
Artenschutz für Autor:innen?
Eine zoologische Betrachtung
Text: John von Düffel
Text: John von Düffel

"Lange Nacht der Autor:innen"; © Arno Declair
Die einen sagen, es handle sich um eine bedrohte Spezies, die in freier Wildbahn kaum überleben könne. Die anderen sagen, es würden viel zu viele von ihnen gehegt, gepflegt, gefördert. Und wieder andere sagen sie ganz einfach tot, um sie dann wieder überraschend hochleben zu lassen, wenn ein einzelnes Exemplar aus der Versenkung auftaucht und im Licht der Öffentlichkeit steht. Die Rede ist von Theaterautor:innen, um deren Tun und Treiben sich viele Mythen ranken und deren Bedeutung in den Feuilletons saisonal schwankt.
Als gesichert gilt: Es gibt sie. Das lässt sich an den Katalogen der Theaterverlage ablesen, die Spielzeit für Spielzeit mit „noch zur Uraufführung freien“ Texten locken und zugleich die zahlreichen Autor:innen ihres Programms präsentieren, die landauf, landab gespielt, gesehen und gesichtet werden. Mitunter sogar leibhaftig! Dann wird am Premierenabend neben dem applauserprobten Regieteam noch eine lichtscheue Gestalt auf die Bühne komplimentiert, um sich allein zu verbeugen und schnellstmöglich wieder im Getümmel des Ensembles zu verschwinden. „Da, das war sie“, murmelt man im Parkett, „hast du sie gesehen, die Autorin? Ich hatte sie mir völlig anders vorgestellt …“ Zu späterer Stunde, bei der Premierenfeier, sieht man sie wieder mit einem dreiviertelleeren Glas Sekt, meist flankiert von einer Verlegerin oder Lektorin und dennoch schutzlos den gelegentlichen Komplimenten, Nachfragen und Einwänden preisgegeben. Diese Semi-Einsamkeit ist ein besonderes Merkmal ihrer Spezies. Die Autorin ist nicht Teil des Publikums und doch Zuschauerin, nicht Teil des Theaterbetriebs und doch durch ihren Text in höchstem Maß beteiligt: eine Art Amphibium zwischen den Welten und in keiner so richtig heimisch, eine Spezies der Unverwandtheit.
Die Pandemie hätte sie eigentlich vernichten müssen, die Theaterautor:innen der Gegenwart, wie so viele andere Solokünstler ohne festes Beschäftigungsverhältnis und Kurzarbeitergeld. Keine Aufführungen, keine Tantiemen. Eine Theaterautorin, die nicht gespielt wird, hat kein Einkommen. Sie steht als Urheberin des Textes ganz am Anfang der Wertschöpfungskette und in der Nahrungskette der Einnahmen ganz am Ende. Dennoch hat Corona keineswegs zu einem Kahlschlag in der Gegenwartsdramatik geführt. Die Theaterautor:innen sind nicht ausgestorben, im Gegenteil, sie haben sich sogar vermehrt!
Das beweist die Vielzahl der Einsendungen bei den Stückewettbewerben, allen voran bei dem größten EntdeckerFestival der Gegenwartsdramatik, den Autor:innentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin. Wäschekörbe voller noch ungespielter Stücke gehörten für die wechselnden Juror:innen und Jurys zur Tradition der Autor:innentheatertage, die Intendant Ulrich Khuon 1994/95 am Schauspiel Hannover gegründet, ab 2000 am Thalia Theater Hamburg weiterentwickelt und seit 2009 am Deutschen Theater Berlin etabliert hat. Gerade in den Corona-Jahren kam zu den Wäschekörben neuer Stücke mindestens ein weiterer dazu. Das lag sicher nicht zuletzt daran, dass die Theaterfantasie während des Kulturlockdowns keine andere Bühne hatte als das weiße Blatt Papier — plus reichlich Isolationszeit zum Schreiben. Doch darüber hinaus zeigt es auch die unauslöschliche Sehnsucht nach dem lebendigen Wort und der Leibhaftigkeit des Theatererlebnisses, nach dem Spiel auf der Bühne vor einem Publikum, das lacht, weint, mitatmet oder hustet.
Dieses kontrapandemische Lebenszeichen des Ausdruckswillens und der Dringlichkeit von Gegenwartsdramatik ist keineswegs selbstverständlich, wenn man sich anschaut, wie sich die Situation der Theaterautor:innen in den fast dreißig Jahren des Bestehens der Autor:innentheatertage verändert hat. Im Jahr eins der ATT am Schauspiel Hannover, als in einem der Wäschekörbe für den Erstjuror Robin Detje auch ein Manuskript von mir vergraben lag, war die Schreibsituation vielleicht nicht weniger prekär, aber vergleichsweise überschaubar. Ein neuer Theatertext musste sich einerseits gegen die Klassiker des dramatischen Kanons behaupten (Goethe, Schiller, Shakespeare), andererseits gegen die etablierten Autor:innen der Gegenwart (Jelinek, Handke, Müller). Doch obwohl die Messlatte literarisch hoch hing, war damals unbestritten, dass es neue Stücke, neue Stimmen brauchte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dem scheuen Autor:innentier die Existenzberechtigung abzusprechen.
Seither hat der Text im Theater einiges an Autorität eingebüßt. Die Autor:innen von heute sind längst nicht mehr die alleinigen Sprachgeber und Spurenleger für eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Links und rechts des „neuen Stückes“ sind alternative Formen entstanden: Romanbearbeitungen, Filmadaptionen, Rechercheprojekte, Stückentwicklungen von Ensembles, dokumentarische Formate u. v. a. Die Legitimität eines Textes, sein Uraufführungsanspruch, muss sich also nicht nur gegen die ewigen Dramen des Kanons und die vielgespielten Zeitgenoss:innen durchsetzen (Reza, Pollesch und nach wie vor Jelinek), sondern gegen ein ganzes Spektrum von Formaten ohne alleinige Urheberin.
Immer noch und immer mal wieder sind Unkenrufe zu hören, diese autor:innenlosen Formate würden den Fortbestand der schreibenden Spezies gefährden. Doch dem Verdrängungswettbewerb zum Trotz lebt das Autor:innenstück neben der Romanbearbeitung und dem Dokumentartheater in verblüffend friedlicher Koexistenz. Bedrohlicher ist die intrinsische Frage, was Gegenwartsdramatik überhaupt noch sein kann nach der vielbeschworenen „postdramatischen Wende“. Sind wir nicht längst über Figuren, Situationen, Szenen- und Aktstrukturen hinaus? Der Siegeszug der sogenannten Textfläche zieht den genuinen Theatertext als solchen in Zweifel: Wozu noch Theaterautor:innen, wenn heutzutage alles geht und jeder Text vertheatert werden kann?
Hinzu kommt die Grundsatzkritik an der als „repräsentativ“ inkriminierten Darstellungsform von Stücken: Die performative Abkehr von der Figur suggeriert, dass die Spieler:innen nur wirklich präsent bzw. gegenwärtig sind, wenn sie eben nicht jemand anderes repräsentieren, sondern hier und jetzt agieren in der unmittelbaren Live-Situation mit einem ko-präsenten Publikum, ohne vorgegebene Rollen und vorgeschriebene Texte. Drama wäre demnach keine Gegenwart, sondern von gestern.
Wie gegenwärtig und dramatisch ist also die Gegenwartsdramatik? Auf diese theoretische Frage gibt es nur eine praktische Antwort. Gegenwartsdramatik existiert nicht als klar definierte Gattung und erst recht nicht als Selbstverständlichkeit. Ihre Formen sind fluid und in ständiger Veränderung, ihre Inhalte unvorhersagbar. Es gibt sie nur durch die Autor:innen, die sie schreiben und im Schreiben neu erfinden — aus einer Vielzahl von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Jeder Text muss sich durch sich selbst legitimieren, das war in gewisser Weise schon immer so. Doch noch nie konnten sich die Theaterautor:innen auf so wenig berufen, noch nie war ihren Texten so wenig Kontext und Rahmen gegeben wie heute. Das kann man beklagen oder als Freiheit propagieren, aber es ist die deutlichste Veränderung von den Anfängen der ATT bis zur letzten Langen Nacht der Autor:innen am Deutschen Theater, die als Kontexterlebnis und Zusammenschau umso wichtiger ist in einer Zeit, in der jedes Stück als Einzelstück auf sich allein gestellt ist.
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JOHN VON DÜFFEL, Autor und Dramaturg, wurde auf den ersten Autorentheatertagen am Schauspiel Hannover 1995 mit dem „Schlechtesten Theaterstück der Welt“ ausgewählt und hat seit dem Jahr 2000 die Autor:innentheatertage am Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Theater Berlin dramaturgisch mitbegleitet. Er lehrt als Professor für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin
Dieser Text ist ein Originalbeitrag für das Magazin zum Finale, SZ-Beilage vom 12. Mai 2023
Als gesichert gilt: Es gibt sie. Das lässt sich an den Katalogen der Theaterverlage ablesen, die Spielzeit für Spielzeit mit „noch zur Uraufführung freien“ Texten locken und zugleich die zahlreichen Autor:innen ihres Programms präsentieren, die landauf, landab gespielt, gesehen und gesichtet werden. Mitunter sogar leibhaftig! Dann wird am Premierenabend neben dem applauserprobten Regieteam noch eine lichtscheue Gestalt auf die Bühne komplimentiert, um sich allein zu verbeugen und schnellstmöglich wieder im Getümmel des Ensembles zu verschwinden. „Da, das war sie“, murmelt man im Parkett, „hast du sie gesehen, die Autorin? Ich hatte sie mir völlig anders vorgestellt …“ Zu späterer Stunde, bei der Premierenfeier, sieht man sie wieder mit einem dreiviertelleeren Glas Sekt, meist flankiert von einer Verlegerin oder Lektorin und dennoch schutzlos den gelegentlichen Komplimenten, Nachfragen und Einwänden preisgegeben. Diese Semi-Einsamkeit ist ein besonderes Merkmal ihrer Spezies. Die Autorin ist nicht Teil des Publikums und doch Zuschauerin, nicht Teil des Theaterbetriebs und doch durch ihren Text in höchstem Maß beteiligt: eine Art Amphibium zwischen den Welten und in keiner so richtig heimisch, eine Spezies der Unverwandtheit.
Die Pandemie hätte sie eigentlich vernichten müssen, die Theaterautor:innen der Gegenwart, wie so viele andere Solokünstler ohne festes Beschäftigungsverhältnis und Kurzarbeitergeld. Keine Aufführungen, keine Tantiemen. Eine Theaterautorin, die nicht gespielt wird, hat kein Einkommen. Sie steht als Urheberin des Textes ganz am Anfang der Wertschöpfungskette und in der Nahrungskette der Einnahmen ganz am Ende. Dennoch hat Corona keineswegs zu einem Kahlschlag in der Gegenwartsdramatik geführt. Die Theaterautor:innen sind nicht ausgestorben, im Gegenteil, sie haben sich sogar vermehrt!
Das beweist die Vielzahl der Einsendungen bei den Stückewettbewerben, allen voran bei dem größten EntdeckerFestival der Gegenwartsdramatik, den Autor:innentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin. Wäschekörbe voller noch ungespielter Stücke gehörten für die wechselnden Juror:innen und Jurys zur Tradition der Autor:innentheatertage, die Intendant Ulrich Khuon 1994/95 am Schauspiel Hannover gegründet, ab 2000 am Thalia Theater Hamburg weiterentwickelt und seit 2009 am Deutschen Theater Berlin etabliert hat. Gerade in den Corona-Jahren kam zu den Wäschekörben neuer Stücke mindestens ein weiterer dazu. Das lag sicher nicht zuletzt daran, dass die Theaterfantasie während des Kulturlockdowns keine andere Bühne hatte als das weiße Blatt Papier — plus reichlich Isolationszeit zum Schreiben. Doch darüber hinaus zeigt es auch die unauslöschliche Sehnsucht nach dem lebendigen Wort und der Leibhaftigkeit des Theatererlebnisses, nach dem Spiel auf der Bühne vor einem Publikum, das lacht, weint, mitatmet oder hustet.
Dieses kontrapandemische Lebenszeichen des Ausdruckswillens und der Dringlichkeit von Gegenwartsdramatik ist keineswegs selbstverständlich, wenn man sich anschaut, wie sich die Situation der Theaterautor:innen in den fast dreißig Jahren des Bestehens der Autor:innentheatertage verändert hat. Im Jahr eins der ATT am Schauspiel Hannover, als in einem der Wäschekörbe für den Erstjuror Robin Detje auch ein Manuskript von mir vergraben lag, war die Schreibsituation vielleicht nicht weniger prekär, aber vergleichsweise überschaubar. Ein neuer Theatertext musste sich einerseits gegen die Klassiker des dramatischen Kanons behaupten (Goethe, Schiller, Shakespeare), andererseits gegen die etablierten Autor:innen der Gegenwart (Jelinek, Handke, Müller). Doch obwohl die Messlatte literarisch hoch hing, war damals unbestritten, dass es neue Stücke, neue Stimmen brauchte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dem scheuen Autor:innentier die Existenzberechtigung abzusprechen.
Seither hat der Text im Theater einiges an Autorität eingebüßt. Die Autor:innen von heute sind längst nicht mehr die alleinigen Sprachgeber und Spurenleger für eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Links und rechts des „neuen Stückes“ sind alternative Formen entstanden: Romanbearbeitungen, Filmadaptionen, Rechercheprojekte, Stückentwicklungen von Ensembles, dokumentarische Formate u. v. a. Die Legitimität eines Textes, sein Uraufführungsanspruch, muss sich also nicht nur gegen die ewigen Dramen des Kanons und die vielgespielten Zeitgenoss:innen durchsetzen (Reza, Pollesch und nach wie vor Jelinek), sondern gegen ein ganzes Spektrum von Formaten ohne alleinige Urheberin.
Immer noch und immer mal wieder sind Unkenrufe zu hören, diese autor:innenlosen Formate würden den Fortbestand der schreibenden Spezies gefährden. Doch dem Verdrängungswettbewerb zum Trotz lebt das Autor:innenstück neben der Romanbearbeitung und dem Dokumentartheater in verblüffend friedlicher Koexistenz. Bedrohlicher ist die intrinsische Frage, was Gegenwartsdramatik überhaupt noch sein kann nach der vielbeschworenen „postdramatischen Wende“. Sind wir nicht längst über Figuren, Situationen, Szenen- und Aktstrukturen hinaus? Der Siegeszug der sogenannten Textfläche zieht den genuinen Theatertext als solchen in Zweifel: Wozu noch Theaterautor:innen, wenn heutzutage alles geht und jeder Text vertheatert werden kann?
Hinzu kommt die Grundsatzkritik an der als „repräsentativ“ inkriminierten Darstellungsform von Stücken: Die performative Abkehr von der Figur suggeriert, dass die Spieler:innen nur wirklich präsent bzw. gegenwärtig sind, wenn sie eben nicht jemand anderes repräsentieren, sondern hier und jetzt agieren in der unmittelbaren Live-Situation mit einem ko-präsenten Publikum, ohne vorgegebene Rollen und vorgeschriebene Texte. Drama wäre demnach keine Gegenwart, sondern von gestern.
Wie gegenwärtig und dramatisch ist also die Gegenwartsdramatik? Auf diese theoretische Frage gibt es nur eine praktische Antwort. Gegenwartsdramatik existiert nicht als klar definierte Gattung und erst recht nicht als Selbstverständlichkeit. Ihre Formen sind fluid und in ständiger Veränderung, ihre Inhalte unvorhersagbar. Es gibt sie nur durch die Autor:innen, die sie schreiben und im Schreiben neu erfinden — aus einer Vielzahl von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Jeder Text muss sich durch sich selbst legitimieren, das war in gewisser Weise schon immer so. Doch noch nie konnten sich die Theaterautor:innen auf so wenig berufen, noch nie war ihren Texten so wenig Kontext und Rahmen gegeben wie heute. Das kann man beklagen oder als Freiheit propagieren, aber es ist die deutlichste Veränderung von den Anfängen der ATT bis zur letzten Langen Nacht der Autor:innen am Deutschen Theater, die als Kontexterlebnis und Zusammenschau umso wichtiger ist in einer Zeit, in der jedes Stück als Einzelstück auf sich allein gestellt ist.
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JOHN VON DÜFFEL, Autor und Dramaturg, wurde auf den ersten Autorentheatertagen am Schauspiel Hannover 1995 mit dem „Schlechtesten Theaterstück der Welt“ ausgewählt und hat seit dem Jahr 2000 die Autor:innentheatertage am Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Theater Berlin dramaturgisch mitbegleitet. Er lehrt als Professor für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin
Dieser Text ist ein Originalbeitrag für das Magazin zum Finale, SZ-Beilage vom 12. Mai 2023