

Miroloi
Videointerview mit Liesbeth Coltof
Wir haben mit der Regisseurin Liesbeth Coltof über ihr Interesse am Roman, über die Probenarbeit mit dem großen Ensemble und über das besondere Bühnenbild gesprochen.
Miroloi
Videointerview mit den Spieler:innen
Die Spieler:innen Narin Dogan, Flo Rieder, Anna Suzuki und Ilja van Urk erzählen, was das Stück mit ihnen zu tun hat.

Lernt, Euch außerhalb der Strukturen zu denken!
Ein Gespräch mit Karen Köhler und Liesbeth Coltof
Wenn du spontan einen neuen Klappentext für Miroloi schreiben müsstest, kurz und knapp: Worum geht es in deinem Roman, Karen?
Karen Köhler: Miroloi ist eine Parabel, in der patriarchale Strukturen auf einer Insel vorgeführt werden. Durch die Hauptfigur Alina, die als Findelkind ohne Herkunft ist und somit auch außerhalb der Gesellschaft steht, wird dieses rigide System erschüttert. Es ist die Ermächtigungsgeschichte von jemandem, der aufgrund seines Andersseins nicht an der Macht partizipieren kann, aber auch zu anderen Erkenntnissen fähig ist.
Wie kam diese Geschichte und diese fremde Welt zu dir? Du hast mal von einer Stimme gesprochen, die wie ein Störsender plötzlich da war.
Karen Köhler: Am Titel kann man den geografischen Bezug erkennen: Miroloi ist das griechische Wort für Totenlied. Für das Buch habe ich viel in Griechenland recherchiert und den größten Teil auf einer Insel geschrieben. Miroloi ist auch zeitlich genau verortet, es spielt im Jahr 1982. Das ist das Jahr, an dem der Strom auf diese Insel kam. Viele Szenen, z.B. die des Händlers, der Waren auf die Insel bringt, basieren auf wahren Geschichten. Ich habe mit 90-jährigen Frauen Interviews geführt, die einen Kilometer vom Meer entfernt lebten, aber nicht schwimmen konnten, das Dorf ihr ganzes Leben nicht verlassen haben. Das fand ich krass, wie klein der Radius eines Lebens sein kann. Wie aber in diesem Kreis auch eine ganze Welt liegt. Der Initiationsmoment war in einem Bergdorf: In einer Kurve saßen auf weißen Plastikstühlen drei alte Frauen in schwarz und haben mich mit einem Blick angesehen, der ganz klar machte: Du gehörst nicht hierher. Du bist keine von uns und wirst es nie sein. Alina singt ihr Miroloi, während sie von der Insel fortschwimmt und erinnert sich an diesen ersten Moment des Widerstands: Sie hält den Blicken der alten Frauen stand, schaut zurück.
Da fällt auch mein Lieblingssatz: „In mir drinnen ist alles möglich.“ Eine besondere Qualität des Romans ist diese Verbindung von Politik und Poesie, für ein gesellschaftspolitisches Anliegen eine eigenwillige literarische Form und Sprache zu finden.
Liesbeth Coltof: Mich hat tatsächlich die Sprache sehr angesprochen, die eben nicht prosaisch ist, sondern sehr beweglich. An das Thema konnte ich durch meine Arbeiten in Iran und Gaza anknüpfen, wo ich vielen starken Frauen begegnet bin, die im öffentlichen Raum wenig zu sagen hatten. Mir hat auch die Hauptfigur gefallen, es ist wichtig, dass sie einem nahekommt und man sie ins Herz schließt. Eigentlich fand ich alle Figuren sehr plastisch und zugänglich. Deshalb war mir klar, dass es möglich ist, sie auch auf die Bühne zu bringen.
Karen Köhler: Wenn ich arbeite, entwerfe ich eine Landschaft und fülle sie mit Leben. Beim Schreiben habe ich mir kleine Knetfiguren gebastelt, hab den Grundriss der Insel aufgezeichnet und die Figuren an ihre Orte gestellt. Ich habe Porträts gemalt und Stammbäume. Wer steht zu wem in welchem Verhältnis. Die Geschichte umfasst genau einen Jahreszyklus, deshalb habe ich Kalender angelegt: Wann sind die Vollmonde, wann wird gesät und geerntet, wann sind die Feste, und wann wird Alina schwanger. Der Schreibprozess ist ein Raus- und ein Reinzoomen: zunächst gewinnt man durch diese fremde Welt einen Abstand zur eigenen Alltagsrealität und dann muss man sie sich möglichst genau aneignen. Das fertige Buch ist nur die Spitze eines Eisbergs und ein ganzer Kosmos liegt darunter, schimmert zwischen den Worten durch. Die Erzählung ist dann wie eine Kamerafahrt durch diese Welt mit Alinas Augen.
Karen beschreibt Miroloi als Parabel, also eine Geschichte, die über sich hinausweist und Allgemeingültigkeit besitzt. Wie gelingt das im Theater, wie vermeidet man den „Zoo-Blick“ auf „die anderen“, Liesbeth?
Liesbeth Coltof: Auch bei uns, wenn auch nicht immer so deutlich, ist die darunter liegende patriarchale Struktur noch immer da. Sie ist nicht überwunden, wir sehen sie nur nicht mehr, weil wir sie verinnerlicht haben. Die Fabel ist ein Spiegel, in den man hineinschaut, erschrickt und denkt, das hat auch etwas mit mir zu tun. Unsere Inszenierung leistet das vielleicht dadurch, dass nicht eine Person erzählt, sondern dass alle Mädchen auch Alina sind. Es geht nicht um ein Einzelschicksal, sondern es ist die Geschichte vieler. Der Roman beschreibt eine sehr geschlossene Gesellschaft. Uns war sofort klar, dass wir keine homogene, weiße Gruppe auf der Bühne zeigen wollten, sondern eine möglichst diverse Besetzung in Bezug auf Alter, Geschlecht und Herkunft. Ich arbeite prinzipiell nicht mehr mit einem rein weißen Ensemble. Für mich ist wichtig, dass das am Theater normal wird. So normal wie die Vielfalt hier in Berlin. Berlin ist nicht weiß. Wir leben in einer diversen Welt und die muss auch sichtbar werden im Theater.
Karen Köhler: Ich habe 2015 angefangen zu schreiben, das war die Zeit zwischen #aufschrei und #metoo. Das Ausmaß von sexueller, alltäglicher Gewalt gegen Frauen, das dabei ans Licht kam, war unfassbar. In Nachbarländern wurden Gesetze gegen Abtreibung verschärft und Sexualerziehung verboten, hier Überraschungseier gegendert und lange Nägel waren angesagt, mit denen man nichts mehr anfassen konnte. Ich habe mich gefragt, wo kommt der Backlash her, wir waren doch schon mal ganz woanders. Ich lese Sexismus, genauso wie auch Rassismus, als Struktur. Und diese Struktur lässt sich nur gemeinsam von Frauen und Männern verändern. Im Roman geben die anderen Frauen Alina zu verstehen: Wir herrschen durch unsere Männer. Das wirst du nie können, denn du darfst nicht heiraten. Deshalb ist Alinas Schritt auch einer aus der Gesellschaft heraus. Sie kommt an den Punkt: burn it all down. Dieses System kann und wird sich von innen heraus nicht verändern, weil es selbst von Menschen geschützt wird, die von ihm unterdrückt werden. Das Feuer am Ende ist das große Zeichen: Lernt, euch außerhalb der Struktur zu denken!
Die Fragen stellte Birgit Lengers
Karen Köhler: Miroloi ist eine Parabel, in der patriarchale Strukturen auf einer Insel vorgeführt werden. Durch die Hauptfigur Alina, die als Findelkind ohne Herkunft ist und somit auch außerhalb der Gesellschaft steht, wird dieses rigide System erschüttert. Es ist die Ermächtigungsgeschichte von jemandem, der aufgrund seines Andersseins nicht an der Macht partizipieren kann, aber auch zu anderen Erkenntnissen fähig ist.
Wie kam diese Geschichte und diese fremde Welt zu dir? Du hast mal von einer Stimme gesprochen, die wie ein Störsender plötzlich da war.
Karen Köhler: Am Titel kann man den geografischen Bezug erkennen: Miroloi ist das griechische Wort für Totenlied. Für das Buch habe ich viel in Griechenland recherchiert und den größten Teil auf einer Insel geschrieben. Miroloi ist auch zeitlich genau verortet, es spielt im Jahr 1982. Das ist das Jahr, an dem der Strom auf diese Insel kam. Viele Szenen, z.B. die des Händlers, der Waren auf die Insel bringt, basieren auf wahren Geschichten. Ich habe mit 90-jährigen Frauen Interviews geführt, die einen Kilometer vom Meer entfernt lebten, aber nicht schwimmen konnten, das Dorf ihr ganzes Leben nicht verlassen haben. Das fand ich krass, wie klein der Radius eines Lebens sein kann. Wie aber in diesem Kreis auch eine ganze Welt liegt. Der Initiationsmoment war in einem Bergdorf: In einer Kurve saßen auf weißen Plastikstühlen drei alte Frauen in schwarz und haben mich mit einem Blick angesehen, der ganz klar machte: Du gehörst nicht hierher. Du bist keine von uns und wirst es nie sein. Alina singt ihr Miroloi, während sie von der Insel fortschwimmt und erinnert sich an diesen ersten Moment des Widerstands: Sie hält den Blicken der alten Frauen stand, schaut zurück.
Da fällt auch mein Lieblingssatz: „In mir drinnen ist alles möglich.“ Eine besondere Qualität des Romans ist diese Verbindung von Politik und Poesie, für ein gesellschaftspolitisches Anliegen eine eigenwillige literarische Form und Sprache zu finden.
Liesbeth Coltof: Mich hat tatsächlich die Sprache sehr angesprochen, die eben nicht prosaisch ist, sondern sehr beweglich. An das Thema konnte ich durch meine Arbeiten in Iran und Gaza anknüpfen, wo ich vielen starken Frauen begegnet bin, die im öffentlichen Raum wenig zu sagen hatten. Mir hat auch die Hauptfigur gefallen, es ist wichtig, dass sie einem nahekommt und man sie ins Herz schließt. Eigentlich fand ich alle Figuren sehr plastisch und zugänglich. Deshalb war mir klar, dass es möglich ist, sie auch auf die Bühne zu bringen.
Karen Köhler: Wenn ich arbeite, entwerfe ich eine Landschaft und fülle sie mit Leben. Beim Schreiben habe ich mir kleine Knetfiguren gebastelt, hab den Grundriss der Insel aufgezeichnet und die Figuren an ihre Orte gestellt. Ich habe Porträts gemalt und Stammbäume. Wer steht zu wem in welchem Verhältnis. Die Geschichte umfasst genau einen Jahreszyklus, deshalb habe ich Kalender angelegt: Wann sind die Vollmonde, wann wird gesät und geerntet, wann sind die Feste, und wann wird Alina schwanger. Der Schreibprozess ist ein Raus- und ein Reinzoomen: zunächst gewinnt man durch diese fremde Welt einen Abstand zur eigenen Alltagsrealität und dann muss man sie sich möglichst genau aneignen. Das fertige Buch ist nur die Spitze eines Eisbergs und ein ganzer Kosmos liegt darunter, schimmert zwischen den Worten durch. Die Erzählung ist dann wie eine Kamerafahrt durch diese Welt mit Alinas Augen.
Karen beschreibt Miroloi als Parabel, also eine Geschichte, die über sich hinausweist und Allgemeingültigkeit besitzt. Wie gelingt das im Theater, wie vermeidet man den „Zoo-Blick“ auf „die anderen“, Liesbeth?
Liesbeth Coltof: Auch bei uns, wenn auch nicht immer so deutlich, ist die darunter liegende patriarchale Struktur noch immer da. Sie ist nicht überwunden, wir sehen sie nur nicht mehr, weil wir sie verinnerlicht haben. Die Fabel ist ein Spiegel, in den man hineinschaut, erschrickt und denkt, das hat auch etwas mit mir zu tun. Unsere Inszenierung leistet das vielleicht dadurch, dass nicht eine Person erzählt, sondern dass alle Mädchen auch Alina sind. Es geht nicht um ein Einzelschicksal, sondern es ist die Geschichte vieler. Der Roman beschreibt eine sehr geschlossene Gesellschaft. Uns war sofort klar, dass wir keine homogene, weiße Gruppe auf der Bühne zeigen wollten, sondern eine möglichst diverse Besetzung in Bezug auf Alter, Geschlecht und Herkunft. Ich arbeite prinzipiell nicht mehr mit einem rein weißen Ensemble. Für mich ist wichtig, dass das am Theater normal wird. So normal wie die Vielfalt hier in Berlin. Berlin ist nicht weiß. Wir leben in einer diversen Welt und die muss auch sichtbar werden im Theater.
Karen Köhler: Ich habe 2015 angefangen zu schreiben, das war die Zeit zwischen #aufschrei und #metoo. Das Ausmaß von sexueller, alltäglicher Gewalt gegen Frauen, das dabei ans Licht kam, war unfassbar. In Nachbarländern wurden Gesetze gegen Abtreibung verschärft und Sexualerziehung verboten, hier Überraschungseier gegendert und lange Nägel waren angesagt, mit denen man nichts mehr anfassen konnte. Ich habe mich gefragt, wo kommt der Backlash her, wir waren doch schon mal ganz woanders. Ich lese Sexismus, genauso wie auch Rassismus, als Struktur. Und diese Struktur lässt sich nur gemeinsam von Frauen und Männern verändern. Im Roman geben die anderen Frauen Alina zu verstehen: Wir herrschen durch unsere Männer. Das wirst du nie können, denn du darfst nicht heiraten. Deshalb ist Alinas Schritt auch einer aus der Gesellschaft heraus. Sie kommt an den Punkt: burn it all down. Dieses System kann und wird sich von innen heraus nicht verändern, weil es selbst von Menschen geschützt wird, die von ihm unterdrückt werden. Das Feuer am Ende ist das große Zeichen: Lernt, euch außerhalb der Struktur zu denken!
Die Fragen stellte Birgit Lengers