Das Missverständnis

von Albert Camus
Co-Regie Jürgen Kruse
Dramaturgie Juliane Koepp
Premiere
3. Dezember 2017, Kammerspiele
Linda PöppelMartha
Alexandra FinderMaria
Barbara SchnitzlerDie Mutter
Manuel HarderJan
Jürgen HuthAlterstummerdienerknecht
Martha
Die Mutter
Alterstummerdienerknecht
Die deutsche Bühne
Michael Laages, 03.12.2017
Gerade für die treueren Begleiter hält der Regisseur Jürgen Kruse, eines der unerhört raren echten Unikate im deutschen Theater, bei der Rückkehr nach Berlin ein paar erstaunliche Überraschungen parat. [...]

Zu bestaunen ist jetzt der ganz und gar ernsthafte Versuch, den Dimensionen dieses kaum irgendwo sonst als bei und von Kruse ergründeten Material tatsächlich auf die Spur zu kommen. Was immer an "Unordentlichkeit" auch diesen Abend durchzieht, ist vollständig der Ab- und Untergründigkeit des Textes selbst geschuldet; kein Wortspiel (von denen es natürlich immer noch reichlich gibt), das nicht der dramatischen Behauptung folgte, wie sie geschrieben steht bei Camus. [...]

Und ausgerechnet bei Kruse, quasi theaterlebenslang der Oberflächlichkeit bezichtigt, bekommen wir überreichen Anlass, den existenzphilosophischen Gedanken zu folgen, die untergebracht sind im Stück – vor allem in den mäandernden Schmerzensmonologen der Tochter, die im abgründigen Rundum-Hass das erfahrene eigene Leiden der Welt, wie sie ist, ins gelangweilte Gesicht schießen will. Umso erregender und vollkommen erotisch wirkt gerade darum die plötzliche Annäherung zwischen Schwester und Bruder: beim Wäschelegen! Hier zählt jeder Moment, jedes Detail, jede Bewegung – wann wäre gerade eine Kruse-Arbeit derart konzentriert geraten?Auch der Soundtrack (aus der wirklich legendären Plattensammlung des musikvernarrten Regisseurs) kommt klar und handfest auf den Punkt [...].

Ein Schauspiel-Fest ereignet sich obendrein: mit Linda Pöppels strahlend-finstrer Schwester Martha und Manuel Harder aasig-selbstbewusstem, gegen alle Ängste gefeiten Bruder Jan. Er ist neu am DT: was für eine Bereicherung für Berlin! Barbara Schnitzler wirft alles in die müde Mutter des Stücks, und Alexandra Finder als letztlich träumende Witwe mit Kind wird gar zur Entdeckung. Marion Rommel ist eine gefragte Souffleuse mitten im Spiel, Jürgen Huth kämpft eindrücklich mit dem ewigen "Existenzialismus", Anne Makosch fegt abendfüllend Volker Hintermeiers Kruse-typisch vollgestellte Bühne: mit Hotel-Rezeption, Globus (den gibt’s immer bei Kruse), leeren Wein- oder Absinth-Flaschen und einer Lampe, deren Schirm noch einmal die Welt und die Kontinente zeigt.Was für eine Theater-Beschwörung – voller kleiner Kostbarkeiten stecken diese zwei Stunden mit Camus. Mit und durch Kruse weiten sie sich zu existenziellen Horizonten.
Gerade für die treueren Begleiter hält der Regisseur Jürgen Kruse, eines der unerhört raren echten Unikate im deutschen Theater, bei der Rückkehr nach Berlin ein paar erstaunliche Überraschungen parat. [...]

Zu bestaunen ist jetzt der ganz und gar ernsthafte Versuch, den Dimensionen dieses kaum irgendwo sonst als bei und von Kruse ergründeten Material tatsächlich auf die Spur zu kommen. Was immer an "Unordentlichkeit" auch diesen Abend durchzieht, ist vollständig der Ab- und Untergründigkeit des Textes selbst geschuldet; kein Wortspiel (von denen es natürlich immer noch reichlich gibt), das nicht der dramatischen Behauptung folgte, wie sie geschrieben steht bei Camus. [...]

Und ausgerechnet bei Kruse, quasi theaterlebenslang der Oberflächlichkeit bezichtigt, bekommen wir überreichen Anlass, den existenzphilosophischen Gedanken zu folgen, die untergebracht sind im Stück – vor allem in den mäandernden Schmerzensmonologen der Tochter, die im abgründigen Rundum-Hass das erfahrene eigene Leiden der Welt, wie sie ist, ins gelangweilte Gesicht schießen will. Umso erregender und vollkommen erotisch wirkt gerade darum die plötzliche Annäherung zwischen Schwester und Bruder: beim Wäschelegen! Hier zählt jeder Moment, jedes Detail, jede Bewegung – wann wäre gerade eine Kruse-Arbeit derart konzentriert geraten?Auch der Soundtrack (aus der wirklich legendären Plattensammlung des musikvernarrten Regisseurs) kommt klar und handfest auf den Punkt [...].

Ein Schauspiel-Fest ereignet sich obendrein: mit Linda Pöppels strahlend-finstrer Schwester Martha und Manuel Harder aasig-selbstbewusstem, gegen alle Ängste gefeiten Bruder Jan. Er ist neu am DT: was für eine Bereicherung für Berlin! Barbara Schnitzler wirft alles in die müde Mutter des Stücks, und Alexandra Finder als letztlich träumende Witwe mit Kind wird gar zur Entdeckung. Marion Rommel ist eine gefragte Souffleuse mitten im Spiel, Jürgen Huth kämpft eindrücklich mit dem ewigen "Existenzialismus", Anne Makosch fegt abendfüllend Volker Hintermeiers Kruse-typisch vollgestellte Bühne: mit Hotel-Rezeption, Globus (den gibt’s immer bei Kruse), leeren Wein- oder Absinth-Flaschen und einer Lampe, deren Schirm noch einmal die Welt und die Kontinente zeigt.Was für eine Theater-Beschwörung – voller kleiner Kostbarkeiten stecken diese zwei Stunden mit Camus. Mit und durch Kruse weiten sie sich zu existenziellen Horizonten.
nachtkritik.de
Christian Rakow, 03.12.2017
Linda Pöppel, als Martha das Zentrum des Abends, schnippt die Zynismen nur so umher. Das stottert mal herrlich wie ein Navigationsgerät auf Koks, dann wieder holt sie den Großkotzswing aus ihrer inneren Jukebox. Alles vollautomatisiert, rasant, bissig. Im Aufeinandertreffen mit dem Bruder Jan klingt's bisweilen wie eine Rap-Battle, ehe Martha die entflammbare Jungfer gibt und den Bruder aus den Armen seiner – hier stets präsenten – Frau Marie (Alexandra Finder) lockt. Den Jan gibt Manuel Harder als natural born Fremdenlegionär mit Wüstensand in den Stiefeln und Nordwind auf den lässig hochgezogenen Lippen. Überhaupt Pöppel und Harder, nicht das erste Mal bei Kruse zusammen, sind schon ein wenig Bonnie und Clyde, Courtney Love und Kurt Cobain, Miss Verständnis und Mister What-the-hell. Im Pas de deux tänzeln sie über den Wortspielparcours. [...]

Kruse und sein vertrauter Bühnenbildner Volker Hintermeier haben die Kammerspiele des DT schön zugerümpelt. Eine Voodoo Lounge ist's, Hotel und Hexenküche. Instrumente hängen auf Wäscheleinen, Weinflaschen stehen umher, eine Axt steckt in einem Holzklotz und göttliche Finger Marke Michelangelo weisen nach oben, wo ein finsterer Asteroid schwebt.[...]
Linda Pöppel, als Martha das Zentrum des Abends, schnippt die Zynismen nur so umher. Das stottert mal herrlich wie ein Navigationsgerät auf Koks, dann wieder holt sie den Großkotzswing aus ihrer inneren Jukebox. Alles vollautomatisiert, rasant, bissig. Im Aufeinandertreffen mit dem Bruder Jan klingt's bisweilen wie eine Rap-Battle, ehe Martha die entflammbare Jungfer gibt und den Bruder aus den Armen seiner – hier stets präsenten – Frau Marie (Alexandra Finder) lockt. Den Jan gibt Manuel Harder als natural born Fremdenlegionär mit Wüstensand in den Stiefeln und Nordwind auf den lässig hochgezogenen Lippen. Überhaupt Pöppel und Harder, nicht das erste Mal bei Kruse zusammen, sind schon ein wenig Bonnie und Clyde, Courtney Love und Kurt Cobain, Miss Verständnis und Mister What-the-hell. Im Pas de deux tänzeln sie über den Wortspielparcours. [...]

Kruse und sein vertrauter Bühnenbildner Volker Hintermeier haben die Kammerspiele des DT schön zugerümpelt. Eine Voodoo Lounge ist's, Hotel und Hexenküche. Instrumente hängen auf Wäscheleinen, Weinflaschen stehen umher, eine Axt steckt in einem Holzklotz und göttliche Finger Marke Michelangelo weisen nach oben, wo ein finsterer Asteroid schwebt.[...]
Berliner Zeitung
Dirk Pilz, 05.12.2017
Immerfort schreitet ein dunkelschimmerndes Wesen, halb Zauberin, halb Dämon, über die Bühne und kehrt das dürre Stroh von hier nach dort. [...]

In diesem geheimnisreichen Besenwesen hat man den gesamten zweistündigen Abend von Jürgen Kruse, seine innere Glut, sein Begehr, seine Spielweisen. Und man hat dies alles, wie es Kruse in seinen besten Arbeiten dem Publikum schenkt: als wäre es schief in eine nch schiefere Welt gehängt, als seien Figuren mit ihren Sätzen und Sehnsüchten in ein falsches Leben geraten, als hingen sie mit dem einen Bein in einem dampfigen Gestern und mit dem anderen in einem vernebelten Morgen. Als führten die "Einzelhaftheiten",wie sie hier sagen, ein Eigenleben. Aber welch sonderbar sirrende, zuweilen hochkomische, dann wieder abgrundtief traurige zwei Stunden Theater daraus werden! Schön, ach was: berückend. Und doch so beunruhigend. [...]

Bei Kruse ist dieser Mann ein Söldner mit Sand im Stiefel, den Manuel Harder konsequent zum Lonely Rider macht und der in Linda Pöppel als mörderischen Gegenüber eine optimale Duellpartnerin findet. Dieses unmögliche Paar überschüttet Kruse mit Geschichten, Zeichen, Songs und Grimassen, dass es zum Weltuntergangspaar wird. Wenn sie sprechen, sind die Verben verschoben, die Worte in Auflösung begriffen, alles hängt ab von "Dingen, Dingen, Dingeling, dong dong". Und alles ist in ein "Missverirrtum" verwickelt und entsprechend parallel, wo die wirkliche Welt keine Parallelen erkennen will: Er ist auch ein heimkehrer in eine DDR, die es nicht mehr gibt, sie ein Flüchtling in eine Super-Sonnen-Welt, die es genauso wenig gibt. Alles Feste, Sichere löst sich auf. Und wenn nichts mehr kommt, kommt bei Kruse immer ein Song: John Lennon, Wolf Biermann. Diesmal aber kommt auch ein Meteor, als wär's ein Film von Lars von Trier. [...]

Besser hat es an diesem bemerkenswert coolen wie unverschämt ungeschliffenen Abend, wer ihn als Bild nimmt, am besten vielleicht wie eines von Hieronymus Bosch: als Angst- und Sehnsuchtsgemälde, voller schräger Existenzen, Fabelwesen, Schauerausgeburten, Witzfiguren. Schön.
Immerfort schreitet ein dunkelschimmerndes Wesen, halb Zauberin, halb Dämon, über die Bühne und kehrt das dürre Stroh von hier nach dort. [...]

In diesem geheimnisreichen Besenwesen hat man den gesamten zweistündigen Abend von Jürgen Kruse, seine innere Glut, sein Begehr, seine Spielweisen. Und man hat dies alles, wie es Kruse in seinen besten Arbeiten dem Publikum schenkt: als wäre es schief in eine nch schiefere Welt gehängt, als seien Figuren mit ihren Sätzen und Sehnsüchten in ein falsches Leben geraten, als hingen sie mit dem einen Bein in einem dampfigen Gestern und mit dem anderen in einem vernebelten Morgen. Als führten die "Einzelhaftheiten",wie sie hier sagen, ein Eigenleben. Aber welch sonderbar sirrende, zuweilen hochkomische, dann wieder abgrundtief traurige zwei Stunden Theater daraus werden! Schön, ach was: berückend. Und doch so beunruhigend. [...]

Bei Kruse ist dieser Mann ein Söldner mit Sand im Stiefel, den Manuel Harder konsequent zum Lonely Rider macht und der in Linda Pöppel als mörderischen Gegenüber eine optimale Duellpartnerin findet. Dieses unmögliche Paar überschüttet Kruse mit Geschichten, Zeichen, Songs und Grimassen, dass es zum Weltuntergangspaar wird. Wenn sie sprechen, sind die Verben verschoben, die Worte in Auflösung begriffen, alles hängt ab von "Dingen, Dingen, Dingeling, dong dong". Und alles ist in ein "Missverirrtum" verwickelt und entsprechend parallel, wo die wirkliche Welt keine Parallelen erkennen will: Er ist auch ein heimkehrer in eine DDR, die es nicht mehr gibt, sie ein Flüchtling in eine Super-Sonnen-Welt, die es genauso wenig gibt. Alles Feste, Sichere löst sich auf. Und wenn nichts mehr kommt, kommt bei Kruse immer ein Song: John Lennon, Wolf Biermann. Diesmal aber kommt auch ein Meteor, als wär's ein Film von Lars von Trier. [...]

Besser hat es an diesem bemerkenswert coolen wie unverschämt ungeschliffenen Abend, wer ihn als Bild nimmt, am besten vielleicht wie eines von Hieronymus Bosch: als Angst- und Sehnsuchtsgemälde, voller schräger Existenzen, Fabelwesen, Schauerausgeburten, Witzfiguren. Schön.
Der Tagesspiegel
Christine Wahl, 05.12.2017
Jürgen-Kruse-Inszenierungen sind ja irgendwie so was wie die letzten sicheren Bänke der Theaterbranche. [...]

Hinter dem Tresen lümmelt Barbara Schnitzler und vermeldet in persönlicher Bestnölform in der Rolle der "Mutter", dass "er" auf jeden Fall wiederkommen werde. Eine fundamental wichtige Information. Denn gemeinsam mit Tochter Martha, die lasziv und gleichzeitig begnadet laszivitätsparodierend in einem Sommerblumenkleid an der Rampe auf- und abschreitet (was wirklich nicht viele Schauspielerinnen so traumwandlerisch beherrschen wie Linda Pöppel), geht sie einem äußerst aufregenden Gewerbe nach, für das die Wiederkunft solventer "Ers" unabdingbare Voraussetzung ist. Mutter und Tochter bewirtschaften eine Herberge und bringen jeden finanziell einigermaßen sanierten Gast, der sich entschließt, bei ihnen abzusteigen, gnadenlos um die Ecke, um sich vom Diebesgut zeitnah ein Leben an Meer und Sonne leisten zu können. Aus diesem Grund wird die Bühne frontal von einem schwarz-gelben Polizeiband mit Fernsehkrimi-Charme veredelt: "Police line, do not cross". [...]

Kruse nimmt den Camus'schen Plot über die fundamentale Daseinsabsurdität – was dem 73 Jahre alten Stück definitiv nicht schlechttut – eher als Gruselschocker und platziert ihn irgendwo zwischen Tragikomödie und Farce, mit deutlichem Pendelausschlag in letztere Richtung. [...]

Dass die Schauspieler an diesem Abend bestens in Form sind, steht außer Frage. Barbara Schnitzler steigert sich im Moment der Erkenntnis, soeben ihren Sohn umgebracht zu haben, in einen Kreischanfall von wirklich herrlich komplexen Gnaden. Manuel Harder holt aus dem "verlorenen Sohn" eher den halbseiden verschwitzten Gigolo heraus und liefert sich mit Linda Pöppel als Schwester Martha auf höchstem Niveau sinnfrei vor sich hin kalauernde Inzest-Verführungsspielchen, bevor er sich in einer aufwendigen Art Ganzkörperbandage praktischerweise mehr oder weniger selbst entsorgt. Und Alexandra Finder, die hier – gemessen am Stücktext – als Jans Gattin Maria eine vergleichsweise unbesorgte Dauerpräsenz an den Tag legt, lässt wirklich keinerlei Zweifel daran, prinzipiell dringlichere Probleme zu haben, als irgendwo den eigenen Mann "abzuhängen, äh, -holen." Hymnischer Beifall der Kruse- Stammfraktion.
Jürgen-Kruse-Inszenierungen sind ja irgendwie so was wie die letzten sicheren Bänke der Theaterbranche. [...]

Hinter dem Tresen lümmelt Barbara Schnitzler und vermeldet in persönlicher Bestnölform in der Rolle der "Mutter", dass "er" auf jeden Fall wiederkommen werde. Eine fundamental wichtige Information. Denn gemeinsam mit Tochter Martha, die lasziv und gleichzeitig begnadet laszivitätsparodierend in einem Sommerblumenkleid an der Rampe auf- und abschreitet (was wirklich nicht viele Schauspielerinnen so traumwandlerisch beherrschen wie Linda Pöppel), geht sie einem äußerst aufregenden Gewerbe nach, für das die Wiederkunft solventer "Ers" unabdingbare Voraussetzung ist. Mutter und Tochter bewirtschaften eine Herberge und bringen jeden finanziell einigermaßen sanierten Gast, der sich entschließt, bei ihnen abzusteigen, gnadenlos um die Ecke, um sich vom Diebesgut zeitnah ein Leben an Meer und Sonne leisten zu können. Aus diesem Grund wird die Bühne frontal von einem schwarz-gelben Polizeiband mit Fernsehkrimi-Charme veredelt: "Police line, do not cross". [...]

Kruse nimmt den Camus'schen Plot über die fundamentale Daseinsabsurdität – was dem 73 Jahre alten Stück definitiv nicht schlechttut – eher als Gruselschocker und platziert ihn irgendwo zwischen Tragikomödie und Farce, mit deutlichem Pendelausschlag in letztere Richtung. [...]

Dass die Schauspieler an diesem Abend bestens in Form sind, steht außer Frage. Barbara Schnitzler steigert sich im Moment der Erkenntnis, soeben ihren Sohn umgebracht zu haben, in einen Kreischanfall von wirklich herrlich komplexen Gnaden. Manuel Harder holt aus dem "verlorenen Sohn" eher den halbseiden verschwitzten Gigolo heraus und liefert sich mit Linda Pöppel als Schwester Martha auf höchstem Niveau sinnfrei vor sich hin kalauernde Inzest-Verführungsspielchen, bevor er sich in einer aufwendigen Art Ganzkörperbandage praktischerweise mehr oder weniger selbst entsorgt. Und Alexandra Finder, die hier – gemessen am Stücktext – als Jans Gattin Maria eine vergleichsweise unbesorgte Dauerpräsenz an den Tag legt, lässt wirklich keinerlei Zweifel daran, prinzipiell dringlichere Probleme zu haben, als irgendwo den eigenen Mann "abzuhängen, äh, -holen." Hymnischer Beifall der Kruse- Stammfraktion.
Süddeutsche Zeitung
Mounia Meiborg, 06.12.2017
Jürgen Kruse hat inszeniert, aber vielleicht sollte man besser sagen: gewütet. "Das Missverständnis" wird bei ihm zu einem düsteren Schauermärchen. Das Verbrechen ist hier längst zur Routine geworden.
Eine Polizeiabsperrung trennt die Bühne von den Zuschauern. Dahinter ist Chaos zu sehen, das Volker Hintermeier mit viel Liebe zum Detail gebaut hat. [...]

Gleich am Anfang ist eine knarzende Mundharmonika wie von Ennio Morricone zu hören. Später darf man sich an Quentin Tarantino und Bonnie und Clyde erinnert fühlen.

Gesprochen wird nicht Camus' Text, sondern eine aus dem Originaltext entwickelte Kunstsprache; eine Mischung aus Feridun Zaimoglus Kanak Sprak, Jelinek'schen Kalauern und dadaistischen Lautgedichten. Sätze ohne Verben und ohne Artikel sind das, mit verdrehter Syntax. Oder die Worte werde so lange zerdehnt, bis sie eine zweite und dritte Bedeutung bekommen. Nicht selten eröffnen diese sprachlichen Entgleisungen in Freudscher Manier auch Untiefen, die eigentlich verborgen bleiben sollten. Sie führen in die deutsche Geschichte, wenn von Böhmen und Vertriebenenverbänden die Rede ist. Und in die Kolonialgeschichte, wenn von Ehrenlegionen und Hautfarben gesprochen wird - Algerien taucht im Text immer wieder als Sehnsuchtsort auf. Die Handlung bleibt dabei erstaunlich nah am Original. [...]

Barbara Schnitzler gibt die Mutter herrlich trocken. Und Linda Pöppel stattet die Tochter als faszinierende Gangsterbraut mit einer gefährlichen Kälte aus. Ihr Lächeln knipst sie nach Belieben an und aus. Dem heimkehrenden Bruder rückt sie mit erotischem Rock'n'Roll zu Leibe. Manuel Harder spielt ihn als breitbeinigen Kerl, der sich in improvisierten Monolog-Kaskaden um Kopf und Kragen redet. Fast wie auf einer Probe wirkt das, unmittelbar und angstfrei. [...]
Jürgen Kruse hat inszeniert, aber vielleicht sollte man besser sagen: gewütet. "Das Missverständnis" wird bei ihm zu einem düsteren Schauermärchen. Das Verbrechen ist hier längst zur Routine geworden.
Eine Polizeiabsperrung trennt die Bühne von den Zuschauern. Dahinter ist Chaos zu sehen, das Volker Hintermeier mit viel Liebe zum Detail gebaut hat. [...]

Gleich am Anfang ist eine knarzende Mundharmonika wie von Ennio Morricone zu hören. Später darf man sich an Quentin Tarantino und Bonnie und Clyde erinnert fühlen.

Gesprochen wird nicht Camus' Text, sondern eine aus dem Originaltext entwickelte Kunstsprache; eine Mischung aus Feridun Zaimoglus Kanak Sprak, Jelinek'schen Kalauern und dadaistischen Lautgedichten. Sätze ohne Verben und ohne Artikel sind das, mit verdrehter Syntax. Oder die Worte werde so lange zerdehnt, bis sie eine zweite und dritte Bedeutung bekommen. Nicht selten eröffnen diese sprachlichen Entgleisungen in Freudscher Manier auch Untiefen, die eigentlich verborgen bleiben sollten. Sie führen in die deutsche Geschichte, wenn von Böhmen und Vertriebenenverbänden die Rede ist. Und in die Kolonialgeschichte, wenn von Ehrenlegionen und Hautfarben gesprochen wird - Algerien taucht im Text immer wieder als Sehnsuchtsort auf. Die Handlung bleibt dabei erstaunlich nah am Original. [...]

Barbara Schnitzler gibt die Mutter herrlich trocken. Und Linda Pöppel stattet die Tochter als faszinierende Gangsterbraut mit einer gefährlichen Kälte aus. Ihr Lächeln knipst sie nach Belieben an und aus. Dem heimkehrenden Bruder rückt sie mit erotischem Rock'n'Roll zu Leibe. Manuel Harder spielt ihn als breitbeinigen Kerl, der sich in improvisierten Monolog-Kaskaden um Kopf und Kragen redet. Fast wie auf einer Probe wirkt das, unmittelbar und angstfrei. [...]
Reihesiebenmitte
Sylva Kleemann, 07.12.2017
Kruse is back in Berlin. Er hat – nicht zum ersten Mal – das "Missverständnis" von Camus am Wickel und macht daraus am Deutschen Theater ein lustvoll-böses Schauermärchen. [...]

Geisterwesen bevölkern den Raum, ein gemeiner Spuk, getriebene Unwesen an Unorten, die der Welt abhanden gekommen sind. Existentialmus! wirft der ansonsten stumme Diener Jürgen Huth ab und an mit stoischer Ruhe in den Raum wie Alexandra Finder als so an-wie abwesende Braut die Tischtennisbälle.Manuel Harder gibt mit dem Heimkehrer Jan seinen Einstand am Deutschen Theater wie dereinst mit Borcherts Beckmann am Schauspiel Frankfurt. Er und Linda Pöppel sind mittlerweile das Dreamteam im Kruseversum. Pöppel als eine femme macabre voller Sehnsucht und doch längst resigniert, manipulativ, eiskaltes Blut. Harder hemdsärmelig ganz naiv-leicht und im gleichen Moment von einer Weltklugheit, die schon alles gesehen hat. Beide mit Worten fechtend, mit sich und der Sprache spielend – die sie lustvoll dehnen, auf den Worten kauen und sie sich vor die Füße spucken, spitzfindigekluge Assoziationswirbel tanzen lassen, dass es einem ganz schwummerig wird … Herrlich!Dazu die alten Songs aus dem Plattenzauberkoffer des Rock’n’Roll-Ausnahmeregisseurs. Biermann ist heuer dabei (der 89 auch heimkehrte in ein Land, dass es schon nicht mehr gab), Cohen, John Lennon. Und eine schauerliche deutsche Version von Mr. Tambourine Man, die wohl Drafi Deutscher verbrochen hat. Ein Spieler eben, dieser Kruse. Einer, der alle Saiten des Instruments Theater zupft, streicht, gern auch mal zerreißt. Ein Komponist seiner Abende. Und am Ende ist aus tausend dahingestreuten Einzelhaftheiten (wie es an einer anderen Stelle wiederum schön verquer heißt) wieder ein Ganzes entstanden, das so viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Zauberei. [...]
Kruse is back in Berlin. Er hat – nicht zum ersten Mal – das "Missverständnis" von Camus am Wickel und macht daraus am Deutschen Theater ein lustvoll-böses Schauermärchen. [...]

Geisterwesen bevölkern den Raum, ein gemeiner Spuk, getriebene Unwesen an Unorten, die der Welt abhanden gekommen sind. Existentialmus! wirft der ansonsten stumme Diener Jürgen Huth ab und an mit stoischer Ruhe in den Raum wie Alexandra Finder als so an-wie abwesende Braut die Tischtennisbälle.Manuel Harder gibt mit dem Heimkehrer Jan seinen Einstand am Deutschen Theater wie dereinst mit Borcherts Beckmann am Schauspiel Frankfurt. Er und Linda Pöppel sind mittlerweile das Dreamteam im Kruseversum. Pöppel als eine femme macabre voller Sehnsucht und doch längst resigniert, manipulativ, eiskaltes Blut. Harder hemdsärmelig ganz naiv-leicht und im gleichen Moment von einer Weltklugheit, die schon alles gesehen hat. Beide mit Worten fechtend, mit sich und der Sprache spielend – die sie lustvoll dehnen, auf den Worten kauen und sie sich vor die Füße spucken, spitzfindigekluge Assoziationswirbel tanzen lassen, dass es einem ganz schwummerig wird … Herrlich!Dazu die alten Songs aus dem Plattenzauberkoffer des Rock’n’Roll-Ausnahmeregisseurs. Biermann ist heuer dabei (der 89 auch heimkehrte in ein Land, dass es schon nicht mehr gab), Cohen, John Lennon. Und eine schauerliche deutsche Version von Mr. Tambourine Man, die wohl Drafi Deutscher verbrochen hat. Ein Spieler eben, dieser Kruse. Einer, der alle Saiten des Instruments Theater zupft, streicht, gern auch mal zerreißt. Ein Komponist seiner Abende. Und am Ende ist aus tausend dahingestreuten Einzelhaftheiten (wie es an einer anderen Stelle wiederum schön verquer heißt) wieder ein Ganzes entstanden, das so viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Zauberei. [...]
Kultur Volk
Reinhard Wengierek, 30.01.2018
Eine tolle Nummer für die große Barbara Schnitzler. Anfangs gibt sie bis hinein in die Artikulation die aparte Königin des kaltschnäuzigen Sarkasmus‘; des vornehm Rüden. Ein elegant souveränes Miststück. Dann aber, wie gesagt, kommt ihr alle Welt erschütternder Schmerzensschrei als Muttertier, als Kindsmörderin. Eine tolle Nummer für die große Barbara Schnitzler. Anfangs gibt sie bis hinein in die Artikulation die aparte Königin des kaltschnäuzigen Sarkasmus‘; des vornehm Rüden. Ein elegant souveränes Miststück. Dann aber, wie gesagt, kommt ihr alle Welt erschütternder Schmerzensschrei als Muttertier, als Kindsmörderin.
Theater Heute
Barbara Buckhardt, 02.02.2018
Alber Camus´"Das Missverständnis". Da muss etwas sein, was Kruses wildwuchernde Fantasie immer wieder aufs Neue freisetzt. [...]

In wohlbekanntem Dämmerlicht hat Volker Hintermeier eine vollgerümpelte Hotellobby in die Kammerspiele des Detschen Theaters gebaut, eine Gruselkammerhinter gelber Flatterbandabsperrung (police line, do not cross) voller assoziationsreicher Anspielungen [...] .

Und von beträchtlicher Bedeutung, die Souffleuse Marion Rommel, die am Premierenabend gut zu tun hatte mit dieser sich lässig im Spiel verausgabenden Crew, der Kruse eine Textfassung in den Mund legt, an der nichts selbstverständlich ist.

Denn die Sätze, "nach" der Übersetzung von Guido G. Meister, klingen, als sei ein Computerprogramm auf den französischen Originaltext angesetzt worden, programmiert im Jelinek-Kalauer-Modus und einmal durchgedreht im B2-Sprachkurs. Da fehlen Artikel und Verben, Punkte zerhauen die Sätze, aus "Einzelheiten" werden "Einzelhaftheiten", Macron schiebt sich dazwischen und Willkommenskultur, sehr nebenbei. Den fabelhaften Schauspielern fällt der sperrige Sprech aus den Mündern, als würde er just im Moment generiert [...]

Barbara Schnitzler als kehlstimmige, illusionslose Mutter für die alles längst zu spät ist, und Linda Pöppel als eisem über die Trostlosigkeit hinwegstrahlende Martha. Mit ihrem unerwartet aufgetauchten Bruder, den Manuel Harder mit der coolen Ser¡rness eines Fremdenlegionärs im Safari-Oudit versieht, veranstaltet sie ein hocherotisches Wäschefalttänzchen, bevor sie ihm die vergiftete Teetasse verabreicht bzw. blutrot über dem Kopf ausschüttet. [...]

Und so endet der atmosphärenstarke Abend, durch den als dritte Assoziationsebene Kruses Plattensammlung geführt hatte, nach düsterem Wolf-Biermann-Raunen ("Ach, Mutter, mach die Ttiren zu"), Dylans auf Deutsch verballhorntem Song der Heimatlosen "Tambourine Man" und nach Charles Aznavours Aufforderung, sich zusammenzureißen ("Du lässt Dich gehen") mit Mitch Ryders Hoffraungssong: "One day if our love is strong, we'll see blue skies at las! while storms of red nights pass away, in streets we'll meet and smile again, when the bombs stop falling on Berlin." Mitch Ryder, genau so ein Stehaufmännchen wie Jürgen Kruse und die Sisyphose von Camus. Da passt plötzlich alles zusammen. Fast eine Weihnachtsverheißung.
Alber Camus´"Das Missverständnis". Da muss etwas sein, was Kruses wildwuchernde Fantasie immer wieder aufs Neue freisetzt. [...]

In wohlbekanntem Dämmerlicht hat Volker Hintermeier eine vollgerümpelte Hotellobby in die Kammerspiele des Detschen Theaters gebaut, eine Gruselkammerhinter gelber Flatterbandabsperrung (police line, do not cross) voller assoziationsreicher Anspielungen [...] .

Und von beträchtlicher Bedeutung, die Souffleuse Marion Rommel, die am Premierenabend gut zu tun hatte mit dieser sich lässig im Spiel verausgabenden Crew, der Kruse eine Textfassung in den Mund legt, an der nichts selbstverständlich ist.

Denn die Sätze, "nach" der Übersetzung von Guido G. Meister, klingen, als sei ein Computerprogramm auf den französischen Originaltext angesetzt worden, programmiert im Jelinek-Kalauer-Modus und einmal durchgedreht im B2-Sprachkurs. Da fehlen Artikel und Verben, Punkte zerhauen die Sätze, aus "Einzelheiten" werden "Einzelhaftheiten", Macron schiebt sich dazwischen und Willkommenskultur, sehr nebenbei. Den fabelhaften Schauspielern fällt der sperrige Sprech aus den Mündern, als würde er just im Moment generiert [...]

Barbara Schnitzler als kehlstimmige, illusionslose Mutter für die alles längst zu spät ist, und Linda Pöppel als eisem über die Trostlosigkeit hinwegstrahlende Martha. Mit ihrem unerwartet aufgetauchten Bruder, den Manuel Harder mit der coolen Ser¡rness eines Fremdenlegionärs im Safari-Oudit versieht, veranstaltet sie ein hocherotisches Wäschefalttänzchen, bevor sie ihm die vergiftete Teetasse verabreicht bzw. blutrot über dem Kopf ausschüttet. [...]

Und so endet der atmosphärenstarke Abend, durch den als dritte Assoziationsebene Kruses Plattensammlung geführt hatte, nach düsterem Wolf-Biermann-Raunen ("Ach, Mutter, mach die Ttiren zu"), Dylans auf Deutsch verballhorntem Song der Heimatlosen "Tambourine Man" und nach Charles Aznavours Aufforderung, sich zusammenzureißen ("Du lässt Dich gehen") mit Mitch Ryders Hoffraungssong: "One day if our love is strong, we'll see blue skies at las! while storms of red nights pass away, in streets we'll meet and smile again, when the bombs stop falling on Berlin." Mitch Ryder, genau so ein Stehaufmännchen wie Jürgen Kruse und die Sisyphose von Camus. Da passt plötzlich alles zusammen. Fast eine Weihnachtsverheißung.

Außerdem im Spielplan

Wiederaufnahme
Mit englischen Übertiteln
von Friedrich Schiller
Regie: Anne Lenk
DT Bühne
19.00 - 21.10
Ausverkauft
Evtl. Restkarten an der Abendkasse
Mit englischen Übertiteln
Anti-Stück von Eugène Ionesco
Regie: Anita Vulesica
Kammer
19.30 - 21.15
Ausverkauft
Evtl. Restkarten an der Abendkasse