

Platonow
Trailer
Stückeinführung von Dramaturg John von Düffel
"Den Tod einen Moment lang vergessen machen"
Ein Gespräch mit Regisseur Timofej Kuljabin über seine Version von Platonow
Ihr erster großer internationaler Erfolg als Regisseur war ein Tschechow: Ihre viereinhalbstündige Inszenierung von Drei Schwestern ohne ein einziges gesprochenes Wort. Ist dieser Autor für einen russischen Regisseur das Maß aller Dinge?
Nein, das ist ein Klischee. Ich halte Tschechow für einen universalen Autor, der überall auf der Welt verstanden wird. Als ich vor über zwanzig Jahren mein Regiestudium anfing, hieß es noch, dass ein russischer Regisseur wenigstens einmal Tschechow inszeniert haben muss. Gegen Ende meines Studiums hat mich mein Regiedozent, ein sehr angesehener Mentor in der russischen Theaterszene, beiseite genommen und gewarnt: Mach nie Tschechow! Tschechow ist durch – alles schon mal dagewesen, auf jede erdenkliche Art, in allen Stilen, Spielweisen, Genres. Ich habe mich nicht an seinen Rat gehalten.
Die Welttournee Ihrer Drei Schwestern-Inszenierung mit Gastspielserien in Tokio, Paris und Berlin hat vor einigen Jahren stattgefunden und wurde sehr gefeiert. Glauben Sie, die Rezeption wäre heute eine andere nach der Zäsur des Angriffskriegs und den Kampagnen gegen russische Autoren, Komponisten, Künstler?
Nein, das glaube ich nicht. Die erste Reaktion auf den Krieg war Schock. Und niemand hätte gedacht, dass er so lange dauern würde. Eine Woche, zwei Wochen, vielleicht einen Monat. Und natürlich hat sich gleich die Frage gestellt: Wie jetzt Theater machen? Was kann man gegen den Krieg tun? Muss nicht sofort alles gestoppt werden? In den ersten Tagen in Berlin war das ganze Viertel, in dem ich wohne, ein Meer von blaugelben Fahnen. Jetzt sind nur noch zwei ukrainische Flaggen übrig. Es passiert, was nicht passieren sollte: Der Krieg ist Normalität geworden. Was könnte falscher sein, als in dieser Zeit das Theater und jede kulturelle Auseinandersetzung zu canceln?
Die sogenannte Zeitenwende, die für die meisten erstmal nur ein Wort ist, ist für Sie und viele Künstlerinnen und Künstler, mit denen Sie zusammenarbeiten, harte Realität. Was hat sich für Sie verändert?
Alles. Mein ganzes Leben. Ich habe kein Zuhause mehr, ich kann nicht mehr in das Land zurück, in dem ich aufgewachsen bin. Viele Arbeitsmöglichkeiten sind weggebrochen, viele künstlerische Existenzen zerstört. Wie alle anderen Geflüchteten muss ich damit klarkommen, und es gibt leider keinen einfachen Weg. Das reicht von den großen Fragen des Lebens bis zu den Fragen des Alltags, dem Zugang zu Bankkonten und Visa-Angelegenheiten. Alles ist sehr viel schwieriger geworden durch die Sanktionen, die in ihrem vollen Ausmaß nicht so sehr die Russen treffen, die in Russland geblieben sind, sondern vor allem die Russen, die geflüchtet sind. Wie ich mit meiner Herkunft, meiner Sprache, meiner Kultur unter diesen Umständen weiterleben kann, ist meine private Angelegenheit. Aber glauben Sie mir, die verblendete und kriminelle Regierung in Moskau wird Tschechow nicht verhindern.
Wie Kirill Serebrennikov, mit dem Sie oft in einem Atemzug genannt werden, arbeiten Sie nicht nur am DT, sondern haben am Bolschoi Theater inszeniert, gleichsam dem Kreml der russischen Theaterwelt. Jetzt sind Ihnen all diese Türen verschlossen und gleichzeitig zeigen sich viele westliche Kulturinstitutionen nicht mehr so offen wie vor dem Angriffskrieg. Geraten Sie als Exilant zwischen alle Stühle, um nicht zu sagen, Fronten?
Ich sehe das anders. Aus meiner Sicht ist die Unterscheidung oder gar Trennung der Kulturen eine ziemlich veraltete Denkweise. Das Nationaldenken, das Denken in separaten kulturellen Identitäten stellt einen historischen Rückfall dar. Die Welt ist viel mehr verbunden, "globalisiert", wenn Sie so wollen. Welche Einstellung man dazu auch haben mag, dieser Prozess ist unumkehrbar. Die Welt will vereint sein. Doch selbstverständlich gibt es auch die entgegengesetzten Kräfte, die wieder Mauern bauen und Grenzen ziehen wollen, die mit Feindbildern arbeiten, Schwarz-Weiß-Denken, guten Russen, bösen Russen. Aber das ist nicht nur falsch bis an die Grenze der Absurdität, sondern oft auch heuchlerisch.
Um auf Platonow zu kommen: Die Diskussion des Stückes mit dem DT und Ihre Konzeption waren schon vor Kriegsbeginn weit fortgeschritten. Es gab dann ein kurzes Zeitfenster, in dem man auf ein anderes, möglicherweise aktuelleres Stück hätte umschwenken können. Warum sind Sie bei Platonow geblieben? Und inwiefern hat sich Ihr Blick auf den Text noch einmal verändert?
Durch die gegenwärtige Situation hat sich das Konzept sehr präzisiert und zugespitzt. Diese spezielle Fassung des Stückes handelt von Tod und Isolation. Die Figuren sind wesentlich älter als im Original und am Ende ihres Lebens. Sie verbringen ihre letzten Tage in einem Heim für die Veteranen der Kunst, abgeschottet vom Rest der Welt. Insofern spiegelt dieses Figurenensemble in gewisser Weise die russische Intelligenz oder Künstlerschaft wider, verloren und abgeschnitten von der Gesellschaft, irgendwo im Nirgendwo. Niemand hört und sieht sie, niemand kümmert sich um sie. Die Parallelen zur Gegenwart liegen auf der Hand.
Im Original – dem ersten Stück von Tschechow aus seiner Jugendzeit – ist der Titelheld Platonow achtundzwanzig Jahre alt, bei Ihnen ist er gut und gerne fünfzig Jahre älter. Ist aus einer jüngeren Generation ohne Zukunft ein zukunftsloses Alter geworden?
Wenn man dieses Erstlingswerk von Tschechow liest, wirken die Beziehungen der Charaktere zu- und untereinander altmodisch. Angesichts ihrer Kämpfe um Liebe, ihrer Verzweiflung und ihrer Ausweglosigkeiten kann man kaum umhin zu denken, sie haben das Leben doch noch vor sich. Ich musste einen Weg finden, diesen Beziehungen und Konflikte eine Realität und Tiefe zu verleihen. Deswegen die Setzung mit dem Alter. Wenn Menschen, die dem Tod ins Auge sehen, sich noch einmal lebendig fühlen wollen, können sie sich dabei naiv, lächerlich oder auch verrückt aufführen. Aber es ist ehrlich, weil es ihr verzweifelter Versuch ist, den Tod einen Moment lang vergessen zu machen.
Der Mangel an Möglichkeiten und die Gebrechen des Alters verleihen dieser Geschichte der Liebeswirren und Gefühlsverstrickungen um Platonow nicht nur eine tragische, sondern durchaus auch eine komische Seite. Ist es auch ein heiteres Scheitern?
Die Komik ist sehr wichtig! Wenn junge Menschen sich zu einem Seitensprung verabreden, ist das mehr oder weniger banal. Wenn sich alte Menschen zuflüstern, "komm heute Nacht auf mein Zimmer", zeigt sich darin ihr Versuch, jung sein zu wollen und vom Leben nicht zu lassen. Und es ist gleichzeitig tragisch, weil es immer auch das Thema Tod berührt.
Sie hätten die Alten in Ihrer Stückfassung auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern am Ende ihrer Karriere besetzen können. Stattdessen haben sie sich für ein Ensemble entschieden, das in der Mitte seines Schauspielerlebens steht. Warum dieser Altersunterschied?
Um eine Distanz zu schaffen, aus Schauspielersicht, einen Abstand zwischen den Darstellern und ihren Figuren. Wenn ein achtzigjähriger Schauspieler die Figur eines achtzigjährigen Schauspielers spielt, dann ist er der Rolle ja maximal nah und in mancher Hinsicht mit ihr identisch. Durch den Altersunterschied wird die Rolle zu einer großen schauspielerischen Herausforderung und das Ganze auch zu einem Spiel, in dem es darum geht, Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit zu erreichen. Ich möchte keine Parodie. Die große Aufgabe ist, in der Differenz überzeugend zu sein.
Sie haben dafür gesorgt, dass sämtliche Schauspielerinnen und Schauspieler zur Vorbereitung russische Altersheime und Senioren-WGs in Berlin besuchen. Ist das ein Stück Arbeit an der Realität der Rollen?
Selbstverständlich hat jede und jeder im Ensemble Eltern und Großeltern, eigene Beziehungen zu älteren Menschen. Aber ich wollte, dass alle Beteiligten das eine oder andere Seniorenheim besuchen, weil diese Häuser eine andere Atmosphäre haben, einen anderen Geruch, und ein Gefühl von Endgültigkeit vermitteln. Sie sind für viele die letzte Station vor dem Tod. In diesen Heimen existiert eine eigene Gemeinschaft, eine Gesellschaft im Kleinen mit ihren Hierarchien, Beziehungen, Krisen, Katastrophen. Es ist eine eigene kleine Welt.
Spezielle Altersheime für Theaterleute haben in Russland Tradition. Für Ihre Fassung haben Sie jeder Figur eine eigene Künstlerbiographie gegeben, vom dramatischen Sopran bis zum Zauberkünstler. Und Sie haben für den zweiten Akt einen Tag der Kulturschaffenden erfunden, an dem die Bühnenveteranen noch einmal voreinander auftreten und ihr Können, so gut es geht, zum Besten geben. Ist es also auch ein Stück über das Theater?
Unbedingt! Es geht um den Wunsch und die Möglichkeit zu spielen, auf einer Bühne zu stehen und sich lebendig zu fühlen. Diese Figuren träumen den Schauspielertraum, jemand anders zu sein und daran zu glauben. Das ist ihre Natur. Sie lieben es, andere Leben zu leben, andere Gefühle zu fühlen. Nie wieder spielen zu können, ist für sie der Tod. Sie brauchen das Spiel und die großen Gefühle wie Liebe, Hass, Leidenschaft, an die sie glauben. Das ist für sie wie die Luft zum Atmen.
Die Alten sind also ihr eigenes Schauspiel-Ensemble und ihre eigenen Zuschauer in einer letzten Vorstellung, in der es am Schluss keinen roten Vorhang gibt, sondern den Tod?
Es gibt vor allem auch keine Kritiker. (Lacht.)
Fragen: John von Düffel
Nein, das ist ein Klischee. Ich halte Tschechow für einen universalen Autor, der überall auf der Welt verstanden wird. Als ich vor über zwanzig Jahren mein Regiestudium anfing, hieß es noch, dass ein russischer Regisseur wenigstens einmal Tschechow inszeniert haben muss. Gegen Ende meines Studiums hat mich mein Regiedozent, ein sehr angesehener Mentor in der russischen Theaterszene, beiseite genommen und gewarnt: Mach nie Tschechow! Tschechow ist durch – alles schon mal dagewesen, auf jede erdenkliche Art, in allen Stilen, Spielweisen, Genres. Ich habe mich nicht an seinen Rat gehalten.
Die Welttournee Ihrer Drei Schwestern-Inszenierung mit Gastspielserien in Tokio, Paris und Berlin hat vor einigen Jahren stattgefunden und wurde sehr gefeiert. Glauben Sie, die Rezeption wäre heute eine andere nach der Zäsur des Angriffskriegs und den Kampagnen gegen russische Autoren, Komponisten, Künstler?
Nein, das glaube ich nicht. Die erste Reaktion auf den Krieg war Schock. Und niemand hätte gedacht, dass er so lange dauern würde. Eine Woche, zwei Wochen, vielleicht einen Monat. Und natürlich hat sich gleich die Frage gestellt: Wie jetzt Theater machen? Was kann man gegen den Krieg tun? Muss nicht sofort alles gestoppt werden? In den ersten Tagen in Berlin war das ganze Viertel, in dem ich wohne, ein Meer von blaugelben Fahnen. Jetzt sind nur noch zwei ukrainische Flaggen übrig. Es passiert, was nicht passieren sollte: Der Krieg ist Normalität geworden. Was könnte falscher sein, als in dieser Zeit das Theater und jede kulturelle Auseinandersetzung zu canceln?
Die sogenannte Zeitenwende, die für die meisten erstmal nur ein Wort ist, ist für Sie und viele Künstlerinnen und Künstler, mit denen Sie zusammenarbeiten, harte Realität. Was hat sich für Sie verändert?
Alles. Mein ganzes Leben. Ich habe kein Zuhause mehr, ich kann nicht mehr in das Land zurück, in dem ich aufgewachsen bin. Viele Arbeitsmöglichkeiten sind weggebrochen, viele künstlerische Existenzen zerstört. Wie alle anderen Geflüchteten muss ich damit klarkommen, und es gibt leider keinen einfachen Weg. Das reicht von den großen Fragen des Lebens bis zu den Fragen des Alltags, dem Zugang zu Bankkonten und Visa-Angelegenheiten. Alles ist sehr viel schwieriger geworden durch die Sanktionen, die in ihrem vollen Ausmaß nicht so sehr die Russen treffen, die in Russland geblieben sind, sondern vor allem die Russen, die geflüchtet sind. Wie ich mit meiner Herkunft, meiner Sprache, meiner Kultur unter diesen Umständen weiterleben kann, ist meine private Angelegenheit. Aber glauben Sie mir, die verblendete und kriminelle Regierung in Moskau wird Tschechow nicht verhindern.
Wie Kirill Serebrennikov, mit dem Sie oft in einem Atemzug genannt werden, arbeiten Sie nicht nur am DT, sondern haben am Bolschoi Theater inszeniert, gleichsam dem Kreml der russischen Theaterwelt. Jetzt sind Ihnen all diese Türen verschlossen und gleichzeitig zeigen sich viele westliche Kulturinstitutionen nicht mehr so offen wie vor dem Angriffskrieg. Geraten Sie als Exilant zwischen alle Stühle, um nicht zu sagen, Fronten?
Ich sehe das anders. Aus meiner Sicht ist die Unterscheidung oder gar Trennung der Kulturen eine ziemlich veraltete Denkweise. Das Nationaldenken, das Denken in separaten kulturellen Identitäten stellt einen historischen Rückfall dar. Die Welt ist viel mehr verbunden, "globalisiert", wenn Sie so wollen. Welche Einstellung man dazu auch haben mag, dieser Prozess ist unumkehrbar. Die Welt will vereint sein. Doch selbstverständlich gibt es auch die entgegengesetzten Kräfte, die wieder Mauern bauen und Grenzen ziehen wollen, die mit Feindbildern arbeiten, Schwarz-Weiß-Denken, guten Russen, bösen Russen. Aber das ist nicht nur falsch bis an die Grenze der Absurdität, sondern oft auch heuchlerisch.
Um auf Platonow zu kommen: Die Diskussion des Stückes mit dem DT und Ihre Konzeption waren schon vor Kriegsbeginn weit fortgeschritten. Es gab dann ein kurzes Zeitfenster, in dem man auf ein anderes, möglicherweise aktuelleres Stück hätte umschwenken können. Warum sind Sie bei Platonow geblieben? Und inwiefern hat sich Ihr Blick auf den Text noch einmal verändert?
Durch die gegenwärtige Situation hat sich das Konzept sehr präzisiert und zugespitzt. Diese spezielle Fassung des Stückes handelt von Tod und Isolation. Die Figuren sind wesentlich älter als im Original und am Ende ihres Lebens. Sie verbringen ihre letzten Tage in einem Heim für die Veteranen der Kunst, abgeschottet vom Rest der Welt. Insofern spiegelt dieses Figurenensemble in gewisser Weise die russische Intelligenz oder Künstlerschaft wider, verloren und abgeschnitten von der Gesellschaft, irgendwo im Nirgendwo. Niemand hört und sieht sie, niemand kümmert sich um sie. Die Parallelen zur Gegenwart liegen auf der Hand.
Im Original – dem ersten Stück von Tschechow aus seiner Jugendzeit – ist der Titelheld Platonow achtundzwanzig Jahre alt, bei Ihnen ist er gut und gerne fünfzig Jahre älter. Ist aus einer jüngeren Generation ohne Zukunft ein zukunftsloses Alter geworden?
Wenn man dieses Erstlingswerk von Tschechow liest, wirken die Beziehungen der Charaktere zu- und untereinander altmodisch. Angesichts ihrer Kämpfe um Liebe, ihrer Verzweiflung und ihrer Ausweglosigkeiten kann man kaum umhin zu denken, sie haben das Leben doch noch vor sich. Ich musste einen Weg finden, diesen Beziehungen und Konflikte eine Realität und Tiefe zu verleihen. Deswegen die Setzung mit dem Alter. Wenn Menschen, die dem Tod ins Auge sehen, sich noch einmal lebendig fühlen wollen, können sie sich dabei naiv, lächerlich oder auch verrückt aufführen. Aber es ist ehrlich, weil es ihr verzweifelter Versuch ist, den Tod einen Moment lang vergessen zu machen.
Der Mangel an Möglichkeiten und die Gebrechen des Alters verleihen dieser Geschichte der Liebeswirren und Gefühlsverstrickungen um Platonow nicht nur eine tragische, sondern durchaus auch eine komische Seite. Ist es auch ein heiteres Scheitern?
Die Komik ist sehr wichtig! Wenn junge Menschen sich zu einem Seitensprung verabreden, ist das mehr oder weniger banal. Wenn sich alte Menschen zuflüstern, "komm heute Nacht auf mein Zimmer", zeigt sich darin ihr Versuch, jung sein zu wollen und vom Leben nicht zu lassen. Und es ist gleichzeitig tragisch, weil es immer auch das Thema Tod berührt.
Sie hätten die Alten in Ihrer Stückfassung auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern am Ende ihrer Karriere besetzen können. Stattdessen haben sie sich für ein Ensemble entschieden, das in der Mitte seines Schauspielerlebens steht. Warum dieser Altersunterschied?
Um eine Distanz zu schaffen, aus Schauspielersicht, einen Abstand zwischen den Darstellern und ihren Figuren. Wenn ein achtzigjähriger Schauspieler die Figur eines achtzigjährigen Schauspielers spielt, dann ist er der Rolle ja maximal nah und in mancher Hinsicht mit ihr identisch. Durch den Altersunterschied wird die Rolle zu einer großen schauspielerischen Herausforderung und das Ganze auch zu einem Spiel, in dem es darum geht, Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit zu erreichen. Ich möchte keine Parodie. Die große Aufgabe ist, in der Differenz überzeugend zu sein.
Sie haben dafür gesorgt, dass sämtliche Schauspielerinnen und Schauspieler zur Vorbereitung russische Altersheime und Senioren-WGs in Berlin besuchen. Ist das ein Stück Arbeit an der Realität der Rollen?
Selbstverständlich hat jede und jeder im Ensemble Eltern und Großeltern, eigene Beziehungen zu älteren Menschen. Aber ich wollte, dass alle Beteiligten das eine oder andere Seniorenheim besuchen, weil diese Häuser eine andere Atmosphäre haben, einen anderen Geruch, und ein Gefühl von Endgültigkeit vermitteln. Sie sind für viele die letzte Station vor dem Tod. In diesen Heimen existiert eine eigene Gemeinschaft, eine Gesellschaft im Kleinen mit ihren Hierarchien, Beziehungen, Krisen, Katastrophen. Es ist eine eigene kleine Welt.
Spezielle Altersheime für Theaterleute haben in Russland Tradition. Für Ihre Fassung haben Sie jeder Figur eine eigene Künstlerbiographie gegeben, vom dramatischen Sopran bis zum Zauberkünstler. Und Sie haben für den zweiten Akt einen Tag der Kulturschaffenden erfunden, an dem die Bühnenveteranen noch einmal voreinander auftreten und ihr Können, so gut es geht, zum Besten geben. Ist es also auch ein Stück über das Theater?
Unbedingt! Es geht um den Wunsch und die Möglichkeit zu spielen, auf einer Bühne zu stehen und sich lebendig zu fühlen. Diese Figuren träumen den Schauspielertraum, jemand anders zu sein und daran zu glauben. Das ist ihre Natur. Sie lieben es, andere Leben zu leben, andere Gefühle zu fühlen. Nie wieder spielen zu können, ist für sie der Tod. Sie brauchen das Spiel und die großen Gefühle wie Liebe, Hass, Leidenschaft, an die sie glauben. Das ist für sie wie die Luft zum Atmen.
Die Alten sind also ihr eigenes Schauspiel-Ensemble und ihre eigenen Zuschauer in einer letzten Vorstellung, in der es am Schluss keinen roten Vorhang gibt, sondern den Tod?
Es gibt vor allem auch keine Kritiker. (Lacht.)
Fragen: John von Düffel

Alexander Khuon, der bei Platonow die Titelrolle spielt, spricht im Interview mit radioeins über die konzeptionelle Setzung des Regisseurs Timofej Kuljabin, der die Handlung in ein Altersheim für ehemalige Künstler*innen verlegt hat, als "letzten Rückzugsort für die Vergessenen und Ausgemusterten".