibt auf ehrliche und ernsthafte Weise sein Bestes. Zu dieser Kategorie zähle ich mich selbst.[1]
Neben den Ausführungen zu den Allgemeinplätzen der Übersetzungstheorie – geniale Neuschöpfung vs. getreue Reproduktion – scheint vor allem die Figur des hack translators interessant zu sein, dessen dubiosen Absichten etwas Militantes, Polemisches und Interventionistisches innewohnt. Bewaffnet nur mit einem Wörterbuch (oder mit Google Translate) ist ein solches Gewerkel am Material der Sprachen zwar pervers, dringt aber auch unbeirrt und furchtlos in bisher unkartiertes sprachliches Gelände vor. Die Übersetzungen des hack translators entfernen sich mutwillig von der Treue zum Original, zielen nicht so sehr auf unbestechliche Wiedergabe der fremden, sondern auf die Verkehrung der ‚eigenen‘ Sprache. Übersetzen als Verrat – gemäß dem italienischen Sprichwort: traduttore, tradittore.
Ein solcher Umgang mit Sprache scheint auch Jakob Noltes Neuübersetzung von Shakespeares im Jahre 1611 uraufgeführten The Tempest zu Grunde zu liegen. Doch von Verrat am Original kann keineswegs die Rede sein – steht die Haltung des hack translators Nolte doch in völligem Einklang mit der Logik und Poetik des Stücks selbst, in dem es von Verrat und Verrätern nur so wimmelt. In The Tempest erzählt Shakespeare nicht nur von Schiffbruch, Zauberkraft und Liebesglück, sondern vor allem von Intrigen, Hinterhältigkeiten und Doppeldeutigkeiten.
In ihrer Interlinearität produziert Noltes Übersetzung einen nahezu paradoxen Effekt: sie wähnt sich auf der einen Seite Wort für Wort am Original, auf der anderen Seite rückt gerade diese Nähe den Text in eine eigentümliche Ferne. Die Wörtlichkeit der Übertragung, die strikte Orientierung an der englischen Syntax verstärkt dabei sowohl das Zauberhafte als das Enigmatische des Shakespeare‘schen Spätwerks. Die Übersetzung versucht dabei erst gar nicht den Abstand von mehr als 400 Jahren zu übertünchen, der die Entstehungszeit des Stückes von unserer Gegenwart trennt. Sie lässt sich damit auch als leisen Einspruch gegen eine leichtfertige ‚Aktualisierung‘ Shakespeares für die Verhandlung gegenwärtiger Themen verstehen. Anstatt zu fragen, was Shakespeare uns ‚heute‘ noch zu sagen hat, rückt Noltes Shakespeares Sprache selbst in den Blick, und bietet somit ihrer Schönheit, spielerischen Elastizität und wortschöpferischen Kraft eine Bühne.
Nolte arbeitet mit und gegen das Material, begibt sich bewusst in den Zwischenraum der Sprachen, gleichermaßen abständig vom Englischen wie vom Deutschen. In dieser translation zone entsteht ein windschiefer, zauberhafter Sprachzustand, erfährt der Text eine neue Luftigkeit und Leichtigkeit – in Anlehnung an den „luftigen Geist“ Ariel möchte man fast sagen: eine Arielisierung. Noltes Übersetzung verwandelt die eigentümliche „strangeness“ des Stücks nicht wie der berühmteste deutsche Shakespeare-Übersetzer August Wilhelm Schlegel in etwas romantisch „Wunderbares“, sondern insistiert auf dem Befremden, oder wie es bei Nolte heißt, auf deren „Seltsamkeit“. Shakespeares Englisch scheint in diesem Phantasiedeutsch nicht nur gelegentlich durch, es stürmt einem von Anfang an blitzend und donnernd entgegen. Ähnlich den auf der Insel Gestrandeten bedarf es einer kurzen Phase der Orientierung, um sich in diesem broken shakespearisch zurecht zu finden, doch es dauert nicht lange, um dessen Charme zu verfallen. So etwa gleich zu Anfang in Gonzalos Beschreibung des Bootsmanns:
Ich habe großen Trost von diesem Kerl: michdenkt er hat kein
Ertrinken-Anzeichen über sich; sein Teint ist völlig Galgen. Steh schnell,
gute Fügung, zu seinem Hängen; mach den Strick von seinem Schicksal
unser Tau, für unser eigenes tut wenig Vorteil. Falls er sei nicht geboren zu sein
hängend, unser Fall ist elend.
Jenseits herkömmlicher syntaktischer Ordnung fügen sich die Wörter neu, werden die Sätze neu vertaut, gehen intrikate Verknüpfungen und Verstrickungen ein. Mit einer traumwandlerischen Sicherheit schwingt sich die Übersetzung dabei von Wendung zu Wendung, ist extrem genau und extrem verfehlt zugleich. Für die Handlung des Stücks, wie auch die Übersetzung gilt: So synkopiert, gebrochen und schwankend es zugeht, am Ende findet sich doch eine „gute Fügung“ und die Liebenden zusammen, verkehrt sich vermeintlicher Unfug doch noch in Sinn. Noltes Übersetzung verstärkt damit das Tragi-komische des Stücks, das Klamaukhafte, Besoffene und Wunderkabinettmäßige, die Absurdität und den Surrealismus der Handlung.
In einem Stück, in dem die Unterscheidung zwischen „Kunst“ (art) und „üblem Spiel“ (foul play) nie ganz klar ist, die Ebenen und Sphären sich ständig vermischen, tut auch die Übersetzung gut daran, sich dieser messiness nicht zu verwehren. Nolte übersetzt daher grundsätzlich ins Unreine, um einen Begriff der Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf zu gebrauchen. Sein Verfahren zielt auf eine ästhetisch hochinteressante Mischung der Sprachen, auf die „Lust, das fremde Material in der Zielsprache poetisch wirksam werden zu lassen, wie ein sanftes Gift/gift.“[2] Jenseits der Treue zum Original steht hier die willentliche Störung, die Sichtbarmachung der Übersetzung als solche im Vordergrund. Übersetzen als respektlose Praxis, die insbesondere an die Grenzen der eigenen Sprache führt und dabei „[h]öchste Gewissenhaftigkeit mit größter Brutalität“ verbindet.[3]
Dabei entsteht eine eigentümliche Klanglichkeit, ein anderer so noch nie gehörter Shakespeare. Der unerhörte sound ist der eigentliche Clou von Noltes Übertragung und von entscheidender Bedeutung für ein Stück, das von akustischen Elementen durchzogen ist: angefangen mit dem „tempestous noise“ in der ersten Szene, der von Prospero erzählten Vorgeschichte, die gar „Taubheit“ zu heilen vermag, den sprechenden Wogen und singenden Winden sowie den nahezu himmlischen Liedern des Luftgeistes Ariel. Dabei schwankt die Akustik der Insel sowie das sound-design des Stücks immer wieder zwischen Lärm und süßestem Klang.
Wo sollte diese Musik sein? i' de' Luft oder der 'rde?
Es klingt nicht mehr: und, sicher, es wartet auf
Irgend Gott vo' de' Insel. Sitzend auf einer Bank,
Weinend wieder des Königs meines Vaters Wrack,
Diese Musik kroch mich an von den Wassern,
Lindernd beides ihre Wut und meine Leidenschaft
Mit ihrer süßen Arie: daher ich habe g'folgt ihr,
Oder sie hat gezogen mich eher. Aber 'sist fort.
Noltes Übersetzung löst diese konstitutive Gleichzeitigkeit von Lärm und Klang nicht in Wohltemperiertheit auf, sondern macht sie zum übersetzerischen Prinzip. Insbesondere Ariels Lieder, diese „feierliche und seltsame Musik“, erhalten eine neue, fast dissonante Qualität:
Volle Fäden fünf dein Vater liegt;
Aus seinen Knochen sind Korallen gemacht;
Dies sind Perlen die waren seine Augen:
Nichts von ihm tut schwinden,
Aber tut erleiden eine Meer-Änderung
Zu etwas Reichem und Seltsamen.
Meer-Nymphen stündlich schlagen seine Totenglocke:
(Chor) Ding-Dong.
Horche! jetzt und höre dann, – Ding-Dong, Glocke.
Nichts bleibt bestehen im unaufhörlichen Spiel der Gezeiten, dem Wandeln der Zeiten – dieses Gesetz der „Meer-Änderung“ gilt auch und vor allem für Übersetzungen. Jede Übertragung, so getreu oder verräterisch sie sich auch geben mag, ist Anverwandlung und damit Entstellung und Umschrift zugleich. Noltes Shakespeare macht dies auf eindrucksvolle Weise sichtbar: er verwandelt und versteckt die „Seltsamkeiten“ des Originals nicht unter dem Schleier von Bedeutsamkeit und Wohlklang, er lässt sie vielmehr als solche hervortreten, eröffnet einen unbekannten Raum zwischen den Sprachen. Nolte verfährt dabei, dem wendigen Luftgeist Ariel nicht unähnlich, trickreich, spielerisch und gewandt zugleich. Die gelben Strände der Shakespearschen Insel, ihre Zaubereien und happy ends erstrahlen dabei in einem neuen Licht, gemäß Ariels Weisung: „es füßelt anmutig hier und da“.
Wolfgang Hottner, geb. 1987, ist Associate Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bergen. Er studierte Germanistik, Komparatistik, Kunstgeschichte und Philosophie in München, Berkeley und Yale, und arbeitete von 2017 bis 2022 am Peter-Szondi-Institut an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Ästhetik und der Wissensgeschichte, Übersetzungstheorie sowie Literaturtheorie.
Dieser Essay ist ein Originalbeitrag für das Programmheft der Bregenzer Festspiele.
[1]) Eleanor Marx-Aveling, „Translator’s Introduction“, in: Madame Bovary: Provincial Manners, London 1892, vii-xxii, hier: xxi-xxii: „There are three possible methods of translation. The first is that of the genius, who literally re-creates a work in his own language. Schlegel has done this for Shakespeare, Baudelaire for Edgar Poe. But there are few geniuses in the world, and those we have do not, for the most part, devote themselves to the thankless task of translating. Next, there is the hack translator, who, armed with dictionary, rushes in where his betters fear to tread. He it is who has earned for the translator the epithet of tradittore, and his work is but too often a perversion, not a rendering. Finally, there is the conscientious worker. He cannot if he would belong to the first category of translators. He would not if he could belong to the second. He can but strive to do his best; to be honest, earnest. To this last category I claim to belong.”
[2]) Uljana Wolf, Etymologischer Gossip. Essays und Reden, Berlin 2021, S. 18.
[3]) Walter Benjamin, „Notizen zur Übersetzung“, in: Ders., Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VII: Tabelaux Parisiens, hg. v. Antonia Birnbaum und Michael Métayer, Berlin 2017, S. 192-194, S. 192.

Jakob Noltes Zugriff auf Der Sturm ist eine spezielle Neu-Übersetzung, die sich Wort für Wort durchs altenglische Original hangelt. Es entsteht eine Phantasiesprache, die sich über Melodie und Klang entschlüsselt und so bezaubernd seltsam ist wie die Bewohnerinnen und Bewohner von Shakespeares Insel. Hier finden Sie Jakob Noltes Übersetzung von The Tempest als zweisprachiges Text-Dokument: