
Der Zauberberg
nach Thomas Mann
"Was ist die Zeit?", unter diese Leitfrage stellt Sebastian Hartmann seine Adaption des Zauberbergs von Thomas Mann. "Ein Geheimnis," schreibt dieser, "wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Die Zeit ist identisch, sie hat verbale Beschaffenheit, sie ‚zeitigt’. Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit misst, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstrengung nicht vorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu 'denken', in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismäßige Reduzierung auf Null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander?"
Am Freitag, den 20. November hatte Der Zauberberg nach Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann als Livestream Premiere. Die Vorstellung fand auf der großen Bühne des Deutschen Theaters statt – ohne Publikum, dafür aber mit mehreren Kameras. Sebastian Hartmann und sein Team hatten dafür eine auf die Besonderheiten eines Livestreams zugeschnittene Variante der Inszenierung erarbeitet.
Eingeladen zum Theatertreffen 2021
Am Freitag, den 20. November hatte Der Zauberberg nach Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann als Livestream Premiere. Die Vorstellung fand auf der großen Bühne des Deutschen Theaters statt – ohne Publikum, dafür aber mit mehreren Kameras. Sebastian Hartmann und sein Team hatten dafür eine auf die Besonderheiten eines Livestreams zugeschnittene Variante der Inszenierung erarbeitet.
Eingeladen zum Theatertreffen 2021
Regie / Bühne Sebastian Hartmann
Kostüme Adriana Braga Peretzki
Musik Samuel Wiese
Videoanimation Tilo Baumgärtel
Licht Lothar Baumgarte
Dramaturgie Claus Caesar
Livestream Bildregie Jan Speckenbach
Livestream Kamera Marlene Blumert, Max Hohendahl, Dorian Sorg
Szenisches Video Lennart Löttker
Head of Stream Peter Stoltz
Sendeton Marcel Braun, Björn Mauder
Ton Marcel Braun, Eric Markert
Elias Arens

Manuel Harder

Markwart Müller-Elmau

Linda Pöppel

Birgit Unterweger

Cordelia Wege
Niklas Wetzel

Samuel WieseLive-Musik

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In den besten Augenblicken schafft Hartmann mit seinem Ensemble und breit aufgestellten technischen Team albgeträumte Existenzbilder und Momente höllischer Verzweiflung. Etwa die Projektion der pseudo-nackten Menschen auf der Bühnenwand, die nun wirken, als fielen sie aus schwarzen Wolken in einen finsteren Abgrund. Die gruseligen Todesmasken, die den Spielern immer wieder aufs Gesicht projiziert werden. Der Moment, wenn Cordelia Wege versucht, einen unsichtbaren Vogel zu fangen. Das einzige echte Leben. Und immer wieder: der Blick in das stumme, elendige, hoffnungslose Gesicht von Markwart Müller Elmau, der sich in Erinnerungen an den Krieg verliert, während schwarze Asche auf ihn rieselt.
Am DT verabschiedet er [Sebastian Hartmann] sich nun von jeder Erzählebene und zeigt allein seine radikal subjektiven, bizarren Assoziationswelten. Er arbeitet sich fast ausschließlich an der Episode ab, in der sich Castorp auf einer Schneewanderung verirrt und der Welt beinahe verloren geht – im weißen Wahn fantasiert er sich da blutige Albträume zusammen. In der Figur von Markwart Müller-Elmau blitzt Castorp hier und da durch, wenn er ins Leere starrt und Sätze sagt wie: "Ich bin der Welt abhanden gekommen. Gestorben bin ich der Welt."
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In den besten Augenblicken schafft Hartmann mit seinem Ensemble und breit aufgestellten technischen Team albgeträumte Existenzbilder und Momente höllischer Verzweiflung. Etwa die Projektion der pseudo-nackten Menschen auf der Bühnenwand, die nun wirken, als fielen sie aus schwarzen Wolken in einen finsteren Abgrund. Die gruseligen Todesmasken, die den Spielern immer wieder aufs Gesicht projiziert werden. Der Moment, wenn Cordelia Wege versucht, einen unsichtbaren Vogel zu fangen. Das einzige echte Leben. Und immer wieder: der Blick in das stumme, elendige, hoffnungslose Gesicht von Markwart Müller Elmau, der sich in Erinnerungen an den Krieg verliert, während schwarze Asche auf ihn rieselt.
Von heute ist der Einsatz des Live-Films. Der nämlich zeigt eine Möglichkeit auf, was Theaterstreaming kann, wenn man erstens den nötigen Aufwand nicht scheut und zweitens Könner*innen an den Kameras hat: Toll, wie die Kameras zu eigenständigen Akteurinnen werden, toll, wie Bilder den verwaisten Zuschauerraum einfangen, toll, wie selbstverständlich Hinterbühne, Saal, Gänge zu Theaterorten werden. Nicht zuletzt weckt der Filmeinsatz die Lust, den Abend ein weiteres mal zu sehen, nicht auf dem Bildschirm, sondern tatsächlich auf der Bühne, im Dezember oder wann auch immer. Hartmann kündigt an, dass die Bühnen-Inszenierung anders werde als die Filmarbeit, und da würde das Streaming dann tatsächlich einen Mehrwert generieren: als Inszenierung aus zwei Teilen, die sich im besten Falle ergänzen würden, hier die Filmversion, dort die Bühnenversion.
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Die totale Verausgabung der großartigen Akteure und die kluge neue Mischform der technischen Elemente erzeugen einen unwiderstehlichen Sog beim Publikum am Bildschirm. Anders als sonst oft bei den metaphysisch wabernden Hartmann-Inszenierungen ist jedes Wort klar verständlich und der Sinn auch. Linda Pöppel, Birgit Unterweger und Cordelia Wege sind die Leidensfrauen und Sirenen. Die Männer liefern sich Schlagabtausche.
Selten war Warten auf das Deutsche Theater Berlin so spannend. Es hat sich gelohnt, denn Regisseur Sebastian Hartmann und sein Ensemble bescheren dem Haus zwei Sternstunden wie aus einer anderen Zeit. Der mit sechs Kameras und über Mikroports aufgenommene Livestream liefert einmalig ein ganz eigenes expressionistisch-düsteres Gesamtkunstwerk um den Krieg der Körper und die Vergänglichkeit der Zeit.
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Die totale Verausgabung der großartigen Akteure und die kluge neue Mischform der technischen Elemente erzeugen einen unwiderstehlichen Sog beim Publikum am Bildschirm. Anders als sonst oft bei den metaphysisch wabernden Hartmann-Inszenierungen ist jedes Wort klar verständlich und der Sinn auch. Linda Pöppel, Birgit Unterweger und Cordelia Wege sind die Leidensfrauen und Sirenen. Die Männer liefern sich Schlagabtausche.
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Schaut man gerade noch von
oben oder schon von der Seite? Und wenn, von welcher Seite?
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Dissoziation, Auflösung wohin man blickt: Das Nacheinander der verwendeten Texte ist ein wildes Schnipselwerk, in dem sich Raum und Zeit auflösen: Die Traumsequenzen aus dem "Schnee"-Kapitel, in dem sich Castorp in arkadischen Landschaften wähnt, wechseln mit Mord- und Hexenfantasien, mit Naturbeschreibungen und Reflexionen über den Unterschied von toter und lebendiger Materie zu Fragen des Lebens schlechthin - "Was ist der Körper?" - und Impressionen aus dem Röntgenlabor des Sanatoriums.
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Hartmanns neues "Zauberberg"-Zeitbild trägt zwar nicht unbedingt zur Klärung der gegenwärtigen Verhältnisse bei, hat sie dabei aber ziemlich gut getroffen. Das Castorpsche Gefühl hat sich an diesem 20. November jedenfalls erschreckend gut übertragen: viel unübersichtliche Bewegung in den letzten zehn Jahren. Und kein Ende in Sicht. Die Bilder überblenden ständig, eins fließt ins andere, Texte werden parallel gesprochen oder ineinander geschnitten, dazu kommen Tilo Baumgärtels bläulich grünliche Videoanimationen von brechenden Wellenbergen - oder Hochgebirgsschneelawinen? Die Perspektiven wechseln vom Close-up aus wackeliger Handkamera in die Totale bis zur Vogelperspektive aus dem Schnürboden.
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Schaut man gerade noch von
oben oder schon von der Seite? Und wenn, von welcher Seite?
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Dissoziation, Auflösung wohin man blickt: Das Nacheinander der verwendeten Texte ist ein wildes Schnipselwerk, in dem sich Raum und Zeit auflösen: Die Traumsequenzen aus dem "Schnee"-Kapitel, in dem sich Castorp in arkadischen Landschaften wähnt, wechseln mit Mord- und Hexenfantasien, mit Naturbeschreibungen und Reflexionen über den Unterschied von toter und lebendiger Materie zu Fragen des Lebens schlechthin - "Was ist der Körper?" - und Impressionen aus dem Röntgenlabor des Sanatoriums.
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Hartmanns neues "Zauberberg"-Zeitbild trägt zwar nicht unbedingt zur Klärung der gegenwärtigen Verhältnisse bei, hat sie dabei aber ziemlich gut getroffen. Das Castorpsche Gefühl hat sich an diesem 20. November jedenfalls erschreckend gut übertragen: viel unübersichtliche Bewegung in den letzten zehn Jahren. Und kein Ende in Sicht.
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Der Rausch, der Traum. "All that we see or seem is but a dream within a dream", wird bei Hartmann Edgar Allen Poe zitiert. Er braucht die Totale, die leere Bühnenlandschaft, oder die extreme Nahaufnahme, das Gesicht. Die klassischen Formen des traditionellen Erzählkino meidet er, den two shot, zwei Leute gemeinsam in einer Einstellung, oder die Alternation zwischen zwei halbnah gefilmten Personen im Dialog. Lieber umkreist er die Akteure, um sie in ihrer Unsicherheit zu ertappen, wie die amerikanischen Dokumentarfilmer der Sechziger es machten, Richard Leacock oder Donn A. Pennebaker und Chris Hegedus. Die Kamera sieht mehr ... Der kreative Moment im Kino, der, den es im Theater nicht geben kann, ist, wenn zwei Einstellungen im Schnitt aneinanderstoßen und - so Godards berühmte Formel - daraus etwas Drittes entsteht. Kreativ für den Filmemacher wie für den Zuschauer.
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Auch Sebastian Hartmann hat für solche Momente den Bühnenboden verlassen. Etwas Drittes entsteht aus dem Clash der beiden Einstellungen, etwas Ungeahntes, bislang Unsichtbares. In diesen Momenten wird das Kino erfunden immer wieder aufs Neue. Was die Kamera sieht ... Am Anfang des "Zauberbergs" gibt es die Alpen, aber man erlebt, wie sie Wellen schlagen. Das Festgelegte, Monumentale, Steinerne windet sich, gerät in Bewegung. Eine tolle Einstellung, ein Stück Animation, das schon die ganze Inszenierung in sich trägt. Der Animationsfilm gilt vielen als der Inbegriff des Kinos, als cinema pur. Der Berliner "Zauberberg" strebt eine andere Authentizität an, die des Theatralischen, die natürlich nie trügerisch ist, ihrer Natur nach spekulativ. Es ist eine tastende, tapsige Inszenierung, von einer aufrichtigen Unförmigkeit, die bewegend ist, weil nur so neue Formen gefunden und erprobt werden können.
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Der Rausch, der Traum. "All that we see or seem is but a dream within a dream", wird bei Hartmann Edgar Allen Poe zitiert. Er braucht die Totale, die leere Bühnenlandschaft, oder die extreme Nahaufnahme, das Gesicht. Die klassischen Formen des traditionellen Erzählkino meidet er, den two shot, zwei Leute gemeinsam in einer Einstellung, oder die Alternation zwischen zwei halbnah gefilmten Personen im Dialog. Lieber umkreist er die Akteure, um sie in ihrer Unsicherheit zu ertappen, wie die amerikanischen Dokumentarfilmer der Sechziger es machten, Richard Leacock oder Donn A. Pennebaker und Chris Hegedus. Die Kamera sieht mehr ... Der kreative Moment im Kino, der, den es im Theater nicht geben kann, ist, wenn zwei Einstellungen im Schnitt aneinanderstoßen und - so Godards berühmte Formel - daraus etwas Drittes entsteht. Kreativ für den Filmemacher wie für den Zuschauer.
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Auch Sebastian Hartmann hat für solche Momente den Bühnenboden verlassen. Etwas Drittes entsteht aus dem Clash der beiden Einstellungen, etwas Ungeahntes, bislang Unsichtbares. In diesen Momenten wird das Kino erfunden immer wieder aufs Neue. Was die Kamera sieht ... Am Anfang des "Zauberbergs" gibt es die Alpen, aber man erlebt, wie sie Wellen schlagen. Das Festgelegte, Monumentale, Steinerne windet sich, gerät in Bewegung. Eine tolle Einstellung, ein Stück Animation, das schon die ganze Inszenierung in sich trägt. Der Animationsfilm gilt vielen als der Inbegriff des Kinos, als cinema pur.