



Ein Sprechtheater aus dem Geiste der Musik
von Harry Lehmann
Was auch immer für Motive dazu geführt haben, ein historisches Stück wie Sophokles’ Oedipus an einem Stadttheater aufzuführen – der unausgesprochene Anspruch wird immer sein, dass die gezeigte Inszenierung in die Gegenwart hineinspricht. Die naheliegende Methode, Relevanz herzustellen, besteht darin, die alten Dramen als "Gegenwartsstücke" zu inszenieren: Der König tritt mit blonder Trumpwelle auf, das Orakel von Delphi wird zum Thinktank und zwischendurch hört man, wie Jimi Hendrix auf verzerrter E-Gitarre die amerikanische Nationalhymne spielt.
Auch Ulrich Rasche verfolgt in seinen Inszenierungen eine Vergegenwärtigungsstrategie, aber eine, die zumindest in seinen letzten Arbeiten wie Die Bakchen (2019) und 4.48 Psychose (2020) auf solche Aktualitätsmarker verzichtet. Die Rollen werden nicht über Kostüme definiert, sondern die Schauspieler tragen enganliegende Ganzköperanzüge; das Bühnenbild beschreibt keinen konkreten Raum, sondern wird über eine abstrakte Lichtästhetik hergestellt. Und Requisiten lassen sich sowieso nicht auf jene Drehscheiben und Laufbänder stellen, auf denen die Schauspieler im Schrittmaß ihren Text rezitieren.
Rasches Theater folgt einer abstrakten Ästhetik, in der es keine konkreten Zeichen gibt, über die sich der gesprochene Text historisch verorten und kontextualisieren ließe. Stattdessen wird die Sprache in jedem Wort und in jeder Silbe durch Schritte getaktet und damit, in einem sehr elementaren Sinn, musikalisiert.
Diese Rhythmisierung erfasst nicht nur die Körper der Schauspieler und Sprechchöre, sondern kann sich, wenn die Inszenierung gelingt, auch auf die Zuschauer übertragen – so, als ob ein gemeinsamer Pulsschlag die Rezeption aller Beteiligten synchronisiert. Vom Prinzip her nähert sich dieses Sprechtheater wieder dem Ritus an, aus dem es in dem Jahrhundert, bevor Oedipus von Sophokles geschrieben wurde, im antiken Griechenland entstand. Auch das Rockkonzert, die Sprechchöre im Fußballstadion oder die Party im Technoklub nutzen diesen berauschenden Effekt, wo die Sinne und Körper in eine innere Resonanzschleife geraten und sich die Subjektgrenzen aufzulösen scheinen – nur eben zu einem anderen Zweck.
In Rasches Theater ist es vor allem der gesprochene Text, den man jetzt anders erlebt. Zum einen geben die Laufmaschinen der gesprochenen Sprache ein künstlich dehnbares Zeitmaß vor, wodurch sich jeder menschenmögliche Ausdruck in jede einzelne Silbe legen lässt. Zum anderen nimmt das Publikum zuerst das Metrum der getakteten Worte wahr, das sich auf den eigenen Körper überträgt. Was man dann hört, besitzt eine unmittelbare Evidenz, noch bevor man den Sinn der gesprochenen Sätze versteht. In diesem ästhetischen Wahrnehmungsmodus ist das rationale Urteilsvermögen, mit dem man den Gehalt eines Textes normalerweise akzeptiert oder zurückweist, immer schon ein Stück weit suspendiert. Das Publikum hört also nicht nur die Worte, die Oedipus, der Chor, Jokaste und Teiresias sprechen, sondern sie werden ihm – im Schrittrhythmus – leibhaft präsent. Es ist diese Form von Gegenwärtigkeit, welche Rasches Maschinentheater herzustellen vermag. Der Regisseur schafft eine ekstatische Wahrnehmungssituation, in der Sophokles’ überlieferter Text eine geradezu apriorische Geltung bekommt. Genau genommen interpretiert eine solche Inszenierung auch nicht den Text, sondern stellt ihn in einen künstlichen Erfahrungsraum hinein, in welchem er sich den Rezipienten öffnet und erschließt. Dabei verändert eine solche Inszenierung das Textverstehen selbst und generiert ein potenziertes mitlaufendes Verstehen. Das ästhetische Gewebe aus Worten, Bewegungen, Licht und Musik setzt damit einen emphatischen Sinn frei, der idealerweise auch später noch, aus der Distanz eines kritischen Beobachters, seine Bedeutung behält – ansonsten würde am Ende des Abends nichts als eine leere Überwältigungsästhetik übrigbleiben. Man könnte diese Art von Theater vielleicht am ehesten als immersives Theater bezeichnen, für welches die Immersion, d.h. das "Eintauchen" in das Sprachgeschehen, zu einer unabdingbaren Voraussetzung für das Textverstehen wird.
Ein solcher immersiver Rezeptionsprozess unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was bei direkten Gegenwartsadaptionen stattfindet, denn die Aktualität der Inszenierung wird hier nicht über das Körpergefühl, sondern über das Dechiffrieren kultureller Zeichen hergestellt. Dass solche Aufführungen dem Publikum etwas über seine Lebensumstände erzählen wollen, versteht sich von selbst. Die Frage ist lediglich, ob dieses Spiel mit Gegenwartszeichen tatsächlich auch bis zu den basalen Erfahrungsmustern im Hier und Jetzt reicht.
Ulrich Rasches Theater musikalisiert nicht nur über die Schrittrhythmen den Text, sondern es ist auch auf eine bestimmte Art von Bühnenmusik angewiesen. Wenn in einer Aufführung über mehrere Stunden hinweg ein Schritt auf den anderen folgt, wirkt das früher oder später monoton. Insofern ist es geradezu eine innere Notwendigkeit, dass die mechanischen Sprech- und Bewegungsmuster, die die Maschinen den Schauspielern aufzwingen, musikalisch aufgebrochen werden. Eigentlich bräuchte man für diesen Zweck, wie in der zeitgenössischen Oper, eine elaborierte und entsprechend ausnotierte Kunstmusik. Das aber lassen die finanziellen Ressourcen des Theaterbetriebs kaum zu. Man verfügt hier eben nicht wie ein Opernhaus über ein festes Budget, um über Wochen hinweg Musiker anzustellen und ihnen Probenzeiten zu bezahlen. Zudem kommt in der Oper der Komponist mit einer fertigen Partitur auf die Proben, welche die Inszenierung stark vorstrukturiert, weil hier das Libretto, die Handlungsabläufe, die Rollen der Gesangsstimmen und vieles mehr schon festgelegt sind und sich kaum noch verändern lassen. Ein solches Primat der Musik über die Regie wäre im Theater weder praktikabel noch zu vermitteln. All dies schränkt die Optionen für die Live-Musik in einer Theateraufführung stark ein. Man kann unter Umständen eine Band oder ein kleines Ensemble engagieren, die dann zu dem, was auf der Bühne geschieht, improvisieren. Doch selbst die talentiertesten Musiker sind überfordert, über mehrere Stunden hinweg gegen den immergleichen Takt anzuspielen, den bei Rasche die Schritte der Schauspieler vorgeben. Hierfür bräuchte man viele verschiedene komplexe musikalische Ideen, die passgenau zu den einzelnen Szenen komponiert und dann in der Notenschrift fixiert werden müssten.
Rasches immersives Maschinentheater steht also vor einem Dilemma: Es ist substanziell auf Musik angewiesen, aber mehrere Stunden Musik werden im Sprechtheater selbst wieder zum Problem. Mit den verfügbaren Mitteln der Improvisation wiederholen sich zwangsläufig die musikalischen Muster, irgendwann hört man den E-Bass die immergleichen Läufe spielen. Der Eindruck von Monotonie, der einer gleichmäßig getakteten Sprech- und Bewegungsstruktur innewohnt, wird so nicht überwunden, sondern noch verstärkt. Aus diesem Dilemma hat der Komponist Nico van Wersch in der gemeinsamen Arbeit mit Ulrich Rasche einen Ausweg gefunden, der für das ganze Genre wegweisend sein dürfte.
Wie schon bei Rasches Inszenierung von 4.48 Psychose am Deutschen Theater von 2020 arbeitet der Komponist auch bei dieser Oedipus-Inszenierung mit dem gleichen vierköpfigen Ensemble zusammen, das aus einem E-Bass, einem Keyboard und unterschiedlichem Schlagwerk besteht. Van Wersch kommt nicht mit einer fertigen Partitur, sondern mit einem Notebook auf die Proben, auf dem er für genau diese Instrumente eine Matrix mit hunderten kleinen Samplekompositionen angelegt hat, die sich ohne Musiker mit virtuellen Instrumenten abspielen lassen. Mit diesen Bausteinen kann er nun in Echtzeit – d.h. während der Regisseur mit den Schauspielern probt – zu jeder Szene eine passende Musik komponieren und vom Computer aus einspielen. Manche Vorschläge funktionieren sofort, einige werden vom Regisseur verworfen, andere lassen sich sukzessive verbessern. Auch wenn eine Szene vollkommen umgestellt wird, komponiert van Wersch im Hintergrund mit und kann mit seinen musikalischen Vorschlägen selbst wiederum die Inszenierung beeinflussen.
Erst wenn die Aufführung weitgehend fertiggestellt ist, überträgt van Wersch seine Samplekompositionen in die Notenschrift und beginnt sie mit den Musikern einzustudieren. Und erst in einem noch späteren Stadium steigen die Musiker in den Probenprozess ein und spielen mit den Schauspielern zusammen live auf der Bühne. Was man jetzt hören kann, ist eine Komposition mit Polyrhythmen, mikrotonal gestimmten Instrumenten und erweiterten Spieltechniken der Neuen Musik, wie man sie bislang im Sprechtheater nicht realisieren konnte. Permanent kommt es zu Phasenverschiebungen zwischen den einzelnen Instrumenten, die unabhängig voneinander je eigenen komplizierten Rhythmen folgen, woraus sich unvorhersehbar komplexe rhythmische Pattern bilden.
Musikalisch gesehen war bereits die Aufführung von 4.48 Psychose eine Sensation, denn schon in dieser Arbeit von Rasche und van Wersch vollzieht sich exemplarisch ein Paradigmenwechsel, der unsere gesamte eintausend Jahre währende literale Musikkultur zu erfassen beginnt. Konnten die komplexen Strukturen der Kunstmusik bislang ausschließlich im Medium der Notenschrift komponiert werden, so entsteht jetzt auch für die Kunstmusik ein neues Medium der Komposition: das Medium der Samples.
Van Wersch orientiert sich bei Oedipus nicht am Klangbild der antiken Musik, wie sie im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Tragödienaufführungen gespielt wurde; es kommen also keine antiken Musikinstrumente wie ein Aulos oder eine Kithara zum Einsatz, und es werden auch keine antiken Tonleitern benutzt. Ausschlaggebend ist für van Wersch vielmehr eine inhaltliche Idee, nämlich, dass es sich bei dem Oedipus um ein Klagestück handelt. Aus diesem Grund wurde das Instrumentarium aus 4.48 Psychose auch um ein „Streichquartett“ erweitert, wo eine Violine, zwei Violas und ein Kontrabass aufgeschraubt auf vier kleinen Tischen liegen. Diese unrein gestimmten Streichinstrumente werden von den Musikern nicht im herkömmlichen Sinne gespielt, sondern zweckentfremdet benutzt, um Klangflächen erzeugen zu können. Hinzu kommt, dass das Keyboard mit den Klängen von Synthesizer-Prototypen programmiert wurde, so dass man eine Ondioline und ein mikrotonal gestimmtes Novachord hört. All dies sind Mittel um der Musik in den entscheidenden Momenten einen klagenden Ausdruck geben zu können.
Letztendlich würde eine antikisierende Musik die Idee eines immersiven Sprechtheaters genauso schwächen wie die Verwendung von Popmusik, denn in beiden Fällen wird eine historische Kontextualisierung vorgenommen, die das Subjekt aus der ästhetischen Immersion wegführt und auf etwas anderes verweist. Selbst musikalische Anleihen bei der Minimal Music, die sich aufgrund der Schritttaktung anzubieten scheinen und in einigen Chorpassagen der Bakchen-Inszenierung am Wiener Burgtheater zu hören sind, lassen einen sofort an Nixon in China oder Einstein on the Beach denken – eine Assoziation, die wohl nicht ins Innere von Euripides’ Tragödie führt. Idealerweise wird in solchen Produktionen nicht nur die Bildästhetik, sondern auch die Musik abstrakt bleiben und Fremdreferenzen vermeiden, wie sie sich über Musikinstrumente, Musikstile oder bekannte Musikstücke herstellen lassen.
Ein immersives Sprechtheater, dass alle ihm zur Verfügung stehenden ästhetischen Mittel nutzt, um einen Text dem Publikum so nahe wie möglich zu bringen – bis der Text selbst zu einer körperlich erfahrbaren Realität wird –, wird sich musikalisch am ehesten an der Neuen Musik orientieren. Diese aus der Klassischen Musik entstandene Kunstmusik, die bislang im Medium der Noten komponiert und mit klassischen akustischen Instrumenten aufgeführt wurde, ist an und für sich dem Ideal eines je neuen, unerhörten und unkonventionellen Klanges verpflichtet. In seiner Oedipus-Musik arbeitet Nico van Wersch insbesondere mit den Kompositionsprinzipien von Iannis Xenakis und Harry Partch, die selbst zu den Protagonisten der Neuen Musik gehören. Ausschlaggebend für diese Wahl war sicherlich, dass sich beide Komponisten selbst mit antiker Musik beschäftigt haben, aber dies ist eben kein direkter, sondern ein durch die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts vermittelter Antikenbezug.
Mit ihrer kongenialen Zusammenarbeit in den Bakchen und in 4.48 Psychose ist Ulrich Rasche und Nico van Wersch eine Erneuerung des Sprechtheaters aus dem Geiste der Musik gelungen. Hier öffnet sich der Kunstmusik eine Tür in den Theaterbetrieb, durch die in Zukunft sicherlich auch andere gehen werden.
Harry Lehmann studierte Physik, promovierte 2003 an der Universität Potsdam in Philosophie und ist Autor der Bücher Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (2012) und Gehaltsästhetik. Ein Kunstphilosophie (2016).
Auch Ulrich Rasche verfolgt in seinen Inszenierungen eine Vergegenwärtigungsstrategie, aber eine, die zumindest in seinen letzten Arbeiten wie Die Bakchen (2019) und 4.48 Psychose (2020) auf solche Aktualitätsmarker verzichtet. Die Rollen werden nicht über Kostüme definiert, sondern die Schauspieler tragen enganliegende Ganzköperanzüge; das Bühnenbild beschreibt keinen konkreten Raum, sondern wird über eine abstrakte Lichtästhetik hergestellt. Und Requisiten lassen sich sowieso nicht auf jene Drehscheiben und Laufbänder stellen, auf denen die Schauspieler im Schrittmaß ihren Text rezitieren.
Rasches Theater folgt einer abstrakten Ästhetik, in der es keine konkreten Zeichen gibt, über die sich der gesprochene Text historisch verorten und kontextualisieren ließe. Stattdessen wird die Sprache in jedem Wort und in jeder Silbe durch Schritte getaktet und damit, in einem sehr elementaren Sinn, musikalisiert.
Diese Rhythmisierung erfasst nicht nur die Körper der Schauspieler und Sprechchöre, sondern kann sich, wenn die Inszenierung gelingt, auch auf die Zuschauer übertragen – so, als ob ein gemeinsamer Pulsschlag die Rezeption aller Beteiligten synchronisiert. Vom Prinzip her nähert sich dieses Sprechtheater wieder dem Ritus an, aus dem es in dem Jahrhundert, bevor Oedipus von Sophokles geschrieben wurde, im antiken Griechenland entstand. Auch das Rockkonzert, die Sprechchöre im Fußballstadion oder die Party im Technoklub nutzen diesen berauschenden Effekt, wo die Sinne und Körper in eine innere Resonanzschleife geraten und sich die Subjektgrenzen aufzulösen scheinen – nur eben zu einem anderen Zweck.
In Rasches Theater ist es vor allem der gesprochene Text, den man jetzt anders erlebt. Zum einen geben die Laufmaschinen der gesprochenen Sprache ein künstlich dehnbares Zeitmaß vor, wodurch sich jeder menschenmögliche Ausdruck in jede einzelne Silbe legen lässt. Zum anderen nimmt das Publikum zuerst das Metrum der getakteten Worte wahr, das sich auf den eigenen Körper überträgt. Was man dann hört, besitzt eine unmittelbare Evidenz, noch bevor man den Sinn der gesprochenen Sätze versteht. In diesem ästhetischen Wahrnehmungsmodus ist das rationale Urteilsvermögen, mit dem man den Gehalt eines Textes normalerweise akzeptiert oder zurückweist, immer schon ein Stück weit suspendiert. Das Publikum hört also nicht nur die Worte, die Oedipus, der Chor, Jokaste und Teiresias sprechen, sondern sie werden ihm – im Schrittrhythmus – leibhaft präsent. Es ist diese Form von Gegenwärtigkeit, welche Rasches Maschinentheater herzustellen vermag. Der Regisseur schafft eine ekstatische Wahrnehmungssituation, in der Sophokles’ überlieferter Text eine geradezu apriorische Geltung bekommt. Genau genommen interpretiert eine solche Inszenierung auch nicht den Text, sondern stellt ihn in einen künstlichen Erfahrungsraum hinein, in welchem er sich den Rezipienten öffnet und erschließt. Dabei verändert eine solche Inszenierung das Textverstehen selbst und generiert ein potenziertes mitlaufendes Verstehen. Das ästhetische Gewebe aus Worten, Bewegungen, Licht und Musik setzt damit einen emphatischen Sinn frei, der idealerweise auch später noch, aus der Distanz eines kritischen Beobachters, seine Bedeutung behält – ansonsten würde am Ende des Abends nichts als eine leere Überwältigungsästhetik übrigbleiben. Man könnte diese Art von Theater vielleicht am ehesten als immersives Theater bezeichnen, für welches die Immersion, d.h. das "Eintauchen" in das Sprachgeschehen, zu einer unabdingbaren Voraussetzung für das Textverstehen wird.
Ein solcher immersiver Rezeptionsprozess unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was bei direkten Gegenwartsadaptionen stattfindet, denn die Aktualität der Inszenierung wird hier nicht über das Körpergefühl, sondern über das Dechiffrieren kultureller Zeichen hergestellt. Dass solche Aufführungen dem Publikum etwas über seine Lebensumstände erzählen wollen, versteht sich von selbst. Die Frage ist lediglich, ob dieses Spiel mit Gegenwartszeichen tatsächlich auch bis zu den basalen Erfahrungsmustern im Hier und Jetzt reicht.
Ulrich Rasches Theater musikalisiert nicht nur über die Schrittrhythmen den Text, sondern es ist auch auf eine bestimmte Art von Bühnenmusik angewiesen. Wenn in einer Aufführung über mehrere Stunden hinweg ein Schritt auf den anderen folgt, wirkt das früher oder später monoton. Insofern ist es geradezu eine innere Notwendigkeit, dass die mechanischen Sprech- und Bewegungsmuster, die die Maschinen den Schauspielern aufzwingen, musikalisch aufgebrochen werden. Eigentlich bräuchte man für diesen Zweck, wie in der zeitgenössischen Oper, eine elaborierte und entsprechend ausnotierte Kunstmusik. Das aber lassen die finanziellen Ressourcen des Theaterbetriebs kaum zu. Man verfügt hier eben nicht wie ein Opernhaus über ein festes Budget, um über Wochen hinweg Musiker anzustellen und ihnen Probenzeiten zu bezahlen. Zudem kommt in der Oper der Komponist mit einer fertigen Partitur auf die Proben, welche die Inszenierung stark vorstrukturiert, weil hier das Libretto, die Handlungsabläufe, die Rollen der Gesangsstimmen und vieles mehr schon festgelegt sind und sich kaum noch verändern lassen. Ein solches Primat der Musik über die Regie wäre im Theater weder praktikabel noch zu vermitteln. All dies schränkt die Optionen für die Live-Musik in einer Theateraufführung stark ein. Man kann unter Umständen eine Band oder ein kleines Ensemble engagieren, die dann zu dem, was auf der Bühne geschieht, improvisieren. Doch selbst die talentiertesten Musiker sind überfordert, über mehrere Stunden hinweg gegen den immergleichen Takt anzuspielen, den bei Rasche die Schritte der Schauspieler vorgeben. Hierfür bräuchte man viele verschiedene komplexe musikalische Ideen, die passgenau zu den einzelnen Szenen komponiert und dann in der Notenschrift fixiert werden müssten.
Rasches immersives Maschinentheater steht also vor einem Dilemma: Es ist substanziell auf Musik angewiesen, aber mehrere Stunden Musik werden im Sprechtheater selbst wieder zum Problem. Mit den verfügbaren Mitteln der Improvisation wiederholen sich zwangsläufig die musikalischen Muster, irgendwann hört man den E-Bass die immergleichen Läufe spielen. Der Eindruck von Monotonie, der einer gleichmäßig getakteten Sprech- und Bewegungsstruktur innewohnt, wird so nicht überwunden, sondern noch verstärkt. Aus diesem Dilemma hat der Komponist Nico van Wersch in der gemeinsamen Arbeit mit Ulrich Rasche einen Ausweg gefunden, der für das ganze Genre wegweisend sein dürfte.
Wie schon bei Rasches Inszenierung von 4.48 Psychose am Deutschen Theater von 2020 arbeitet der Komponist auch bei dieser Oedipus-Inszenierung mit dem gleichen vierköpfigen Ensemble zusammen, das aus einem E-Bass, einem Keyboard und unterschiedlichem Schlagwerk besteht. Van Wersch kommt nicht mit einer fertigen Partitur, sondern mit einem Notebook auf die Proben, auf dem er für genau diese Instrumente eine Matrix mit hunderten kleinen Samplekompositionen angelegt hat, die sich ohne Musiker mit virtuellen Instrumenten abspielen lassen. Mit diesen Bausteinen kann er nun in Echtzeit – d.h. während der Regisseur mit den Schauspielern probt – zu jeder Szene eine passende Musik komponieren und vom Computer aus einspielen. Manche Vorschläge funktionieren sofort, einige werden vom Regisseur verworfen, andere lassen sich sukzessive verbessern. Auch wenn eine Szene vollkommen umgestellt wird, komponiert van Wersch im Hintergrund mit und kann mit seinen musikalischen Vorschlägen selbst wiederum die Inszenierung beeinflussen.
Erst wenn die Aufführung weitgehend fertiggestellt ist, überträgt van Wersch seine Samplekompositionen in die Notenschrift und beginnt sie mit den Musikern einzustudieren. Und erst in einem noch späteren Stadium steigen die Musiker in den Probenprozess ein und spielen mit den Schauspielern zusammen live auf der Bühne. Was man jetzt hören kann, ist eine Komposition mit Polyrhythmen, mikrotonal gestimmten Instrumenten und erweiterten Spieltechniken der Neuen Musik, wie man sie bislang im Sprechtheater nicht realisieren konnte. Permanent kommt es zu Phasenverschiebungen zwischen den einzelnen Instrumenten, die unabhängig voneinander je eigenen komplizierten Rhythmen folgen, woraus sich unvorhersehbar komplexe rhythmische Pattern bilden.
Musikalisch gesehen war bereits die Aufführung von 4.48 Psychose eine Sensation, denn schon in dieser Arbeit von Rasche und van Wersch vollzieht sich exemplarisch ein Paradigmenwechsel, der unsere gesamte eintausend Jahre währende literale Musikkultur zu erfassen beginnt. Konnten die komplexen Strukturen der Kunstmusik bislang ausschließlich im Medium der Notenschrift komponiert werden, so entsteht jetzt auch für die Kunstmusik ein neues Medium der Komposition: das Medium der Samples.
Van Wersch orientiert sich bei Oedipus nicht am Klangbild der antiken Musik, wie sie im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Tragödienaufführungen gespielt wurde; es kommen also keine antiken Musikinstrumente wie ein Aulos oder eine Kithara zum Einsatz, und es werden auch keine antiken Tonleitern benutzt. Ausschlaggebend ist für van Wersch vielmehr eine inhaltliche Idee, nämlich, dass es sich bei dem Oedipus um ein Klagestück handelt. Aus diesem Grund wurde das Instrumentarium aus 4.48 Psychose auch um ein „Streichquartett“ erweitert, wo eine Violine, zwei Violas und ein Kontrabass aufgeschraubt auf vier kleinen Tischen liegen. Diese unrein gestimmten Streichinstrumente werden von den Musikern nicht im herkömmlichen Sinne gespielt, sondern zweckentfremdet benutzt, um Klangflächen erzeugen zu können. Hinzu kommt, dass das Keyboard mit den Klängen von Synthesizer-Prototypen programmiert wurde, so dass man eine Ondioline und ein mikrotonal gestimmtes Novachord hört. All dies sind Mittel um der Musik in den entscheidenden Momenten einen klagenden Ausdruck geben zu können.
Letztendlich würde eine antikisierende Musik die Idee eines immersiven Sprechtheaters genauso schwächen wie die Verwendung von Popmusik, denn in beiden Fällen wird eine historische Kontextualisierung vorgenommen, die das Subjekt aus der ästhetischen Immersion wegführt und auf etwas anderes verweist. Selbst musikalische Anleihen bei der Minimal Music, die sich aufgrund der Schritttaktung anzubieten scheinen und in einigen Chorpassagen der Bakchen-Inszenierung am Wiener Burgtheater zu hören sind, lassen einen sofort an Nixon in China oder Einstein on the Beach denken – eine Assoziation, die wohl nicht ins Innere von Euripides’ Tragödie führt. Idealerweise wird in solchen Produktionen nicht nur die Bildästhetik, sondern auch die Musik abstrakt bleiben und Fremdreferenzen vermeiden, wie sie sich über Musikinstrumente, Musikstile oder bekannte Musikstücke herstellen lassen.
Ein immersives Sprechtheater, dass alle ihm zur Verfügung stehenden ästhetischen Mittel nutzt, um einen Text dem Publikum so nahe wie möglich zu bringen – bis der Text selbst zu einer körperlich erfahrbaren Realität wird –, wird sich musikalisch am ehesten an der Neuen Musik orientieren. Diese aus der Klassischen Musik entstandene Kunstmusik, die bislang im Medium der Noten komponiert und mit klassischen akustischen Instrumenten aufgeführt wurde, ist an und für sich dem Ideal eines je neuen, unerhörten und unkonventionellen Klanges verpflichtet. In seiner Oedipus-Musik arbeitet Nico van Wersch insbesondere mit den Kompositionsprinzipien von Iannis Xenakis und Harry Partch, die selbst zu den Protagonisten der Neuen Musik gehören. Ausschlaggebend für diese Wahl war sicherlich, dass sich beide Komponisten selbst mit antiker Musik beschäftigt haben, aber dies ist eben kein direkter, sondern ein durch die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts vermittelter Antikenbezug.
Mit ihrer kongenialen Zusammenarbeit in den Bakchen und in 4.48 Psychose ist Ulrich Rasche und Nico van Wersch eine Erneuerung des Sprechtheaters aus dem Geiste der Musik gelungen. Hier öffnet sich der Kunstmusik eine Tür in den Theaterbetrieb, durch die in Zukunft sicherlich auch andere gehen werden.
Harry Lehmann studierte Physik, promovierte 2003 an der Universität Potsdam in Philosophie und ist Autor der Bücher Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (2012) und Gehaltsästhetik. Ein Kunstphilosophie (2016).