
Sonntagsgespräch
Kulturjournalist Tobi Müller (im normalen DT-Leben eine Gastgeberhälfte des Popsalons) traf sich für den DT Heimspiel Blog mit verschiedenen Gesprächspartnern im Video-Chat. Jeden Sonntag wurde eines der Interviews veröffentlicht. Hier finden Sie alle Sonntagsgespräche in voller Länge zum Nachlesen.
Sonntag, 24. Mai 2020
"ICH WÜNSCHE MIR, DASS DIE KRISE MIT EINER THEATEREUPHORIE ENDET"

Foto: Linn Reusse im Video-Chat mit Tobi Müller
In der letzten Runde der Interviewreihe Sonntagsgespräch kommt die Schauspielerin Linn Reusse zu Wort. Die Ensemblesprecherin und Berlinerin sprach am 18. Mai mit Tobi Müller über die Proben von Fräulein Julie kurz vor der Schließung, über das Spiel der Generationen und über die Zukunft.
Linn Reusse: Hm, seltsam. Bisher habe ich solche Videokonferenzen nur mit Leuten geführt, die ich kenne, beruflich wie privat.
Werden wir uns je daran gewöhnen? Ob wir uns kennen oder nicht?
Linn Reusse: Ich möchte mich nicht daran gewöhnen. Obwohl ich sehr dankbar bin um diese technologische Alternative. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es ohne wäre. Aber das strengt mich einfach auch an, dieses auf den Bildschirm schauen.
Aber Sie haben viel Filmerfahrung …
Linn Reusse: Mein Job besteht darin, die Kamera gerade nicht anzugucken. Und als Filmschauende ist es nochmal eine andere Illusion.
Sie schauen jetzt nicht in die Kamera, sondern vermutlich auf mein Videobild.
Linn Reusse: Stimmt, ich müsste da oben hingucken, an den Rand, aber das wäre auch seltsam. Die Kamera müsste in der Mitte des Bildschirms sein, das wäre toll!
Bei der Schließung des Theaters Mitte März stand "Fräulein Julie" in der Regie von Timofej Kuljabin gut eine Woche vor der Premiere. Bereits davor begann die große Unsicherheit im Anblick der Pandemie. Wie hat man da geprobt?
Linn Reusse: Wir haben zwar darüber gesprochen, aber es war noch sehr abstrakt – unvorstellbar, dass das gerade passiert. So geht es mir ja heute noch. Wir kamen aus einer Hauptprobe heraus, als uns gesagt wurde, dass die Inszenierung verschoben werden würde. Es war uns im Hinterkopf vermutlich klar, dass die Theater nicht ewig auf bleiben können.
Und wie hat das die Arbeit verändert?
Linn Reusse: Es war bereits eine Wahnsinnsarbeit gewesen, an der wir enorm gewerkelt hatten in den Wochen davor. Es war klar, dass wenn wir jetzt hier den Ablauf des Stückes spielen, wir trotzdem alles geben. Um die Inszenierung zu überprüfen, ob wir richtig lagen. Das haben wir professionell durchgezogen, ja.
Was war so anstrengend?
Linn Reusse: Der Regisseur, Kuljabin, hat das Stück umgeschrieben, um den Konflikt in die Gegenwart zu holen. Gleichzeitig ist er in einen extremen Hyperrealismus gegangen. In dieser Form von Realismus habe ich bisher noch nie gearbeitet. Das war neu für mich. Gerade mit dieser Figur, Julie, die einen riesigen Bogen zu spielen hat und den Abend tragen muss.
Das Stück ist strukturiert von extremen Klassenunterschieden. Die treten heute nicht mehr immer so offen zutage. Oder doch?
Linn Reusse: Das war der Hauptpunkt für den Regisseur, das Stück zu modernisieren. Das Stück so zu behaupten mit diesen krassen Klassenunterschieden, wäre heute schwierig. Und nur die Liebesgeschichte zu zeigen, wäre zu wenig. Natürlich kann man auch heute von einem Gefälle erzählen. Jean ist noch immer der Angestellte, Julie noch immer die verwöhnte reiche Tochter. Aber es ging uns stärker um Manipulation und Machtgier, und zwar auf beiden Seiten. Das ist im Stück zwar schon angelegt, aber wir haben die Schrauben da nochmal enger gezogen.
Und wie schließt man daran wieder an? Sie begannen die Arbeit ja vor der Pandemie. Auf die Bühne kommt sie in einer anderen Welt. Wie findet man da den Faden wieder?
Linn Reusse: Ich habe keine Ahnung. Auch weil es schmerzhaft ist. Wir müssten unseren Abend, um ihn jetzt zeigen zu können, auf die neuen Sicherheitsbestimmungen uminszenieren. Aber das ist schwer, weil wir so realistisch gearbeitet haben, was einen Kommentar auf die Zeit im Grunde verbietet.
Rein körperlich, oder inhaltlich?
Linn Reusse: Rein physisch. Ich war gerade beim Sicherheitsausschuss im DT, der hat sich neu gegründet. Und da geht es für uns Schauspieler_innen darum, dass wir die Abstände einhalten. Das ändert alles (seufzt). Ob wir die Inszenierung entsprechend ändern und im Herbst zeigen können oder ob wir länger verschieben, vielleicht bis Herbst 2021, das weiß ich nicht. Der erste Punkt ist allerdings, dass der Regisseur in Nowosibirsk sitzt und nicht ausreisen kann. Und dann bleibt die Frage, wie wir es überhaupt angehen würden. Müssen wir uns wie die Fußballer zwei Wochen vor der Premiere in Quarantäne begeben, machen wir Tests? Es war ein Gedanke, damit die Kammerspiele zu eröffnen im Herbst, aber wir wissen es noch nicht.
Weil wir bei Klassenunterschieden waren: Es ging in den letzten Jahren oft um andere Unterschiede, der Herkunft, der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung. Und entlang dieser Begriffe zeichnet sich ein Generationengraben ab. Sehen Sie den, auch im Theater?
Linn Reusse: Schwer zu sagen, weil ich mir momentan die Theaterlandschaft generell nicht vorstellen kann. Gerade wenn es um Generationen geht. Kommen dann nur die Jungen? Was heißt es für ein Haus, in dem das Publikum tendenziell doch etwas älter ist? Auch da sehen wir, dass Corona Unterschiede betont. Genauso wie bei den Klassenunterschieden, von denen wir sprachen, anscheinend gibt es ja doch Klassen. Das wird jetzt sehr sichtbar.
"Ok Boomer" oder "Alter weißer Mann" sind etwas auf dem Rückzug als Debattenbegriffe, vielleicht weil beide zur Hochrisikogruppe gehören. Wie beobachten Sie das?
Linn Reusse: Im Radio habe ich vor ein paar Wochen etwas Lustiges gehört dazu. Letztes Jahr noch lautete ein Vorwurf der Jüngeren gegenüber Älteren: Ihr nehmt den Klimawandel nicht ernst! Und jetzt sagen die Älteren: Und ihr haltet Euch nicht an die Beschränkungen, wir sind euch auch egal! Diesen Gegensatz finde ich ganz treffend. In Berlin ist es schon quälend zu sehen, wie voll die Parks wieder sind. Überhaupt nicht zu ertragen sind die sogenannten Hygiene-Demos, aber das betrifft nicht nur Berlin. Wie man diese Krise einfach leugnen kann, das ist schon erstaunlich. Und da sind ja alle möglichen Generationen unterwegs.
Wie ist es denn im Theater? Wer kommt zu den Proben, wer bleibt zu Hause?
Linn Reusse: Da spielt das Alter manchmal schon eine Rolle. Wenn ein Kollege dabei ist, der sehr viel älter ist als die anderen und wir nicht wissen, wie und ob wir eine Inszenierung abändern. Was versucht wird: Produktionen zu suchen, die erstens klein sind und zweitens die Generationen nicht so mixen. Vermutlich sind es eher die Jungen, die nun viel arbeiten. Aber wo kommen wir denn da hin? Das ist ja nicht unser Ziel. Aber es ist schwer, weil man sich ständig Gedanken macht: Könnte ich diejenige sein, die das Virus ins Theater trägt? Wie sollen wir uns mit der Frage der Verantwortung auseinandersetzen im Herbst?
Sind das auch Fragen, die Sie in Ihrer Rolle als Ensemblesprecherin umtreiben?
Linn Reusse: Marcel Kohler und ich machen das zu zweit …
Also gleich zwei junge Positionen…
Linn Reusse: Ja, wir sind viel im Gespräch. Mit der Intendanz, mit dem erwähnten Sicherheitsausschuss. Da ist jetzt viel dazugekommen, sonst ist die Aufgabe nicht so stressig. Es ist aber auch schön, weil ich so im Kontakt mit dem Haus bleibe, das mir fehlt. Dafür bin ich dankbar. Das ist für mich ja nicht einfach nur ein Beruf.
Sie vermissen das alles sehr …
Linn Reusse: Ja! Ich bin auch zu allen Schandtaten bereit. Ich würde mich in Quarantäne begeben, um spielen zu können. Ich würde in Astronautenanzügen spielen oder was da an Vorschlägen noch so kommt (lacht). Wir müssen uns jetzt Gedanken machen, wie Theater weitergeht. Wir können nicht einfach aufhören und erst wieder anfangen, wenn alles, wirklich alles vorüber ist. Das kann nicht die Schlussfolgerung sein. Wie es trotzdem weitergehen kann, unter den aktuellen Bedingungen, auch das ist eine Verantwortung. Und da Lösungen zu finden, kann man auch als etwas Positives betrachten.
Probieren mit Hygienemaßnahmen, wie geht das? Lassen sich solche emotionalen Vorgänge so streng kontrollieren?
Linn Reusse: Per Zufall habe ich eben etwas von der Sportschau gesehen, ist eigentlich nicht mein Ding. Es war ein Geisterspiel, natürlich, ohne Publikum. Beim Torjubel stürzen sich alle aufeinander und freuen sich. Und der Kommentator sagte sinngemäß: Naja, nach einem Tor fällt es halt schwer, sich nicht zu umarmen. Das wird im Theater ähnlich schwer sein. Wir schießen zwar keine Tore, aber im übertragenen Sinn halt doch. Vor der Premiere, auf der Bühne, danach. Aber man muss es eben anders machen jetzt. Die Kollegen, die schon wieder proben, berichten: 1,5 Meter Abstand, wer schreit, dreht sich weg. Alles was körperlich im Stück eingeschrieben ist, muss anders übersetzt werden für die Bühne. Und jede Stunde muss gelüftet werden. Uli Matthes hat das im Interview mit Ihnen "Safer Acting" genannt. So sieht es aus, das wird das Theaterwort des Jahres!
Mal abgesehen vom Spielen: Was vermissen Sie am meisten?
Linn Reusse: Meine Eltern, sogar meine Großeltern habe ich jüngst wiedergesehen. Mit Mundschutz und Abstand. Aber niemanden in den Arm zu nehmen, das vermisse ich schon sehr. Das haben wir auch tatsächlich nicht gemacht.
Apropos Großeltern: In Ihrem Fall sind das beides Schauspieler. Wie blicken die auf die gegenwärtige Situation am Theater?
Linn Reusse: Generell sind die erstmal cool. Sie haben einfach eine andere Sicht auf Zeit. Sie leiden eher für mich. Ich weiß aber, dass sie viel Theater schauen, als Stream oder im Fernsehen. Sie leben auf dem Land und haben auch sonst nicht immer die Möglichkeit, eben mal kurz nach Bochum ins Theater zu gehen. Die schauen also gerne Hamlet, wie er beim Theatertreffen gezeigt wurde. Und sie wissen ziemlich genau, was überall in den Spielplänen steht oder stand. Das Streaming verschafft ihnen Zugang.
Wie ist es mit dem Reisen? Zwei Dinge sprechen dagegen: erstens die Pandemie, zweitens dass Sie Berlinerin sind. Die haben die Tendenz, in Berlin zu bleiben, weil es hier halt am schönsten ist, oder?
Linn Reusse: Exakt! Och, Sommer in Berlin is’ doch super, dit reischt mir!
Worauf ich hinaus will: Ist der Unterschied so groß in Ihrem Fall, waren Sie viel unterwegs in den letzten vier Jahren, in denen Sie so viel gearbeitet haben?
Linn Reusse: Nee, tatsächlich, da entspreche ich dem Berlin-Klischee und bin nicht so viel gereist. Aber jetzt kriege ich den Rappel! Plötzlich denke ich, so, jetzt kannst du aber nach Rom fliegen. Oder zur Schwester nach Stockholm. Nach zwei Sekunden ist dann klar: Nein, ist nicht die Zeit dafür. Obwohl ich endlich mal welche hätte!
Was wird sich ändern im Theater, wenn der Schlamassel vorbei ist? Und ich meine: richtig vorbei, ohne Masken und dergleichen?
Linn Reusse: Ich glaube schon, dass sich dann vieles ändert, klar. Man wird die Nähe der Körper auskosten. Vielleicht auch sogar zwischen Bühne und Publikum, auch da kann ich mir vorstellen, dass mehr Nähe gesucht werden wird. Am Ende spielen wir mitten im Publikum! Ich wünsche mir, dass die Krise mit einer Theatereuphorie endet.
Linn Reusse: Hm, seltsam. Bisher habe ich solche Videokonferenzen nur mit Leuten geführt, die ich kenne, beruflich wie privat.
Werden wir uns je daran gewöhnen? Ob wir uns kennen oder nicht?
Linn Reusse: Ich möchte mich nicht daran gewöhnen. Obwohl ich sehr dankbar bin um diese technologische Alternative. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es ohne wäre. Aber das strengt mich einfach auch an, dieses auf den Bildschirm schauen.
Aber Sie haben viel Filmerfahrung …
Linn Reusse: Mein Job besteht darin, die Kamera gerade nicht anzugucken. Und als Filmschauende ist es nochmal eine andere Illusion.
Sie schauen jetzt nicht in die Kamera, sondern vermutlich auf mein Videobild.
Linn Reusse: Stimmt, ich müsste da oben hingucken, an den Rand, aber das wäre auch seltsam. Die Kamera müsste in der Mitte des Bildschirms sein, das wäre toll!
Bei der Schließung des Theaters Mitte März stand "Fräulein Julie" in der Regie von Timofej Kuljabin gut eine Woche vor der Premiere. Bereits davor begann die große Unsicherheit im Anblick der Pandemie. Wie hat man da geprobt?
Linn Reusse: Wir haben zwar darüber gesprochen, aber es war noch sehr abstrakt – unvorstellbar, dass das gerade passiert. So geht es mir ja heute noch. Wir kamen aus einer Hauptprobe heraus, als uns gesagt wurde, dass die Inszenierung verschoben werden würde. Es war uns im Hinterkopf vermutlich klar, dass die Theater nicht ewig auf bleiben können.
Und wie hat das die Arbeit verändert?
Linn Reusse: Es war bereits eine Wahnsinnsarbeit gewesen, an der wir enorm gewerkelt hatten in den Wochen davor. Es war klar, dass wenn wir jetzt hier den Ablauf des Stückes spielen, wir trotzdem alles geben. Um die Inszenierung zu überprüfen, ob wir richtig lagen. Das haben wir professionell durchgezogen, ja.
Was war so anstrengend?
Linn Reusse: Der Regisseur, Kuljabin, hat das Stück umgeschrieben, um den Konflikt in die Gegenwart zu holen. Gleichzeitig ist er in einen extremen Hyperrealismus gegangen. In dieser Form von Realismus habe ich bisher noch nie gearbeitet. Das war neu für mich. Gerade mit dieser Figur, Julie, die einen riesigen Bogen zu spielen hat und den Abend tragen muss.
Das Stück ist strukturiert von extremen Klassenunterschieden. Die treten heute nicht mehr immer so offen zutage. Oder doch?
Linn Reusse: Das war der Hauptpunkt für den Regisseur, das Stück zu modernisieren. Das Stück so zu behaupten mit diesen krassen Klassenunterschieden, wäre heute schwierig. Und nur die Liebesgeschichte zu zeigen, wäre zu wenig. Natürlich kann man auch heute von einem Gefälle erzählen. Jean ist noch immer der Angestellte, Julie noch immer die verwöhnte reiche Tochter. Aber es ging uns stärker um Manipulation und Machtgier, und zwar auf beiden Seiten. Das ist im Stück zwar schon angelegt, aber wir haben die Schrauben da nochmal enger gezogen.
Und wie schließt man daran wieder an? Sie begannen die Arbeit ja vor der Pandemie. Auf die Bühne kommt sie in einer anderen Welt. Wie findet man da den Faden wieder?
Linn Reusse: Ich habe keine Ahnung. Auch weil es schmerzhaft ist. Wir müssten unseren Abend, um ihn jetzt zeigen zu können, auf die neuen Sicherheitsbestimmungen uminszenieren. Aber das ist schwer, weil wir so realistisch gearbeitet haben, was einen Kommentar auf die Zeit im Grunde verbietet.
Rein körperlich, oder inhaltlich?
Linn Reusse: Rein physisch. Ich war gerade beim Sicherheitsausschuss im DT, der hat sich neu gegründet. Und da geht es für uns Schauspieler_innen darum, dass wir die Abstände einhalten. Das ändert alles (seufzt). Ob wir die Inszenierung entsprechend ändern und im Herbst zeigen können oder ob wir länger verschieben, vielleicht bis Herbst 2021, das weiß ich nicht. Der erste Punkt ist allerdings, dass der Regisseur in Nowosibirsk sitzt und nicht ausreisen kann. Und dann bleibt die Frage, wie wir es überhaupt angehen würden. Müssen wir uns wie die Fußballer zwei Wochen vor der Premiere in Quarantäne begeben, machen wir Tests? Es war ein Gedanke, damit die Kammerspiele zu eröffnen im Herbst, aber wir wissen es noch nicht.
Weil wir bei Klassenunterschieden waren: Es ging in den letzten Jahren oft um andere Unterschiede, der Herkunft, der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung. Und entlang dieser Begriffe zeichnet sich ein Generationengraben ab. Sehen Sie den, auch im Theater?
Linn Reusse: Schwer zu sagen, weil ich mir momentan die Theaterlandschaft generell nicht vorstellen kann. Gerade wenn es um Generationen geht. Kommen dann nur die Jungen? Was heißt es für ein Haus, in dem das Publikum tendenziell doch etwas älter ist? Auch da sehen wir, dass Corona Unterschiede betont. Genauso wie bei den Klassenunterschieden, von denen wir sprachen, anscheinend gibt es ja doch Klassen. Das wird jetzt sehr sichtbar.
"Ok Boomer" oder "Alter weißer Mann" sind etwas auf dem Rückzug als Debattenbegriffe, vielleicht weil beide zur Hochrisikogruppe gehören. Wie beobachten Sie das?
Linn Reusse: Im Radio habe ich vor ein paar Wochen etwas Lustiges gehört dazu. Letztes Jahr noch lautete ein Vorwurf der Jüngeren gegenüber Älteren: Ihr nehmt den Klimawandel nicht ernst! Und jetzt sagen die Älteren: Und ihr haltet Euch nicht an die Beschränkungen, wir sind euch auch egal! Diesen Gegensatz finde ich ganz treffend. In Berlin ist es schon quälend zu sehen, wie voll die Parks wieder sind. Überhaupt nicht zu ertragen sind die sogenannten Hygiene-Demos, aber das betrifft nicht nur Berlin. Wie man diese Krise einfach leugnen kann, das ist schon erstaunlich. Und da sind ja alle möglichen Generationen unterwegs.
Wie ist es denn im Theater? Wer kommt zu den Proben, wer bleibt zu Hause?
Linn Reusse: Da spielt das Alter manchmal schon eine Rolle. Wenn ein Kollege dabei ist, der sehr viel älter ist als die anderen und wir nicht wissen, wie und ob wir eine Inszenierung abändern. Was versucht wird: Produktionen zu suchen, die erstens klein sind und zweitens die Generationen nicht so mixen. Vermutlich sind es eher die Jungen, die nun viel arbeiten. Aber wo kommen wir denn da hin? Das ist ja nicht unser Ziel. Aber es ist schwer, weil man sich ständig Gedanken macht: Könnte ich diejenige sein, die das Virus ins Theater trägt? Wie sollen wir uns mit der Frage der Verantwortung auseinandersetzen im Herbst?
Sind das auch Fragen, die Sie in Ihrer Rolle als Ensemblesprecherin umtreiben?
Linn Reusse: Marcel Kohler und ich machen das zu zweit …
Also gleich zwei junge Positionen…
Linn Reusse: Ja, wir sind viel im Gespräch. Mit der Intendanz, mit dem erwähnten Sicherheitsausschuss. Da ist jetzt viel dazugekommen, sonst ist die Aufgabe nicht so stressig. Es ist aber auch schön, weil ich so im Kontakt mit dem Haus bleibe, das mir fehlt. Dafür bin ich dankbar. Das ist für mich ja nicht einfach nur ein Beruf.
Sie vermissen das alles sehr …
Linn Reusse: Ja! Ich bin auch zu allen Schandtaten bereit. Ich würde mich in Quarantäne begeben, um spielen zu können. Ich würde in Astronautenanzügen spielen oder was da an Vorschlägen noch so kommt (lacht). Wir müssen uns jetzt Gedanken machen, wie Theater weitergeht. Wir können nicht einfach aufhören und erst wieder anfangen, wenn alles, wirklich alles vorüber ist. Das kann nicht die Schlussfolgerung sein. Wie es trotzdem weitergehen kann, unter den aktuellen Bedingungen, auch das ist eine Verantwortung. Und da Lösungen zu finden, kann man auch als etwas Positives betrachten.
Probieren mit Hygienemaßnahmen, wie geht das? Lassen sich solche emotionalen Vorgänge so streng kontrollieren?
Linn Reusse: Per Zufall habe ich eben etwas von der Sportschau gesehen, ist eigentlich nicht mein Ding. Es war ein Geisterspiel, natürlich, ohne Publikum. Beim Torjubel stürzen sich alle aufeinander und freuen sich. Und der Kommentator sagte sinngemäß: Naja, nach einem Tor fällt es halt schwer, sich nicht zu umarmen. Das wird im Theater ähnlich schwer sein. Wir schießen zwar keine Tore, aber im übertragenen Sinn halt doch. Vor der Premiere, auf der Bühne, danach. Aber man muss es eben anders machen jetzt. Die Kollegen, die schon wieder proben, berichten: 1,5 Meter Abstand, wer schreit, dreht sich weg. Alles was körperlich im Stück eingeschrieben ist, muss anders übersetzt werden für die Bühne. Und jede Stunde muss gelüftet werden. Uli Matthes hat das im Interview mit Ihnen "Safer Acting" genannt. So sieht es aus, das wird das Theaterwort des Jahres!
Mal abgesehen vom Spielen: Was vermissen Sie am meisten?
Linn Reusse: Meine Eltern, sogar meine Großeltern habe ich jüngst wiedergesehen. Mit Mundschutz und Abstand. Aber niemanden in den Arm zu nehmen, das vermisse ich schon sehr. Das haben wir auch tatsächlich nicht gemacht.
Apropos Großeltern: In Ihrem Fall sind das beides Schauspieler. Wie blicken die auf die gegenwärtige Situation am Theater?
Linn Reusse: Generell sind die erstmal cool. Sie haben einfach eine andere Sicht auf Zeit. Sie leiden eher für mich. Ich weiß aber, dass sie viel Theater schauen, als Stream oder im Fernsehen. Sie leben auf dem Land und haben auch sonst nicht immer die Möglichkeit, eben mal kurz nach Bochum ins Theater zu gehen. Die schauen also gerne Hamlet, wie er beim Theatertreffen gezeigt wurde. Und sie wissen ziemlich genau, was überall in den Spielplänen steht oder stand. Das Streaming verschafft ihnen Zugang.
Wie ist es mit dem Reisen? Zwei Dinge sprechen dagegen: erstens die Pandemie, zweitens dass Sie Berlinerin sind. Die haben die Tendenz, in Berlin zu bleiben, weil es hier halt am schönsten ist, oder?
Linn Reusse: Exakt! Och, Sommer in Berlin is’ doch super, dit reischt mir!
Worauf ich hinaus will: Ist der Unterschied so groß in Ihrem Fall, waren Sie viel unterwegs in den letzten vier Jahren, in denen Sie so viel gearbeitet haben?
Linn Reusse: Nee, tatsächlich, da entspreche ich dem Berlin-Klischee und bin nicht so viel gereist. Aber jetzt kriege ich den Rappel! Plötzlich denke ich, so, jetzt kannst du aber nach Rom fliegen. Oder zur Schwester nach Stockholm. Nach zwei Sekunden ist dann klar: Nein, ist nicht die Zeit dafür. Obwohl ich endlich mal welche hätte!
Was wird sich ändern im Theater, wenn der Schlamassel vorbei ist? Und ich meine: richtig vorbei, ohne Masken und dergleichen?
Linn Reusse: Ich glaube schon, dass sich dann vieles ändert, klar. Man wird die Nähe der Körper auskosten. Vielleicht auch sogar zwischen Bühne und Publikum, auch da kann ich mir vorstellen, dass mehr Nähe gesucht werden wird. Am Ende spielen wir mitten im Publikum! Ich wünsche mir, dass die Krise mit einer Theatereuphorie endet.
Sonntag, 17. Mai 2020
"SAFER ACTING? NIEDERSCHMETTERND!"

Foto: Ulrich Matthes und Tobi Müller im Videochat, jeweils kurz vor ihren Friseurterminen
Ulrich Matthes spielt im Ensemble des DT und ist Präsident der Deutschen Filmakademie. Am 11. Mai sprach Matthes mit Tobi Müller per Videokonferenz über die Kanzlerin und die Kultur, über den Abend des Filmpreises und über einen Corona-Soli – wenige Tage vor dem ersehnten Friseurtermin.
Die Kanzlerin hat am 9. Mai viereinhalb Minuten allein zur Lage der Kulturschaffenden gesprochen. Hat Sie "Hart aber Fair" geschaut in der ARD, wo Sie das Thema Kultur sträflich vernachlässigt sahen in der Politik?
Möglicherweise! (lacht) Ich bezweifle, dass die Kanzlerin persönlich Hart aber Fair guckt, da hat sie höchstwahrscheinlich Besseres zu tun. Aber vielleicht hat es ihr der eine oder die andere mittags bei der Kohlroulade verklickert und gesagt: Übrigens, der Ulrich Matthes hat sich da leidenschaftlich geäußert, wollen Sie nicht auch mal was zur Kultur sagen. Ich schätze die Bundeskanzlerin sehr und kenne sie auch ein bisschen. Aber ich hatte das Gefühl, dass die Kultur deutlich zu kurz kam in den letzten Wochen und Monaten. Deswegen habe ich mich gefreut über die Einladung zur Sendung von Frank Plasberg. Ich fand es auch gut, dass sich Frau Merkel nun in diesem Podcast ausschließlich zur Kultur geäußert hat. Ich will mich jetzt nicht für bedeutender halten, als ich bin: Das Thema Kultur war eh dringend auf der Tagesordnung, und da kam mein kleener Auftritt noch dazu. Die wussten schon unabhängig von meinem Klimperkram, dass sie Nachholbedarf hatten!
Ich habe nicht genau verstanden, was die Kanzlerin konkret gemeint hat, außer dass sie damit Symbolpolitik im Sinn hatte. Die ist wichtig, doch Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat das eigentlich bereits im März gemacht. Was versprechen Sie sich von so einer Rede?
Matthes: Von diesem Podcast habe ich keine konkreten Lösungen erwartet. Monika Grütters hat schon früh Hilfsprogramme mit aufgesetzt, von denen einige sehr gut waren, andere gingen nicht weit genug. Das weiß sie selbst, ich habe mehrfach mit ihr von Angesicht zu Angesicht gesprochen. Ich nehme der Kanzlerin nicht übel, dass sie im Podcast nicht Hilfsprogramme erklärt, das ist die Aufgabe von Frau Grütters und natürlich von den Ländern. Wichtig ist das Zeichen, dass Kunst und Kultur nun auch auf der Führungsebene erwähnt werden, denn dort wurde das sträflich vernachlässigt. Und jetzt kommt es zunehmend auf die Tagesordnung. Und zwar in der obersten Etage, bei Angela Merkel, Olaf Scholz, Peter Altmaier und auch bei den Ministerpräsident_innen. Da wurde schon über Streichelzoos und immer wieder über Friseure geredet, aber kaum über Kultur.
Dieses Gefühl wurde befeuert von einem falschen Zitat in einem kurzen Text der FAZ zu den Eurobonds, die Kanzlerin habe sich gegen die Rettung von Künstler_innen ausgesprochen. Meines Wissens wurde der Text nie korrigiert, obwohl es längst Dementi gab.
Matthes: Die FAZ lese ich unregelmäßig, aber so wurde das auch mir zugetragen, ja. Vollkommen absurd, soweit kenne ich die Kanzlerin. Weil sie sich intensiv für Kultur interessiert. Ein Theaterbesuch ist für sie mehr als eine weitere repräsentative Pflicht. Ich habe es selbst schon erlebt, wie sehr sie sich mit dem Gesehenen auseinandersetzt. Dass man die Kultur vernachlässigen könne, hat sie nie und nimmer gesagt. Aber auch wenn ich von mir und meinem Beruf absehe (was ich meine, ganz gut zu können), glaube ich, dass die kulturellen Orte irre wichtig sind. Und so fand ich es traurig, dass sie eine Zeit lang zu wenig im Fokus der Politiker_innen stand, die nicht direkt mit Kultur zu tun hatten. Übrigens: Unterbrechen Sie mich ruhig!
Ach, nö. Das ist ja auch ein zähmender Effekt der Videokonferenzen, dass man den anderen artig ausreden lässt…
Matthes: Ja, ja, das gefällt mir aber eigentlich gar nicht. Ich quatsche gern rein, und lasse mir auch gern reinquatschen!
Museen und Gedenkstätten machen den Anfang bei den Wiedereröffnungen. Theater, Opern, Konzertsäle sollen folgen. Wie schätzen Sie das ein, ist das realistisch?
Matthes: Es ist paradox. Durch die Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder stehen wir in Deutschland ja vergleichsweise gut da. Nun gibt es aber die Christian Lindners dieser Welt, die schon vor Wochen gesagt haben, es müsse alles noch viel schneller gehen, die Fließbänder müssten wieder loofen. Ich wäre da vorsichtiger, wenngleich man natürlich viele Bereiche wieder hochfahren muss. Auch wenn ich die Reihenfolge mitunter komisch finde. Schulen und Kitas finde ich wichtiger als die Bundesliga. Man muss das jetzt mit der nötigen Vorsicht ausprobieren, das halte ich für richtig. Es gibt natürlich Unterschiede, im Kino spuckt niemand von der Leinwand in den Saal, da sitzt auch keine Flötistin in der Nähe des Oboisten wie im Orchester. Und in der Inszenierung von Der Menschenfeind hier im DT küsse ich zwei Menschen, da war eine Fernsehübertragung anlässlich des Theatertreffens also nicht möglich am 9. Mai, mein Geburtstag, nebenbei bemerkt. Aber die Idee, dass wir hier im DT wohl ab September wieder spielen werden, sehne ich mir ständig herbei … Unterbrechen Sie mich doch jetzt mal!
Na gut. Sie sind nicht nur im Ensemble des DT, sondern auch Präsident der Deutschen Filmakademie. Was unterscheidet in der Krise das Kino vom Theater? Ist das leichter beim Drehen, weil man gut mogeln kann mit Schnitten, Gegenschüssen, Montagen? Im Theater steht man sich gegenüber oder eben nicht.
Matthes: Naja, es geht in meinem Beruf um Nähe, um Körperlichkeit, Anfassen, es geht um Erotik im weitesten Sinn. Es geht nicht nur um Blicke, um Sprache, um… (seufzt). Also jetzt alles so zu basteln, zu nieten und zu nageln, dass wir es auf zwei Meter Abstand hinkriegen und die Sätze alle nur noch nebeneinander stehend in den Saal hinausballern, das ist echt eine Sorge von mir. Es gibt natürlich Inszenierungen, die das schon lange bewusst so oder so ähnlich einsetzen wie etwa die von Michael Thalheimer. Aber Michael hat Gründe dafür, das hat er so entwickelt für sich. Aber ich glaube eben auch an andere Formen des körperlichen, ja auch des realistischen Spiels. Das Theater darf sich über Corona nicht hygienisieren, wenn man so will.
Ist der Film da im Vorteil?
Matthes: Nein. Man kann Drehbücher umschreiben. Man wird nur mal kurz gepudert oder pudert sich selber, von mir aus! Die Mikrofone tragen einen Plastikschutz, das geht alles. Aber im Spätherbst 2019 habe ich einen Film gedreht mit Susanne Wolff und einem jungen Kollegen aus dem Kosovo, einen sehr physischen Film. Völlig undenkbar unter Corona-Bedingungen! Ich raufe mir meine friseurbedürftigen Haare, wenn ich daran denke, wie man so drehen soll. Im Grunde auch auf der Bühne, wie soll das gehen: Safer Acting? Niederschmetternd!
Sie haben schon Erfahrung mit Safer Acting, weil Sie am 24. April den Deutschen Filmpreis mit ausgerichtet haben als Präsident der Filmakademie. Die Preisredner_innen und der Moderator waren im Studio, alle anderen zugeschaltet. Wie fühlte sich das an?
Matthes: Das eindrücklichste Bild, das ich noch immer im Kopf habe: die Situation nach der Show. Da sind 60 Mitarbeitende hinter der Bühne mit Masken. Der Moderator Edin Hasanovic, Monika Grütters und ich waren unmaskiert, weil wir beide am Schluss erst dran waren mit kurzen Statements und der Verleihung der Lolas für die drei besten Filme. Nach so einem zweieinhalbstündigen Live-Ritt gehen normalerweise die Emotionen hoch, alle fallen sich in die Arme. Nun standen wir da und klatschten etwas schütter. In der Branche wird ja gerne geknutscht und geknuddelt, es gibt ein enormes Bedürfnis danach, bei mir sowieso. Aber das war halt nicht möglich. Die Jüngeren kamen dann doch etwas näher oder haben sich mit Maske kurz umarmt. Und ich, mittlerweile in vielen Konstellationen der Senior (lacht), musste ein bisschen den Vernunftsonkel spielen. Das war seltsam und auch ein bisschen traurig.
Die Preisgelder von etwa drei Millionen Euro kommen von Monika Grütters, der Kulturstaatsministerin, die beim Film, im Gegensatz zum Theater, direkter involviert ist als bei anderen Künsten. Ist das ein Vorteil für den Film, dass er ein bisschen weniger föderalistisch organisiert ist, weniger abhängig von Ländern und Kommunen?
Matthes: Der Film ist doch föderalisiert mit Fonds, die von den Bundesländern ausbezahlt werden, zum Beispiel vom Medienboard Berlin Brandenburg. Dass der Filmpreis so hoch und direkt vom Bund unterstützt wird, führt immer wieder zu Kritik. Ich finde das aber gut, weil das Geld gleich in den nächsten Film fließt. Mal heißt es, der Filmpreis fördere zu viele großkopferte Mainstream-Produktionen, dann sind es wieder zu viele Arthouse-Filme. Jede Jury oder Vorwahlkommission steht in der Kritik. Es bleibt aber meine große Sorge, dass es nach der Pandemie vielleicht nur noch die Hälfte aller Kinos gibt. Gerade in den Kleinstädten sind Kinos wichtige Orte des sozialen Lebens.
Ja, aber die Kinos waren schon vor dieser Krise stark angegriffen …
Matthes: Klar. Die Streamingdienste haben viel Druck auf die Kinowelt ausgeübt. Aber es ist doch ein riesiger Unterschied, ob man zu zweit vor Netflix sitzt oder gemeinsam mit anderen im Kino! Die große Leinwand hat emotional auch einen ganz anderen Impact! Das Kino wurde schon oft totgesagt, zum Beispiel als das Fernsehen aufkam.
Sie haben für einen Nach-Corona-Soli, für einen Solidaritätszuschlag plädiert. Bis zu sieben Prozent ihres Gehalts wären Sie bereit abzugeben. Wem sollte das Geld zugutekommen, Kulturschaffenden?
Matthes: Ich habe da in einem Interview einfach mal meinen Bauch befragt und der hat sieben Prozent gesagt, als Hausnummer. Wenn man privilegiert ist, sollte man sich darüber Gedanken machen. Wir sind noch nicht mal auf Kurzarbeit hier am Deutschen Theater, keene Ahnung warum. Egal, ich muss mir jedenfalls keine Sorgen machen, die Miete nicht bezahlen zu können. Im Gegensatz zu vielen meiner freien Kolleg_innen, die ohne feste Gage arbeiten, oder eben gar nicht arbeiten zurzeit. Denen geht es an die Existenz! Und dann noch die beschissen bezahlten Pflegeberufe. Da habe ich spontan gesagt, dass man da etwas abgeben müsse. Zum Beispiel in Form eines Soli, nach Corona.
Müsste der Corona-Soli auf Kosten des Ost-Soli gehen, dessen Zukunft ja mindestens umstritten ist?
Matthes: Keene Ahnung. Ich fände es nur bei so einer Corona-Abgabe wichtig, dass ein Teil meines festen Gehalts nicht unbedingt der Lufthansa zugutekäme, sondern eben den Pflegefachkräften, den Supermarktangestellten oder bedrohten Freelancern. Ich habe da nicht länger drüber nachgedacht, es war ein emotionaler Impuls, den ich aber auch nach längerem Nachdenken richtig finde.
Zum Schluss: Sehen Sie, als Berliner, die Stadt im Lockdown nochmal neu? Ich höre von vielen, die nicht hier aufgewachsen sind, dass sie andere Ecken sehen jetzt. Sie auch?
Matthes: Wo waren Sie denn, haben Sie mal einen Tipp?
Ich gehe zum Beispiel auch mal zwischen Plattenbauten im Osten spazieren, wo ich bislang eher vorbeigefahren bin mit dem Fahrrad.
Matthes: Ach. Mir geht es anders. Meine Grundenergie erlahmt von Woche zu Woche ein bisschen mehr. Und ich bin ein Gewohnheitstier. Seit längerem gehe ich den gleichen Weg durch den Tiergarten, den ich auch zum Textlernen langlatsche. Oder mal um den Schlachtensee, aber nicht gerade jetzt, wo die Leute in Scharen dann doch zu nahe an einem vorbei joggen. Meine Neugier auf Menschen ist ungebrochen in dieser Krise. Die Neugier auf Orte aber ist komplett erlahmt.
Die Kanzlerin hat am 9. Mai viereinhalb Minuten allein zur Lage der Kulturschaffenden gesprochen. Hat Sie "Hart aber Fair" geschaut in der ARD, wo Sie das Thema Kultur sträflich vernachlässigt sahen in der Politik?
Möglicherweise! (lacht) Ich bezweifle, dass die Kanzlerin persönlich Hart aber Fair guckt, da hat sie höchstwahrscheinlich Besseres zu tun. Aber vielleicht hat es ihr der eine oder die andere mittags bei der Kohlroulade verklickert und gesagt: Übrigens, der Ulrich Matthes hat sich da leidenschaftlich geäußert, wollen Sie nicht auch mal was zur Kultur sagen. Ich schätze die Bundeskanzlerin sehr und kenne sie auch ein bisschen. Aber ich hatte das Gefühl, dass die Kultur deutlich zu kurz kam in den letzten Wochen und Monaten. Deswegen habe ich mich gefreut über die Einladung zur Sendung von Frank Plasberg. Ich fand es auch gut, dass sich Frau Merkel nun in diesem Podcast ausschließlich zur Kultur geäußert hat. Ich will mich jetzt nicht für bedeutender halten, als ich bin: Das Thema Kultur war eh dringend auf der Tagesordnung, und da kam mein kleener Auftritt noch dazu. Die wussten schon unabhängig von meinem Klimperkram, dass sie Nachholbedarf hatten!
Ich habe nicht genau verstanden, was die Kanzlerin konkret gemeint hat, außer dass sie damit Symbolpolitik im Sinn hatte. Die ist wichtig, doch Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat das eigentlich bereits im März gemacht. Was versprechen Sie sich von so einer Rede?
Matthes: Von diesem Podcast habe ich keine konkreten Lösungen erwartet. Monika Grütters hat schon früh Hilfsprogramme mit aufgesetzt, von denen einige sehr gut waren, andere gingen nicht weit genug. Das weiß sie selbst, ich habe mehrfach mit ihr von Angesicht zu Angesicht gesprochen. Ich nehme der Kanzlerin nicht übel, dass sie im Podcast nicht Hilfsprogramme erklärt, das ist die Aufgabe von Frau Grütters und natürlich von den Ländern. Wichtig ist das Zeichen, dass Kunst und Kultur nun auch auf der Führungsebene erwähnt werden, denn dort wurde das sträflich vernachlässigt. Und jetzt kommt es zunehmend auf die Tagesordnung. Und zwar in der obersten Etage, bei Angela Merkel, Olaf Scholz, Peter Altmaier und auch bei den Ministerpräsident_innen. Da wurde schon über Streichelzoos und immer wieder über Friseure geredet, aber kaum über Kultur.
Dieses Gefühl wurde befeuert von einem falschen Zitat in einem kurzen Text der FAZ zu den Eurobonds, die Kanzlerin habe sich gegen die Rettung von Künstler_innen ausgesprochen. Meines Wissens wurde der Text nie korrigiert, obwohl es längst Dementi gab.
Matthes: Die FAZ lese ich unregelmäßig, aber so wurde das auch mir zugetragen, ja. Vollkommen absurd, soweit kenne ich die Kanzlerin. Weil sie sich intensiv für Kultur interessiert. Ein Theaterbesuch ist für sie mehr als eine weitere repräsentative Pflicht. Ich habe es selbst schon erlebt, wie sehr sie sich mit dem Gesehenen auseinandersetzt. Dass man die Kultur vernachlässigen könne, hat sie nie und nimmer gesagt. Aber auch wenn ich von mir und meinem Beruf absehe (was ich meine, ganz gut zu können), glaube ich, dass die kulturellen Orte irre wichtig sind. Und so fand ich es traurig, dass sie eine Zeit lang zu wenig im Fokus der Politiker_innen stand, die nicht direkt mit Kultur zu tun hatten. Übrigens: Unterbrechen Sie mich ruhig!
Ach, nö. Das ist ja auch ein zähmender Effekt der Videokonferenzen, dass man den anderen artig ausreden lässt…
Matthes: Ja, ja, das gefällt mir aber eigentlich gar nicht. Ich quatsche gern rein, und lasse mir auch gern reinquatschen!
Museen und Gedenkstätten machen den Anfang bei den Wiedereröffnungen. Theater, Opern, Konzertsäle sollen folgen. Wie schätzen Sie das ein, ist das realistisch?
Matthes: Es ist paradox. Durch die Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder stehen wir in Deutschland ja vergleichsweise gut da. Nun gibt es aber die Christian Lindners dieser Welt, die schon vor Wochen gesagt haben, es müsse alles noch viel schneller gehen, die Fließbänder müssten wieder loofen. Ich wäre da vorsichtiger, wenngleich man natürlich viele Bereiche wieder hochfahren muss. Auch wenn ich die Reihenfolge mitunter komisch finde. Schulen und Kitas finde ich wichtiger als die Bundesliga. Man muss das jetzt mit der nötigen Vorsicht ausprobieren, das halte ich für richtig. Es gibt natürlich Unterschiede, im Kino spuckt niemand von der Leinwand in den Saal, da sitzt auch keine Flötistin in der Nähe des Oboisten wie im Orchester. Und in der Inszenierung von Der Menschenfeind hier im DT küsse ich zwei Menschen, da war eine Fernsehübertragung anlässlich des Theatertreffens also nicht möglich am 9. Mai, mein Geburtstag, nebenbei bemerkt. Aber die Idee, dass wir hier im DT wohl ab September wieder spielen werden, sehne ich mir ständig herbei … Unterbrechen Sie mich doch jetzt mal!
Na gut. Sie sind nicht nur im Ensemble des DT, sondern auch Präsident der Deutschen Filmakademie. Was unterscheidet in der Krise das Kino vom Theater? Ist das leichter beim Drehen, weil man gut mogeln kann mit Schnitten, Gegenschüssen, Montagen? Im Theater steht man sich gegenüber oder eben nicht.
Matthes: Naja, es geht in meinem Beruf um Nähe, um Körperlichkeit, Anfassen, es geht um Erotik im weitesten Sinn. Es geht nicht nur um Blicke, um Sprache, um… (seufzt). Also jetzt alles so zu basteln, zu nieten und zu nageln, dass wir es auf zwei Meter Abstand hinkriegen und die Sätze alle nur noch nebeneinander stehend in den Saal hinausballern, das ist echt eine Sorge von mir. Es gibt natürlich Inszenierungen, die das schon lange bewusst so oder so ähnlich einsetzen wie etwa die von Michael Thalheimer. Aber Michael hat Gründe dafür, das hat er so entwickelt für sich. Aber ich glaube eben auch an andere Formen des körperlichen, ja auch des realistischen Spiels. Das Theater darf sich über Corona nicht hygienisieren, wenn man so will.
Ist der Film da im Vorteil?
Matthes: Nein. Man kann Drehbücher umschreiben. Man wird nur mal kurz gepudert oder pudert sich selber, von mir aus! Die Mikrofone tragen einen Plastikschutz, das geht alles. Aber im Spätherbst 2019 habe ich einen Film gedreht mit Susanne Wolff und einem jungen Kollegen aus dem Kosovo, einen sehr physischen Film. Völlig undenkbar unter Corona-Bedingungen! Ich raufe mir meine friseurbedürftigen Haare, wenn ich daran denke, wie man so drehen soll. Im Grunde auch auf der Bühne, wie soll das gehen: Safer Acting? Niederschmetternd!
Sie haben schon Erfahrung mit Safer Acting, weil Sie am 24. April den Deutschen Filmpreis mit ausgerichtet haben als Präsident der Filmakademie. Die Preisredner_innen und der Moderator waren im Studio, alle anderen zugeschaltet. Wie fühlte sich das an?
Matthes: Das eindrücklichste Bild, das ich noch immer im Kopf habe: die Situation nach der Show. Da sind 60 Mitarbeitende hinter der Bühne mit Masken. Der Moderator Edin Hasanovic, Monika Grütters und ich waren unmaskiert, weil wir beide am Schluss erst dran waren mit kurzen Statements und der Verleihung der Lolas für die drei besten Filme. Nach so einem zweieinhalbstündigen Live-Ritt gehen normalerweise die Emotionen hoch, alle fallen sich in die Arme. Nun standen wir da und klatschten etwas schütter. In der Branche wird ja gerne geknutscht und geknuddelt, es gibt ein enormes Bedürfnis danach, bei mir sowieso. Aber das war halt nicht möglich. Die Jüngeren kamen dann doch etwas näher oder haben sich mit Maske kurz umarmt. Und ich, mittlerweile in vielen Konstellationen der Senior (lacht), musste ein bisschen den Vernunftsonkel spielen. Das war seltsam und auch ein bisschen traurig.
Die Preisgelder von etwa drei Millionen Euro kommen von Monika Grütters, der Kulturstaatsministerin, die beim Film, im Gegensatz zum Theater, direkter involviert ist als bei anderen Künsten. Ist das ein Vorteil für den Film, dass er ein bisschen weniger föderalistisch organisiert ist, weniger abhängig von Ländern und Kommunen?
Matthes: Der Film ist doch föderalisiert mit Fonds, die von den Bundesländern ausbezahlt werden, zum Beispiel vom Medienboard Berlin Brandenburg. Dass der Filmpreis so hoch und direkt vom Bund unterstützt wird, führt immer wieder zu Kritik. Ich finde das aber gut, weil das Geld gleich in den nächsten Film fließt. Mal heißt es, der Filmpreis fördere zu viele großkopferte Mainstream-Produktionen, dann sind es wieder zu viele Arthouse-Filme. Jede Jury oder Vorwahlkommission steht in der Kritik. Es bleibt aber meine große Sorge, dass es nach der Pandemie vielleicht nur noch die Hälfte aller Kinos gibt. Gerade in den Kleinstädten sind Kinos wichtige Orte des sozialen Lebens.
Ja, aber die Kinos waren schon vor dieser Krise stark angegriffen …
Matthes: Klar. Die Streamingdienste haben viel Druck auf die Kinowelt ausgeübt. Aber es ist doch ein riesiger Unterschied, ob man zu zweit vor Netflix sitzt oder gemeinsam mit anderen im Kino! Die große Leinwand hat emotional auch einen ganz anderen Impact! Das Kino wurde schon oft totgesagt, zum Beispiel als das Fernsehen aufkam.
Sie haben für einen Nach-Corona-Soli, für einen Solidaritätszuschlag plädiert. Bis zu sieben Prozent ihres Gehalts wären Sie bereit abzugeben. Wem sollte das Geld zugutekommen, Kulturschaffenden?
Matthes: Ich habe da in einem Interview einfach mal meinen Bauch befragt und der hat sieben Prozent gesagt, als Hausnummer. Wenn man privilegiert ist, sollte man sich darüber Gedanken machen. Wir sind noch nicht mal auf Kurzarbeit hier am Deutschen Theater, keene Ahnung warum. Egal, ich muss mir jedenfalls keine Sorgen machen, die Miete nicht bezahlen zu können. Im Gegensatz zu vielen meiner freien Kolleg_innen, die ohne feste Gage arbeiten, oder eben gar nicht arbeiten zurzeit. Denen geht es an die Existenz! Und dann noch die beschissen bezahlten Pflegeberufe. Da habe ich spontan gesagt, dass man da etwas abgeben müsse. Zum Beispiel in Form eines Soli, nach Corona.
Müsste der Corona-Soli auf Kosten des Ost-Soli gehen, dessen Zukunft ja mindestens umstritten ist?
Matthes: Keene Ahnung. Ich fände es nur bei so einer Corona-Abgabe wichtig, dass ein Teil meines festen Gehalts nicht unbedingt der Lufthansa zugutekäme, sondern eben den Pflegefachkräften, den Supermarktangestellten oder bedrohten Freelancern. Ich habe da nicht länger drüber nachgedacht, es war ein emotionaler Impuls, den ich aber auch nach längerem Nachdenken richtig finde.
Zum Schluss: Sehen Sie, als Berliner, die Stadt im Lockdown nochmal neu? Ich höre von vielen, die nicht hier aufgewachsen sind, dass sie andere Ecken sehen jetzt. Sie auch?
Matthes: Wo waren Sie denn, haben Sie mal einen Tipp?
Ich gehe zum Beispiel auch mal zwischen Plattenbauten im Osten spazieren, wo ich bislang eher vorbeigefahren bin mit dem Fahrrad.
Matthes: Ach. Mir geht es anders. Meine Grundenergie erlahmt von Woche zu Woche ein bisschen mehr. Und ich bin ein Gewohnheitstier. Seit längerem gehe ich den gleichen Weg durch den Tiergarten, den ich auch zum Textlernen langlatsche. Oder mal um den Schlachtensee, aber nicht gerade jetzt, wo die Leute in Scharen dann doch zu nahe an einem vorbei joggen. Meine Neugier auf Menschen ist ungebrochen in dieser Krise. Die Neugier auf Orte aber ist komplett erlahmt.
Sonntag, 10. Mai 2020
"ICH GLAUBE NICHT AN DIE REINHEIT DES GUTEN ODER BÖSEN"

Ulrich Rasche © Tobias Kruse
Der Regisseur Ulrich Rasche ist bekannt für seine chorischen Inszenierungen. Im DT zuletzt von ihm zu sehen war Psychose 4.48 von Sarah Kane. Das Gespräch mit Ulrich Rasche fand am 5. Mai per Videokonferenz statt und wurde zuletzt am 8. Mai per Mail bearbeitet.
In der Pandemie befinden sich die Theater in einer Phase extremer Unklarheit. Die einen wollen rasch wieder öffnen. Andere denken, dass wir uns vielleicht auf ein ganzes Jahr ohne Theater einstellen müssen.
Ulrich Rasche: Wann man die Häuser wieder öffnen kann, weiß ich leider auch nicht. Deswegen habe ich einigen Intendant_innen Vorschläge gemacht, die auch außerhalb des Theaterraums stattfinden können. Wenn wir einige Zeit wieder unter freiem Himmel spielen müssen, ist das für mich eine Herausforderung, die ich gern annehme. Das antike Theater hat ja grundsätzlich draußen stattgefunden, deswegen sind Produktionen im öffentlichen Raum eine gute Option, um wieder Präsens zu zeigen. Meiner Meinung nach ist es jetzt dringend notwendig, dass wir einen Raum erhalten oder ihn uns auch erobern, in welchem wir den Menschen eine ästhetische und gemeinschaftliche Erfahrung ermöglichen. Wie Vereinzelung sich anfühlt, haben wir nun alle durchgreifend erlebt, und es sind in den öffentlichen Medien und sozialen Netzwerken komplexe Gedanken und Analysen zur gegenwärtigen Krise veröffentlicht worden. Die körperliche Verarbeitung dessen ist bisher jedoch logischerweise ausgeblieben. Wir müssen diese gesellschaftliche Praxis wiederherstellen. Das gilt natürlich nicht nur für das Theater, sondern auch für die Musik, den Sport oder die Clubs.
Bei selbständigen Kunstschaffenden wächst die Unsicherheit erneut. Nach dem anfänglichen Schock kamen schnelle Soforthilfen. Jetzt merken viele: Das reicht nicht. Was sehen Sie in Ihrem Umfeld, bei Mitarbeitenden, Spielenden, Musiker_innen?
Rasche: Ich kenne Kolleg_innen, die fühlen sich sehr behütet, wie beispielsweise hier am Deutschen Theater. Viele Häuser halten sich an die Verträge und planen weiter. Vorstellungen, die terminlich fest vereinbart waren, werden bezahlt. Andere Theater halten sich aber zurück, verschleppen die Kommunikation oder stellen in Aussicht, dass die Verträge nicht eingehalten werden können. Ich kenne freischaffende Künstler_innen, die sitzen auf dem Trockenen, die wissen nicht, wie es mit ihren Verabredungen im Sommer weitergeht. Ich vermute, dass manche Theater die Situation abwarten und erst reagieren, wenn sie Gewissheit über die Mittel haben, die ihnen im Herbst oder im nächsten Jahr zur Verfügung stehen – da mag der Vorteil für die Institution oft mehr im Vordergrund stehen als jener der freien Selbständigen. Das geht zum Teil sogar von den öffentlichen Geldgebern aus, die auf der anderen Seite wieder Töpfe einrichten, damit sich freischaffende Künstler_innen um Nothilfe bewerben können. Das kann ein fatales Signal für alle sein, die sich bisher mit dem Ort identifiziert haben und die jetzt ausgesondert werden und auf einmal vor dem Theater stehen. Die haben keine soziale Absicherung außer eben jene Nothilfefonds, die von der Politik eiligst bereitgestellt wurden, aber nicht für alle greifen und zum Teil schon wieder leer sind. Für viele bleibt noch nicht einmal das Arbeitslosengeld, sondern nur Hartz IV.
Kunst komme nicht mehr vor in der Krisenpolitik, heißt es oft. Hat man sich zu sicher gefühlt, weil manche Kunst in Kontakt mit der Macht kommt? Ich kenne diesen Effekt aus meinem Milieu, aus dem Journalismus, auch da wird die Nähe zur Macht manchmal mit Macht verwechselt…
Wir haben mit dem Gefühl gelebt und gearbeitet, dass wenn wir vielleicht auch nicht gerade systemrelevant sind, wir doch zumindest gebraucht werden. Dass Kunst und Kultur nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit in unserer demokratischen Staatsform verstanden werden – schließlich ist die Förderung der Kultur eine Pflichtaufgabe öffentlicher Haushalte und das Wort Subventionierung falsch! Und die Institutionen, die zum Teil sehr gut ausgestattet sind im deutschsprachigen Raum, haben bisher auch viel ermöglicht. Sie haben kreative Freiräume geschaffen, die die Gesellschaft für relevant hielt. Mit dieser Gewissheit sind wir vielleicht blauäugig zur Arbeit gegangen. Wenn die Bundesregierung die Theater, die Opernhäuser, die Orchester in ihren Pressekonferenzen nun eben gar nicht erwähnen oder nur wenig darüber sagt, was mit ihnen passieren soll, dann ist das ein Schock, den wir erstmal verarbeiten müssen, um darauf adäquat regieren zu können.
Kunstschaffende sind nicht gleich Kunstschaffende, es gibt sehr große Unterschiede…
Rasche: In meinen Produktionen sind oft mehr als die Hälfte der auf der Bühne agierenden Menschen als Gäste von außerhalb engagiert gewesen und traten doch als ein gemeinsames Ensemble auf. Im krisenbedingten Engpass werden diese Bereiche plötzlich voneinander getrennt. Die Ungerechtigkeit der Bezahlung und der sozialen Absicherung war zwar vorher schon existent, die Krise hat die radikalen Konsequenzen dieser unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse aber erst jetzt in seiner ganzen Monstrosität zum Vorschein gebracht. Das muss besprochen und meiner Meinung nach neu verhandelt werden.
Die Chöre, die in Ihrem Theater so wichtig sind, leben von der Nähe, auch vom Schweiß, auch wenn es Soloauftritte gibt und kleine Konstellationen. Werden Sie anders inszenieren müssen?
Rasche: Meine Gedanken kreisen aktuell nicht um die Form der Aufführung. Ich suche nach Texten und Inhalten, die ich in meiner Arbeit diskutiert und repräsentiert sehen will. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass zukünftig die Hygienevorschriften die Spielpläne, die Form der Aufführung oder den Inhalt bestimmen. Das ist vielleicht ein praktikabler und realistischer Weg, um überhaupt wieder Theater spielen zu können, dennoch glaube ich, dass wir zunächst über die inhaltliche Ausrichtung des Theaters reden müssen. Erst dann können wir überlegen, wie das formal realisiert werden könnte. Aus dieser für mich noch fernen Situation entstehen dann vielleicht sogar neue Formen.
Welche zum Beispiel?
Rasche: Der Chor, der im Mittelpunkt unserer Arbeit steht, ist ein Spiegel der Gesellschaft und wurde maßgeblich von der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Situation geprägt. Diese befindet sich gerade in einem radikalen Umbruch, und wir wissen noch gar nicht, wie sie zukünftig aussehen wird. In vielen unserer Arbeiten stand bisher das Interesse an der Entstehung gewaltbereiter Gruppen. Die Mechanik der Masse hat uns beispielsweise vor dem Hintergrund von Phänomenen wie Pegida oder den xenophoben Demonstrationen und Gewaltexzessen in Chemnitz interessiert. Die sozialen Verhältnisse sortieren sich jedoch neu. Ich will nicht sagen, dass die massiven Probleme in unserer Gesellschaft, die ich gerade angesprochen habe, gelöst sind oder keine Relevanz mehr besitzen. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass diese uns bald in zugespitzter Form wieder entgegenschlagen werden, dennoch sind auf sozialer Ebene neue Minderheiten entstanden, die wir vorher so nicht gekannt haben. Teile der Gesellschaft, die vorher im Zentrum der Gesellschaft standen, sind plötzlich durch Arbeitslosigkeit und Krankheit an den Rand gedrängt worden und existieren dort in prekären Verhältnissen. Die Situation für die vor der Krise schon sozial benachteiligten Gruppen hat sich abermals verschlechtert. Alle diese Gruppierungen werden sich hoffentlich formieren, um die Gesellschaft mit ihrer jeweils spezifischen Situation zu konfrontieren. Und ich glaube, dass das Theater sich diesen neuen Minderheiten und ihren Geschichten und Erfahrungen gegenüber öffnen muss. Das Theater muss Empathie gegenüber diesen Gruppen entwickeln und Begriffe wie Verantwortung, Gemeinschaft und Solidarität neu bestimmen. In der Konsequenz heißt das natürlich, dass diese Menschen nicht einfach passiv zum Thema degradiert werden, sondern vielmehr zu Akteuren der Kulturproduktion werden müssen.
Ihre Ästhetik ist ambivalent: Sie zeigt die Kraft der Sprache, offenbart aber auch die Gewalt, die ihn ihr steckt. Die Sprache wird, pardon, infektiös. Ist das der Grund, warum manche Ihre Arbeiten nicht mögen, fast Angst vor einer Faschismus-Ansteckung haben?
Rasche: Ich glaube nicht an die Reinheit des Guten oder des Bösen, weder im Leben noch in der Kunst. Unsere Gesellschaft und auch meine Arbeit sind voller Widersprüche. Das Theater selbst ist aufgrund seines Ursprungs in der Antike und seiner Fortentwicklung im aufgeklärten Bürgertum ein ambivalentes Projekt politischer Herrschaftsansprüche. Ich denke, wir müssen diese Widersprüche moderieren und sichtbar machen. Daher rührt auch mein Interesse für das chorische Theater und seine ihm eingeschriebenen Widersprüche, die ich nicht auflösen kann und will, weil ich dem Chor damit seine eigentliche Qualität nehmen würde. Der Vorwurf lautet jeweils, dass nicht kritisch eingebunden ist, was wir zeigen, dass die ästhetische Erfahrung der Aufführung nicht kritisch durchdrungen ist und die Form affirmativ genutzt wird. Ich würde das vehement bestreiten, weil die Kritik mindestens in der Dramaturgie erscheint und über den Abend hinweg von uns herausgearbeitet wurde und damit lesbar bleibt. Euripides selbst schafft beispielsweise in seinen Bakchen ein höchst divergierendes Bild des Chors, das durch die verschiedenen Figuren kritisch beleuchtet wird. Dazu kommen Informationen aus den Programmheften oder auch aus Interviews, die einen Rahmen formulieren. Wenn ich dauerhaft einen relativierenden Filter über den Erfahrungsraum der Bühne lege, entreiße ich dem chorischen Theater seine Qualität. Ironie oder andere distanzierende Mittel lassen uns nicht immer besser verstehen, was Menschen dazu treibt, sich bestimmten Gruppen anzuschließen, von denen wir wissen, wohin sie führen.
Viele erneuernde Bewegungen im deutschen Theater gingen einher mit dem Anspruch, direkter auf den Text zuzugreifen, ihn vor den Marotten der Zeit zu retten. Schon die Erfindung des Regisseurs im 19. Jahrhundert war damit verbunden. In unserer Zeit Peter Stein natürlich, auch Frank Castorf mit seinen Textschlachten. Sehen Sie sich in dieser Tradition?
Rasche: Sprache wird in unserer heutigen Gesellschaft vor allem als ein Instrument der Vernunft angesehen und dient dem Gelingen von Kommunikation. Das gilt insbesondere für die Wissenschaft und hilft bei der Weitergabe und dem Verstehen von Informationen. Sprache funktioniert auf einer anderen Ebene aber noch ganz anders – poetisch und unkontrollierbar. Körperliche Vorgänge sind geradezu notwendig, um Sprache überhaupt erst hervorbringen zu können. Kleist hat in seiner Abhandlung "Über die Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" sogar die These aufgestellt, dass der Gedanke dem Sprechen nicht vorausgeht, sondern im Reden erst entsteht. Wir könnten daraus ableiten, und seine Dramen liefern hierfür einen schönen Beweis, dass die Entstehung des Gedankens im Sprechakt selbst begründet liegt. Sprache ist nicht nur abstrakt, sondern auch ein körperlicher Vorgang, der musikalisch-rhythmisch strukturiert ist.
Die genannten deutschen Theater-Erneuerer haben Sprache nicht dezidiert musikalisch verstanden. Vielleicht war das bei Peter Zadek, dem jüdischen Rückkehrer aus England, anders, wenn er mit dem Singsang von Ulrich Wildgruber arbeitete. Aber die Musik im deutschen Schauspiel spielte lange eine untergeordnete Rolle, oder wurde extra markiert wie bei Marthaler (der sich aber nur mäßig für Texte interessiert).
Rasche: Der Versuch, die Phänomene primär rational, über die Vernunft zu begreifen, stand im deutschen Theater der langen Nachkriegszeit sicher im Zentrum. Das hat mit den Erfahrungen vor 1945 zu tun. Ein gutes Beispiel ist die berühmte Orestie in der Regie von Peter Stein. Das ist meines Erachtens überhaupt kein musikalischer Chor. Es handelt sich nicht um einen Zusammenschluss in dem Sinne, dass dort mit einer Stimme gemeinsam gesprochen werden will, sondern um vereinzelte Individuen, die zusammen stehen und zusammen sprechen. Das fand ich immer interessant, weil einzelne Protagonist_innen wie beispielsweise Edith Clever in der Inszenierung körperlich und hochmusikalisch mit Sprache umgehen, doch wenn der Chor kommt, zerfällt der Sprachkörper in Einzelheiten. Ich denke, dass Stein das genau so wollte. Er wollte die quasi demokratische Vielstimmigkeit des Chores erhalten und die Individualität betonen, jede einzelne Stimme des Bürgers hören und abbilden.
In Ihren Arbeiten spielt die Musik eine tragende Rolle. Weil Bands auf der Bühne stehen, die meistens die Tradition der Minimal Music aufnehmen. Und weil das chorische wie das solistische Sprechen stark rhythmisiert wird. Besonders "sprechend" finde ich aber das Verhältnis von Musik, Beat und Sprache: Wo die Spielenden gegen den Beat sprechen, wo sie ihm vorauseilen, oder wo sie sich genau draufsetzen, was ich jeweils besonders brutal erlebe. Woher kommt Ihre Liebe zum Beat, zum Schlag, zum Puls?
Rasche: Allein mit den Mitteln der Sprache ließe sich die Wirkung, die ich mir für unsere Aufführung wünsche, nicht herstellen. Deswegen ist es inzwischen so, dass jede Szene von einer Musik begleitet wird. Zu hören ist eine rhythmisch sehr komplexe Musik, die in den letzten Jahren von Nico van Wersch komponiert wurde. Seine Fähigkeit zur musikalischen Differenziertheit ist von extremer Bedeutung, da die Musik den Takt der Schritte auf den bewegten Untergründen vorgeben muss und damit in ihrer Freiheit deutlich eingeengt ist. Würde Nico nicht auch mit Polyrhythmen arbeiten, stehende Klangflächen komponieren, dissonante und atonale Akkorde einbauen, könnte sich bei einer mehrstündigen Aufführung schnell eine Eintönigkeit einstellen, die von uns nicht intendiert ist. Die Rhythmen von Musik, Sprache und Bewegung folgen aber eben nur bedingt demselben Takt, manchmal verschieben sich ihre Phasen gegeneinander, manchmal laufen sie asynchron nebeneinander her und erzeugen rhythmische Interferenzen.
In der Pandemie befinden sich die Theater in einer Phase extremer Unklarheit. Die einen wollen rasch wieder öffnen. Andere denken, dass wir uns vielleicht auf ein ganzes Jahr ohne Theater einstellen müssen.
Ulrich Rasche: Wann man die Häuser wieder öffnen kann, weiß ich leider auch nicht. Deswegen habe ich einigen Intendant_innen Vorschläge gemacht, die auch außerhalb des Theaterraums stattfinden können. Wenn wir einige Zeit wieder unter freiem Himmel spielen müssen, ist das für mich eine Herausforderung, die ich gern annehme. Das antike Theater hat ja grundsätzlich draußen stattgefunden, deswegen sind Produktionen im öffentlichen Raum eine gute Option, um wieder Präsens zu zeigen. Meiner Meinung nach ist es jetzt dringend notwendig, dass wir einen Raum erhalten oder ihn uns auch erobern, in welchem wir den Menschen eine ästhetische und gemeinschaftliche Erfahrung ermöglichen. Wie Vereinzelung sich anfühlt, haben wir nun alle durchgreifend erlebt, und es sind in den öffentlichen Medien und sozialen Netzwerken komplexe Gedanken und Analysen zur gegenwärtigen Krise veröffentlicht worden. Die körperliche Verarbeitung dessen ist bisher jedoch logischerweise ausgeblieben. Wir müssen diese gesellschaftliche Praxis wiederherstellen. Das gilt natürlich nicht nur für das Theater, sondern auch für die Musik, den Sport oder die Clubs.
Bei selbständigen Kunstschaffenden wächst die Unsicherheit erneut. Nach dem anfänglichen Schock kamen schnelle Soforthilfen. Jetzt merken viele: Das reicht nicht. Was sehen Sie in Ihrem Umfeld, bei Mitarbeitenden, Spielenden, Musiker_innen?
Rasche: Ich kenne Kolleg_innen, die fühlen sich sehr behütet, wie beispielsweise hier am Deutschen Theater. Viele Häuser halten sich an die Verträge und planen weiter. Vorstellungen, die terminlich fest vereinbart waren, werden bezahlt. Andere Theater halten sich aber zurück, verschleppen die Kommunikation oder stellen in Aussicht, dass die Verträge nicht eingehalten werden können. Ich kenne freischaffende Künstler_innen, die sitzen auf dem Trockenen, die wissen nicht, wie es mit ihren Verabredungen im Sommer weitergeht. Ich vermute, dass manche Theater die Situation abwarten und erst reagieren, wenn sie Gewissheit über die Mittel haben, die ihnen im Herbst oder im nächsten Jahr zur Verfügung stehen – da mag der Vorteil für die Institution oft mehr im Vordergrund stehen als jener der freien Selbständigen. Das geht zum Teil sogar von den öffentlichen Geldgebern aus, die auf der anderen Seite wieder Töpfe einrichten, damit sich freischaffende Künstler_innen um Nothilfe bewerben können. Das kann ein fatales Signal für alle sein, die sich bisher mit dem Ort identifiziert haben und die jetzt ausgesondert werden und auf einmal vor dem Theater stehen. Die haben keine soziale Absicherung außer eben jene Nothilfefonds, die von der Politik eiligst bereitgestellt wurden, aber nicht für alle greifen und zum Teil schon wieder leer sind. Für viele bleibt noch nicht einmal das Arbeitslosengeld, sondern nur Hartz IV.
Kunst komme nicht mehr vor in der Krisenpolitik, heißt es oft. Hat man sich zu sicher gefühlt, weil manche Kunst in Kontakt mit der Macht kommt? Ich kenne diesen Effekt aus meinem Milieu, aus dem Journalismus, auch da wird die Nähe zur Macht manchmal mit Macht verwechselt…
Wir haben mit dem Gefühl gelebt und gearbeitet, dass wenn wir vielleicht auch nicht gerade systemrelevant sind, wir doch zumindest gebraucht werden. Dass Kunst und Kultur nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit in unserer demokratischen Staatsform verstanden werden – schließlich ist die Förderung der Kultur eine Pflichtaufgabe öffentlicher Haushalte und das Wort Subventionierung falsch! Und die Institutionen, die zum Teil sehr gut ausgestattet sind im deutschsprachigen Raum, haben bisher auch viel ermöglicht. Sie haben kreative Freiräume geschaffen, die die Gesellschaft für relevant hielt. Mit dieser Gewissheit sind wir vielleicht blauäugig zur Arbeit gegangen. Wenn die Bundesregierung die Theater, die Opernhäuser, die Orchester in ihren Pressekonferenzen nun eben gar nicht erwähnen oder nur wenig darüber sagt, was mit ihnen passieren soll, dann ist das ein Schock, den wir erstmal verarbeiten müssen, um darauf adäquat regieren zu können.
Kunstschaffende sind nicht gleich Kunstschaffende, es gibt sehr große Unterschiede…
Rasche: In meinen Produktionen sind oft mehr als die Hälfte der auf der Bühne agierenden Menschen als Gäste von außerhalb engagiert gewesen und traten doch als ein gemeinsames Ensemble auf. Im krisenbedingten Engpass werden diese Bereiche plötzlich voneinander getrennt. Die Ungerechtigkeit der Bezahlung und der sozialen Absicherung war zwar vorher schon existent, die Krise hat die radikalen Konsequenzen dieser unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse aber erst jetzt in seiner ganzen Monstrosität zum Vorschein gebracht. Das muss besprochen und meiner Meinung nach neu verhandelt werden.
Die Chöre, die in Ihrem Theater so wichtig sind, leben von der Nähe, auch vom Schweiß, auch wenn es Soloauftritte gibt und kleine Konstellationen. Werden Sie anders inszenieren müssen?
Rasche: Meine Gedanken kreisen aktuell nicht um die Form der Aufführung. Ich suche nach Texten und Inhalten, die ich in meiner Arbeit diskutiert und repräsentiert sehen will. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass zukünftig die Hygienevorschriften die Spielpläne, die Form der Aufführung oder den Inhalt bestimmen. Das ist vielleicht ein praktikabler und realistischer Weg, um überhaupt wieder Theater spielen zu können, dennoch glaube ich, dass wir zunächst über die inhaltliche Ausrichtung des Theaters reden müssen. Erst dann können wir überlegen, wie das formal realisiert werden könnte. Aus dieser für mich noch fernen Situation entstehen dann vielleicht sogar neue Formen.
Welche zum Beispiel?
Rasche: Der Chor, der im Mittelpunkt unserer Arbeit steht, ist ein Spiegel der Gesellschaft und wurde maßgeblich von der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Situation geprägt. Diese befindet sich gerade in einem radikalen Umbruch, und wir wissen noch gar nicht, wie sie zukünftig aussehen wird. In vielen unserer Arbeiten stand bisher das Interesse an der Entstehung gewaltbereiter Gruppen. Die Mechanik der Masse hat uns beispielsweise vor dem Hintergrund von Phänomenen wie Pegida oder den xenophoben Demonstrationen und Gewaltexzessen in Chemnitz interessiert. Die sozialen Verhältnisse sortieren sich jedoch neu. Ich will nicht sagen, dass die massiven Probleme in unserer Gesellschaft, die ich gerade angesprochen habe, gelöst sind oder keine Relevanz mehr besitzen. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass diese uns bald in zugespitzter Form wieder entgegenschlagen werden, dennoch sind auf sozialer Ebene neue Minderheiten entstanden, die wir vorher so nicht gekannt haben. Teile der Gesellschaft, die vorher im Zentrum der Gesellschaft standen, sind plötzlich durch Arbeitslosigkeit und Krankheit an den Rand gedrängt worden und existieren dort in prekären Verhältnissen. Die Situation für die vor der Krise schon sozial benachteiligten Gruppen hat sich abermals verschlechtert. Alle diese Gruppierungen werden sich hoffentlich formieren, um die Gesellschaft mit ihrer jeweils spezifischen Situation zu konfrontieren. Und ich glaube, dass das Theater sich diesen neuen Minderheiten und ihren Geschichten und Erfahrungen gegenüber öffnen muss. Das Theater muss Empathie gegenüber diesen Gruppen entwickeln und Begriffe wie Verantwortung, Gemeinschaft und Solidarität neu bestimmen. In der Konsequenz heißt das natürlich, dass diese Menschen nicht einfach passiv zum Thema degradiert werden, sondern vielmehr zu Akteuren der Kulturproduktion werden müssen.
Ihre Ästhetik ist ambivalent: Sie zeigt die Kraft der Sprache, offenbart aber auch die Gewalt, die ihn ihr steckt. Die Sprache wird, pardon, infektiös. Ist das der Grund, warum manche Ihre Arbeiten nicht mögen, fast Angst vor einer Faschismus-Ansteckung haben?
Rasche: Ich glaube nicht an die Reinheit des Guten oder des Bösen, weder im Leben noch in der Kunst. Unsere Gesellschaft und auch meine Arbeit sind voller Widersprüche. Das Theater selbst ist aufgrund seines Ursprungs in der Antike und seiner Fortentwicklung im aufgeklärten Bürgertum ein ambivalentes Projekt politischer Herrschaftsansprüche. Ich denke, wir müssen diese Widersprüche moderieren und sichtbar machen. Daher rührt auch mein Interesse für das chorische Theater und seine ihm eingeschriebenen Widersprüche, die ich nicht auflösen kann und will, weil ich dem Chor damit seine eigentliche Qualität nehmen würde. Der Vorwurf lautet jeweils, dass nicht kritisch eingebunden ist, was wir zeigen, dass die ästhetische Erfahrung der Aufführung nicht kritisch durchdrungen ist und die Form affirmativ genutzt wird. Ich würde das vehement bestreiten, weil die Kritik mindestens in der Dramaturgie erscheint und über den Abend hinweg von uns herausgearbeitet wurde und damit lesbar bleibt. Euripides selbst schafft beispielsweise in seinen Bakchen ein höchst divergierendes Bild des Chors, das durch die verschiedenen Figuren kritisch beleuchtet wird. Dazu kommen Informationen aus den Programmheften oder auch aus Interviews, die einen Rahmen formulieren. Wenn ich dauerhaft einen relativierenden Filter über den Erfahrungsraum der Bühne lege, entreiße ich dem chorischen Theater seine Qualität. Ironie oder andere distanzierende Mittel lassen uns nicht immer besser verstehen, was Menschen dazu treibt, sich bestimmten Gruppen anzuschließen, von denen wir wissen, wohin sie führen.
Viele erneuernde Bewegungen im deutschen Theater gingen einher mit dem Anspruch, direkter auf den Text zuzugreifen, ihn vor den Marotten der Zeit zu retten. Schon die Erfindung des Regisseurs im 19. Jahrhundert war damit verbunden. In unserer Zeit Peter Stein natürlich, auch Frank Castorf mit seinen Textschlachten. Sehen Sie sich in dieser Tradition?
Rasche: Sprache wird in unserer heutigen Gesellschaft vor allem als ein Instrument der Vernunft angesehen und dient dem Gelingen von Kommunikation. Das gilt insbesondere für die Wissenschaft und hilft bei der Weitergabe und dem Verstehen von Informationen. Sprache funktioniert auf einer anderen Ebene aber noch ganz anders – poetisch und unkontrollierbar. Körperliche Vorgänge sind geradezu notwendig, um Sprache überhaupt erst hervorbringen zu können. Kleist hat in seiner Abhandlung "Über die Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" sogar die These aufgestellt, dass der Gedanke dem Sprechen nicht vorausgeht, sondern im Reden erst entsteht. Wir könnten daraus ableiten, und seine Dramen liefern hierfür einen schönen Beweis, dass die Entstehung des Gedankens im Sprechakt selbst begründet liegt. Sprache ist nicht nur abstrakt, sondern auch ein körperlicher Vorgang, der musikalisch-rhythmisch strukturiert ist.
Die genannten deutschen Theater-Erneuerer haben Sprache nicht dezidiert musikalisch verstanden. Vielleicht war das bei Peter Zadek, dem jüdischen Rückkehrer aus England, anders, wenn er mit dem Singsang von Ulrich Wildgruber arbeitete. Aber die Musik im deutschen Schauspiel spielte lange eine untergeordnete Rolle, oder wurde extra markiert wie bei Marthaler (der sich aber nur mäßig für Texte interessiert).
Rasche: Der Versuch, die Phänomene primär rational, über die Vernunft zu begreifen, stand im deutschen Theater der langen Nachkriegszeit sicher im Zentrum. Das hat mit den Erfahrungen vor 1945 zu tun. Ein gutes Beispiel ist die berühmte Orestie in der Regie von Peter Stein. Das ist meines Erachtens überhaupt kein musikalischer Chor. Es handelt sich nicht um einen Zusammenschluss in dem Sinne, dass dort mit einer Stimme gemeinsam gesprochen werden will, sondern um vereinzelte Individuen, die zusammen stehen und zusammen sprechen. Das fand ich immer interessant, weil einzelne Protagonist_innen wie beispielsweise Edith Clever in der Inszenierung körperlich und hochmusikalisch mit Sprache umgehen, doch wenn der Chor kommt, zerfällt der Sprachkörper in Einzelheiten. Ich denke, dass Stein das genau so wollte. Er wollte die quasi demokratische Vielstimmigkeit des Chores erhalten und die Individualität betonen, jede einzelne Stimme des Bürgers hören und abbilden.
In Ihren Arbeiten spielt die Musik eine tragende Rolle. Weil Bands auf der Bühne stehen, die meistens die Tradition der Minimal Music aufnehmen. Und weil das chorische wie das solistische Sprechen stark rhythmisiert wird. Besonders "sprechend" finde ich aber das Verhältnis von Musik, Beat und Sprache: Wo die Spielenden gegen den Beat sprechen, wo sie ihm vorauseilen, oder wo sie sich genau draufsetzen, was ich jeweils besonders brutal erlebe. Woher kommt Ihre Liebe zum Beat, zum Schlag, zum Puls?
Rasche: Allein mit den Mitteln der Sprache ließe sich die Wirkung, die ich mir für unsere Aufführung wünsche, nicht herstellen. Deswegen ist es inzwischen so, dass jede Szene von einer Musik begleitet wird. Zu hören ist eine rhythmisch sehr komplexe Musik, die in den letzten Jahren von Nico van Wersch komponiert wurde. Seine Fähigkeit zur musikalischen Differenziertheit ist von extremer Bedeutung, da die Musik den Takt der Schritte auf den bewegten Untergründen vorgeben muss und damit in ihrer Freiheit deutlich eingeengt ist. Würde Nico nicht auch mit Polyrhythmen arbeiten, stehende Klangflächen komponieren, dissonante und atonale Akkorde einbauen, könnte sich bei einer mehrstündigen Aufführung schnell eine Eintönigkeit einstellen, die von uns nicht intendiert ist. Die Rhythmen von Musik, Sprache und Bewegung folgen aber eben nur bedingt demselben Takt, manchmal verschieben sich ihre Phasen gegeneinander, manchmal laufen sie asynchron nebeneinander her und erzeugen rhythmische Interferenzen.
Sonntag, 3. Mai 2020
"IRGENDWANN WEISS MAN NICHT MEHR, WIE EINE RICHTIGE TOMATE SCHMECKT"

Foto: Anne Lenk im Video-Chat mit Tobi Müller
Die Regisseurin Anne Lenk hat im DT Molières Der Menschenfeind inszeniert und wurde damit zum Berliner Theatertreffen 2020 eingeladen, das gerade digital eröffnet wurde. Mit Tobi Müller sprach Lenk am 28. April über ihre Bedenken, die Theaterkunst ins Netz zu verlagern. Und wie es nun weitergehen könnte.
Ihre Inszenierung von "Der Menschenfeind" wurde zum Theatertreffen eingeladen, das jetzt nur virtuell stattfinden kann. Was dachten Sie zuerst, als es abgesagt wurde?
Anne Lenk: Überrascht war ich nicht. Aber ich weiß noch, wie das Anfang März war, unmittelbar vor dem Shutdown. Wir probten Kleists Amphitryon in Nürnberg. Als klar wurde, dass wir keine Premiere vor Zuschauer_innen haben dürften, wollten wir stattdessen Freunde einladen. Und als ich die Produktion eine Woche vor Premiere ganz einfrieren musste, hat mich nichts mehr überrascht. Selbst die vielen Absagen von Gastspielen nicht.
Beim virtuellen Theatertreffen werden sechs Inszenierungen online gezeigt. "Der Menschenfeind" nicht. Warum?
Lenk: Es gibt aktuell keine Möglichkeit, die Arbeit mit mehreren Kameras aufzunehmen, denn unser Bühnenbild lässt nicht zwei Meter Abstand zu. Da müssten ein paar Schauspieler_innen auf der Hinterbühne stehen, hinter den schwarzen Gummibändern. Was beim virtuellen Theatertreffen nun gestreamt wird, sind ältere Aufnahmen. Oder sie haben es gerade noch vor dem Lockdown geschafft wie Hamlet aus dem Schauspielhaus Bochum. Wir haben nur eine interne Aufzeichnung, aber die finde ich nicht vertretbar in der Öffentlichkeit. Eine Aufzeichnung wäre für mich auch aus künstlerischen Gründen nicht in Frage gekommen.
Sollten die Theater also zu einem früheren Zeitpunkt etwas aufwendigere Aufzeichnungen anfertigen? Wie freie Gruppen, die stärker darauf angewiesen sind, weil sie stärker auf Gastspiele angewiesen sind?
Das weiß ich nicht, wir sollten nun über alles in Ruhe nachdenken. Erst einmal die Füße still halten und Ideen entwickeln. Um überhaupt unsere Möglichkeiten einschätzen zu lernen in diesem fremden Medium. Die Konstellation der Körper wird von den Nahaufnahmen zum Beispiel nicht abgebildet. Aber das ist wichtig für meine Arbeit, das erzählt etwas. Ich glaube einfach nicht, dass Theater übertragbar ist in ein anderes Medium.
Wäre es eine Möglichkeit, dass Nutzer_innen drei oder vier Kameras oben in der Leiste zur Auswahl hätten, die sie auswählen können für den großen Bildausschnitt? Wie eine Fernsehregie? Das Live-Publikum macht das ja auch: Mal die Totale im Blick haben, mal einer Figur folgen, oft sehr schnell.
Je nachdem, wo man sitzt. Das macht mich manchmal kirre beim Bühnenbildkonzept, dass ich vermeiden will, dass jeder was anderes sieht. Ich möchte immer die Blickmöglichkeiten gerecht verteilen. Vielleicht gibt es digital eine Möglichkeit, eine Interaktion herzustellen. Aber ich glaube, das wäre mir zu anstrengend, aktiv herumzudrücken, wie bei einem Computerspiel! Aber ich bin auch wirklich ein extrem analoger Mensch. Wenn wir nun eine Aufzeichnung von Der Menschenfeind hätten machen können, wäre ich da selbst gerne Teil des Teams gewesen, um mitzuentscheiden, wann die Kameras in die Totale gehen, und jetzt aber nur Franziska Machens zeigen, und jetzt, zack, wie Ulrich Matthes darauf reagiert. Aber dazu müsste ich ja eine neue Ausbildung machen!
"Der Menschenfeind" ist eine Inszenierung, die sehr viel Sorgfalt auf die Sprache verwendet. Müssten Sie neu inszenieren für eine Aufnahme?
Mit einem Mikrofon spricht man anders, klar. Die Schauspieler_innen sind vorne an der Rampe eine andere Lautstärke gewöhnt, ein ganz anderer Gestus. Den müsste man noch einmal neu erfinden. Der Menschenfeind ist keine übertrieben theatralische Inszenierung, weil die Sprache des Stückes bereits sehr künstlich ist. In diesem Freundeskreis muss man reimen, um irgendwie anzukommen. Es holpert ja auch ein bisschen in der Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens, die ist nicht so hermetisch und geschliffen wie andere. Das gefällt mir sehr gut, dass man auch in der Sprache das Scheitern sieht, dass nicht immer alles funktioniert. Die Figuren erinnern mich an Tschechow, aber mit Reimzwang.
Das hat etwas von einem HipHop-Battle, das ist auch immer eine prekäre Reimsituation…
Genau, das zeichnet Menschen eben aus, dass sie Fehler machen. Und auf der Bühne sind die Konsequenzen überschaubar, im Gegensatz zum echten Leben.
Im Vorfeld haben Sie geschrieben, dass Sie Ihre Arbeit lieber nicht streamen möchten.
In Hannover habe ich mich erfolglos gewehrt gegen die Ausstrahlung eines Probenvideos. Da kam es zum Konflikt mit der Intendantin Sonja Anders. Und ich kann das nur deshalb hier so sagen, weil ich sie für eine ganz hervorragende Intendantin halte, die schon in ihrer ersten Spielzeit eine tolle Stimmung hingekriegt hat. Jedenfalls: Die Aufzeichnung war von einer Hauptprobe, wo man als Regisseurin auch schon einmal sagt: Geht in die Vollen, fahrt das ruhig gegen die Wand, damit wir wissen, wie es nicht geht. Macht euch keinen Stress. Außerdem war ein Schauspieler krank und hat mit Mikroport gespielt, da trifft man nicht gleich den Ton. Solche Videos sind okay, wenn man umbesetzen muss. Aber in den Proben ist der geschützte Raum wichtig, damit man auch peinlich sein kann.
Wichtig fände ich aber auch, dass beim Streaming der vorbereitende Vorgang nicht ganz wegfällt: die Entscheidung, einen Theaterabend zu sehen, der Kauf der Karte, der Weg – das gehört für mich dazu, bevor sich die Schauspieler_innen mit ihren Körpern zu Verfügung stellen. Und auf oder hinter der Bühne erkennt man Leute im Publikum an der Art, wie sie lachen.
Könnte man das Rituelle, das Ihnen fehlt, ein Stück weit auch online herstellen? Übergangsweise? Eine Karte kaufen, eine Verpflichtung eingehen, und eine Version sehen, die mit allen abgesprochen ist? Solche Modelle gibt es ja durchaus.
Damit könnte ich mich vielleicht anfreunden. Zumindest für meine Arbeit, das muss nicht für alle gelten. Aber es bleiben: Plastikblumen. Die Übertragung von einem Medium ins andere leuchtet mir nicht so richtig ein. Aber wenn wir jetzt länger damit konfrontiert sein sollten, nicht live spielen zu können, müssen wir uns einen anderen Umgang überlegen.
Beim Probenvideo geht es um Privatheit. Nach der Premiere sind die Arbeiten aber öffentlich. Arbeiten Sie nach der Premiere weiter an Ihren Inszenierungen?
Bisher habe ich sie immer so gelassen. Aber die Kolleg_innen wissen, dass sie mich anrufen können, wenn es Probleme gibt. Ich gebe mir schon Mühe, dass wir bis zur Premiere einen Stand haben, dass die mich nachher nicht mehr brauchen. Das ist in der Regel auch möglich, die sind ja alle schon groß! (lacht) Ich halte zudem wenig von allzu langen Proben. Auch aus pragmatischen Gründen: Irgendwann muss ich nach Hause und mich um die Familie kümmern. Und das tue ich nicht gerne mit dem Gefühl, dass die Schauspieler_innen irgendwo festhängen. Man muss sich vorher um die Arbeit kümmern.
Die lautesten Kritiker des Streamings fürchten die Abschaffung des Theaters und argumentieren, Streaming sei kein Ersatz. Ich suche noch immer fieberhaft nach der Aussage, die das je behauptet hat. Niemand spricht von Ersatz, alle wollen zurück ins Theater.
Das glaube ich mittlerweile auch. Aber es gibt diese Angst, dass sich das Publikum an diese schnell hochgezüchteten Supermarkttomaten gewöhnt. Irgendwann weiß man nicht mehr, wie eine richtige Tomate schmeckt. Viele Kolleg_innen werden nun langsam nervös, sie sind, wie viele Menschen, gerade sehr zerrissen. Sie genießen vielleicht die Muße, Dinge zu lesen, die sie schon seit 20 Jahren lesen wollten. Und andererseits drehen sie fast durch, weil sie nicht probieren können. Denen fehlt die Auseinandersetzung. Die Streaming-Front sagt dagegen, wir dürfen uns nicht abschaffen, wir müssen uns präsent halten. Das würde ich gerne bezweifeln. Wir könnten auch in uns gehen, lernen, uns mit dem digitalen Theater wirklich auseinanderzusetzen. Und zwar bevor wir uns künstlerisch unter Wert verkaufen.
Pause, Füße still halten: kommt sehr auf die Perspektive an. Für Leute, die feste Verabredungen haben, die bezahlt werden, oder sogar fest angestellt sind, ist das sicher eine Option. Für alle andern nicht. Die Ungleichheit wird ja eher größer als kleiner in der Krise.
Natürlich. Aber Streaming wird das Problem nicht lösen. Ich glaube nicht, dass da jetzt ein Intendant sitzt und sagt, herrlich, diese Schauspielerin, die da im Netz Spiegeleier brät, will ich unbedingt auf der großen Bühne sehen. Oder ob man sich überhaupt diese Inszenierungen anschaut im Netz. Freie Gruppen haben da mehr Freiheiten, aber auch sie müssen sich neue Formen überlegen.
Es wurde im Corona-Kabinett darüber gesprochen, ob man Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel wieder öffnen soll. Ein Theater ist nichts anderes, außer dass beim Singen in der Kirche vielleicht mehr Tröpfchen im Umlauf sind. Haben die Theater eine zu schwache Lobby?
Auf jeden Fall. Als die Theater schließen mussten, waren noch alle Schulen offen, in der U-Bahn in Berlin drängten sich so viele Leute wie immer. Bei den religiösen Performances, wenn man so will, ändert sich für den Prediger nicht so viel, im Theater dagegen müssen wir eine neue Ästhetik erfinden, wenn wir auf der Bühne mit Abstand oder sogar mit Mundschutz spielen sollten. Sozusagen Künstlerisch wäre die Umstellung für die Gotteshäuser nicht so dramatisch. Aber wenn es um die Gemeinde geht, im Theater um das Publikum, ist die Bevorzugung von religiösen Stätten unfair. Und ja, bei uns singt niemand im Parkett. Aber wir müssen uns überlegen, was das für die Bühne heißt. Wenn wir denn dürften. Ich glaube, es ist ein bisschen wie bei der Umsatzsteuer: Wir werden einfach gerne einmal vergessen. Ich musste lange Umsatzsteuer bezahlen, als würde ich etwas verkaufen. Dabei trete ich nur Rechte ab.
Abstandsbeschränkungen werden uns wohl noch lange beschäftigen. Das heißt, vieles vom Repertoire wird so wie bisher gar nicht zu spielen sein. Wird man neu anfangen müssen?
Ja, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir zum Beispiel ältere Schauspieler_innen oder andere Risikogruppen nicht ausgrenzen, wenn wir nur unter bestimmten Bedingungen proben dürfen. Es gibt Stücke, die ich mir auf Abstand vorstellen kann, andere nicht.
Was heißt das konkret? Kommt mehr Video ins Spiel?
Das habe ich mir auch überlegt. Das wäre eine Möglichkeit. Proben oder Treffen, wie man das nun in manchen Häusern nennt, geht nur mit Anwesenheit. Aber was passiert, wenn es eine neue Welle gibt und wir erst recht nicht proben dürfen? Eine Hintertür wäre: Es gibt verschiedene Räume auf der Bühne, die ich mit Menschen oder mit Videos füllen kann. Ich versuche, alles zweigleisig zu denken gerade. Aber das sind Notprogramme, ich mag eigentlich kein Video. Ich finde schon Musik schwierig, die von außen kommt, aus der Konserve. Wenn die Musik von den Spielenden auf der Bühne direkt gelenkt wird und sie den Rhythmus vorgeben, leuchtet mir das viel mehr ein. Aber wir müssen nun Texte finden, die mehr vereinzelte Figuren ermöglichen. Dennoch freue ich mich schon, wenn das Publikum, nach Monaten von Familientreffen auf Zoom, wieder spuckende Schauspieler_innen ohne Scheibe dazwischen sehen darf.
Und welche Stücke sind das, die Sie nun mehrgleisig konzipieren?
Wir hatten am Deutschen Theater ein Stück geplant mit einem sehr schmalen Bühnenraum, einem engen Flur voller Menschen, das wir jetzt so nicht machen können und auf später verschieben. Wir machen nun stattdessen Maria Stuart in ziemlich kurzer Zeit, mit einem relativ jungen Ensemble. Das ist ein Herzensprojekt von mir, da denke ich schon länger drüber nach, es kommt bloß früher als geplant. Nicht nur weil die Königin gefangen ist…. (lacht). Es gibt da ja einige isolierte Figuren!
Ihre Inszenierung von "Der Menschenfeind" wurde zum Theatertreffen eingeladen, das jetzt nur virtuell stattfinden kann. Was dachten Sie zuerst, als es abgesagt wurde?
Anne Lenk: Überrascht war ich nicht. Aber ich weiß noch, wie das Anfang März war, unmittelbar vor dem Shutdown. Wir probten Kleists Amphitryon in Nürnberg. Als klar wurde, dass wir keine Premiere vor Zuschauer_innen haben dürften, wollten wir stattdessen Freunde einladen. Und als ich die Produktion eine Woche vor Premiere ganz einfrieren musste, hat mich nichts mehr überrascht. Selbst die vielen Absagen von Gastspielen nicht.
Beim virtuellen Theatertreffen werden sechs Inszenierungen online gezeigt. "Der Menschenfeind" nicht. Warum?
Lenk: Es gibt aktuell keine Möglichkeit, die Arbeit mit mehreren Kameras aufzunehmen, denn unser Bühnenbild lässt nicht zwei Meter Abstand zu. Da müssten ein paar Schauspieler_innen auf der Hinterbühne stehen, hinter den schwarzen Gummibändern. Was beim virtuellen Theatertreffen nun gestreamt wird, sind ältere Aufnahmen. Oder sie haben es gerade noch vor dem Lockdown geschafft wie Hamlet aus dem Schauspielhaus Bochum. Wir haben nur eine interne Aufzeichnung, aber die finde ich nicht vertretbar in der Öffentlichkeit. Eine Aufzeichnung wäre für mich auch aus künstlerischen Gründen nicht in Frage gekommen.
Sollten die Theater also zu einem früheren Zeitpunkt etwas aufwendigere Aufzeichnungen anfertigen? Wie freie Gruppen, die stärker darauf angewiesen sind, weil sie stärker auf Gastspiele angewiesen sind?
Das weiß ich nicht, wir sollten nun über alles in Ruhe nachdenken. Erst einmal die Füße still halten und Ideen entwickeln. Um überhaupt unsere Möglichkeiten einschätzen zu lernen in diesem fremden Medium. Die Konstellation der Körper wird von den Nahaufnahmen zum Beispiel nicht abgebildet. Aber das ist wichtig für meine Arbeit, das erzählt etwas. Ich glaube einfach nicht, dass Theater übertragbar ist in ein anderes Medium.
Wäre es eine Möglichkeit, dass Nutzer_innen drei oder vier Kameras oben in der Leiste zur Auswahl hätten, die sie auswählen können für den großen Bildausschnitt? Wie eine Fernsehregie? Das Live-Publikum macht das ja auch: Mal die Totale im Blick haben, mal einer Figur folgen, oft sehr schnell.
Je nachdem, wo man sitzt. Das macht mich manchmal kirre beim Bühnenbildkonzept, dass ich vermeiden will, dass jeder was anderes sieht. Ich möchte immer die Blickmöglichkeiten gerecht verteilen. Vielleicht gibt es digital eine Möglichkeit, eine Interaktion herzustellen. Aber ich glaube, das wäre mir zu anstrengend, aktiv herumzudrücken, wie bei einem Computerspiel! Aber ich bin auch wirklich ein extrem analoger Mensch. Wenn wir nun eine Aufzeichnung von Der Menschenfeind hätten machen können, wäre ich da selbst gerne Teil des Teams gewesen, um mitzuentscheiden, wann die Kameras in die Totale gehen, und jetzt aber nur Franziska Machens zeigen, und jetzt, zack, wie Ulrich Matthes darauf reagiert. Aber dazu müsste ich ja eine neue Ausbildung machen!
"Der Menschenfeind" ist eine Inszenierung, die sehr viel Sorgfalt auf die Sprache verwendet. Müssten Sie neu inszenieren für eine Aufnahme?
Mit einem Mikrofon spricht man anders, klar. Die Schauspieler_innen sind vorne an der Rampe eine andere Lautstärke gewöhnt, ein ganz anderer Gestus. Den müsste man noch einmal neu erfinden. Der Menschenfeind ist keine übertrieben theatralische Inszenierung, weil die Sprache des Stückes bereits sehr künstlich ist. In diesem Freundeskreis muss man reimen, um irgendwie anzukommen. Es holpert ja auch ein bisschen in der Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens, die ist nicht so hermetisch und geschliffen wie andere. Das gefällt mir sehr gut, dass man auch in der Sprache das Scheitern sieht, dass nicht immer alles funktioniert. Die Figuren erinnern mich an Tschechow, aber mit Reimzwang.
Das hat etwas von einem HipHop-Battle, das ist auch immer eine prekäre Reimsituation…
Genau, das zeichnet Menschen eben aus, dass sie Fehler machen. Und auf der Bühne sind die Konsequenzen überschaubar, im Gegensatz zum echten Leben.
Im Vorfeld haben Sie geschrieben, dass Sie Ihre Arbeit lieber nicht streamen möchten.
In Hannover habe ich mich erfolglos gewehrt gegen die Ausstrahlung eines Probenvideos. Da kam es zum Konflikt mit der Intendantin Sonja Anders. Und ich kann das nur deshalb hier so sagen, weil ich sie für eine ganz hervorragende Intendantin halte, die schon in ihrer ersten Spielzeit eine tolle Stimmung hingekriegt hat. Jedenfalls: Die Aufzeichnung war von einer Hauptprobe, wo man als Regisseurin auch schon einmal sagt: Geht in die Vollen, fahrt das ruhig gegen die Wand, damit wir wissen, wie es nicht geht. Macht euch keinen Stress. Außerdem war ein Schauspieler krank und hat mit Mikroport gespielt, da trifft man nicht gleich den Ton. Solche Videos sind okay, wenn man umbesetzen muss. Aber in den Proben ist der geschützte Raum wichtig, damit man auch peinlich sein kann.
Wichtig fände ich aber auch, dass beim Streaming der vorbereitende Vorgang nicht ganz wegfällt: die Entscheidung, einen Theaterabend zu sehen, der Kauf der Karte, der Weg – das gehört für mich dazu, bevor sich die Schauspieler_innen mit ihren Körpern zu Verfügung stellen. Und auf oder hinter der Bühne erkennt man Leute im Publikum an der Art, wie sie lachen.
Könnte man das Rituelle, das Ihnen fehlt, ein Stück weit auch online herstellen? Übergangsweise? Eine Karte kaufen, eine Verpflichtung eingehen, und eine Version sehen, die mit allen abgesprochen ist? Solche Modelle gibt es ja durchaus.
Damit könnte ich mich vielleicht anfreunden. Zumindest für meine Arbeit, das muss nicht für alle gelten. Aber es bleiben: Plastikblumen. Die Übertragung von einem Medium ins andere leuchtet mir nicht so richtig ein. Aber wenn wir jetzt länger damit konfrontiert sein sollten, nicht live spielen zu können, müssen wir uns einen anderen Umgang überlegen.
Beim Probenvideo geht es um Privatheit. Nach der Premiere sind die Arbeiten aber öffentlich. Arbeiten Sie nach der Premiere weiter an Ihren Inszenierungen?
Bisher habe ich sie immer so gelassen. Aber die Kolleg_innen wissen, dass sie mich anrufen können, wenn es Probleme gibt. Ich gebe mir schon Mühe, dass wir bis zur Premiere einen Stand haben, dass die mich nachher nicht mehr brauchen. Das ist in der Regel auch möglich, die sind ja alle schon groß! (lacht) Ich halte zudem wenig von allzu langen Proben. Auch aus pragmatischen Gründen: Irgendwann muss ich nach Hause und mich um die Familie kümmern. Und das tue ich nicht gerne mit dem Gefühl, dass die Schauspieler_innen irgendwo festhängen. Man muss sich vorher um die Arbeit kümmern.
Die lautesten Kritiker des Streamings fürchten die Abschaffung des Theaters und argumentieren, Streaming sei kein Ersatz. Ich suche noch immer fieberhaft nach der Aussage, die das je behauptet hat. Niemand spricht von Ersatz, alle wollen zurück ins Theater.
Das glaube ich mittlerweile auch. Aber es gibt diese Angst, dass sich das Publikum an diese schnell hochgezüchteten Supermarkttomaten gewöhnt. Irgendwann weiß man nicht mehr, wie eine richtige Tomate schmeckt. Viele Kolleg_innen werden nun langsam nervös, sie sind, wie viele Menschen, gerade sehr zerrissen. Sie genießen vielleicht die Muße, Dinge zu lesen, die sie schon seit 20 Jahren lesen wollten. Und andererseits drehen sie fast durch, weil sie nicht probieren können. Denen fehlt die Auseinandersetzung. Die Streaming-Front sagt dagegen, wir dürfen uns nicht abschaffen, wir müssen uns präsent halten. Das würde ich gerne bezweifeln. Wir könnten auch in uns gehen, lernen, uns mit dem digitalen Theater wirklich auseinanderzusetzen. Und zwar bevor wir uns künstlerisch unter Wert verkaufen.
Pause, Füße still halten: kommt sehr auf die Perspektive an. Für Leute, die feste Verabredungen haben, die bezahlt werden, oder sogar fest angestellt sind, ist das sicher eine Option. Für alle andern nicht. Die Ungleichheit wird ja eher größer als kleiner in der Krise.
Natürlich. Aber Streaming wird das Problem nicht lösen. Ich glaube nicht, dass da jetzt ein Intendant sitzt und sagt, herrlich, diese Schauspielerin, die da im Netz Spiegeleier brät, will ich unbedingt auf der großen Bühne sehen. Oder ob man sich überhaupt diese Inszenierungen anschaut im Netz. Freie Gruppen haben da mehr Freiheiten, aber auch sie müssen sich neue Formen überlegen.
Es wurde im Corona-Kabinett darüber gesprochen, ob man Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel wieder öffnen soll. Ein Theater ist nichts anderes, außer dass beim Singen in der Kirche vielleicht mehr Tröpfchen im Umlauf sind. Haben die Theater eine zu schwache Lobby?
Auf jeden Fall. Als die Theater schließen mussten, waren noch alle Schulen offen, in der U-Bahn in Berlin drängten sich so viele Leute wie immer. Bei den religiösen Performances, wenn man so will, ändert sich für den Prediger nicht so viel, im Theater dagegen müssen wir eine neue Ästhetik erfinden, wenn wir auf der Bühne mit Abstand oder sogar mit Mundschutz spielen sollten. Sozusagen Künstlerisch wäre die Umstellung für die Gotteshäuser nicht so dramatisch. Aber wenn es um die Gemeinde geht, im Theater um das Publikum, ist die Bevorzugung von religiösen Stätten unfair. Und ja, bei uns singt niemand im Parkett. Aber wir müssen uns überlegen, was das für die Bühne heißt. Wenn wir denn dürften. Ich glaube, es ist ein bisschen wie bei der Umsatzsteuer: Wir werden einfach gerne einmal vergessen. Ich musste lange Umsatzsteuer bezahlen, als würde ich etwas verkaufen. Dabei trete ich nur Rechte ab.
Abstandsbeschränkungen werden uns wohl noch lange beschäftigen. Das heißt, vieles vom Repertoire wird so wie bisher gar nicht zu spielen sein. Wird man neu anfangen müssen?
Ja, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir zum Beispiel ältere Schauspieler_innen oder andere Risikogruppen nicht ausgrenzen, wenn wir nur unter bestimmten Bedingungen proben dürfen. Es gibt Stücke, die ich mir auf Abstand vorstellen kann, andere nicht.
Was heißt das konkret? Kommt mehr Video ins Spiel?
Das habe ich mir auch überlegt. Das wäre eine Möglichkeit. Proben oder Treffen, wie man das nun in manchen Häusern nennt, geht nur mit Anwesenheit. Aber was passiert, wenn es eine neue Welle gibt und wir erst recht nicht proben dürfen? Eine Hintertür wäre: Es gibt verschiedene Räume auf der Bühne, die ich mit Menschen oder mit Videos füllen kann. Ich versuche, alles zweigleisig zu denken gerade. Aber das sind Notprogramme, ich mag eigentlich kein Video. Ich finde schon Musik schwierig, die von außen kommt, aus der Konserve. Wenn die Musik von den Spielenden auf der Bühne direkt gelenkt wird und sie den Rhythmus vorgeben, leuchtet mir das viel mehr ein. Aber wir müssen nun Texte finden, die mehr vereinzelte Figuren ermöglichen. Dennoch freue ich mich schon, wenn das Publikum, nach Monaten von Familientreffen auf Zoom, wieder spuckende Schauspieler_innen ohne Scheibe dazwischen sehen darf.
Und welche Stücke sind das, die Sie nun mehrgleisig konzipieren?
Wir hatten am Deutschen Theater ein Stück geplant mit einem sehr schmalen Bühnenraum, einem engen Flur voller Menschen, das wir jetzt so nicht machen können und auf später verschieben. Wir machen nun stattdessen Maria Stuart in ziemlich kurzer Zeit, mit einem relativ jungen Ensemble. Das ist ein Herzensprojekt von mir, da denke ich schon länger drüber nach, es kommt bloß früher als geplant. Nicht nur weil die Königin gefangen ist…. (lacht). Es gibt da ja einige isolierte Figuren!
Sonntag, 26. April 2020
JETZT STEHT EINE GRUNDSATZFRAGE AUF DEM SPIEL

Foto: Bilgin Ayata im Video-Chat mit Tobi Müller
Bilgin Ayata ist Professorin für Politische Soziologie an der Universität Basel und derzeit Fellow am Sonderforschungsbereich Affective Societies an der FU Berlin und hätte am 27. April im Deutschen Theater mit Cilja Harders über die europäische Flüchtlingspolitik reden sollen. Seit der Pandemie haben sich die Bedingungen für die Geflüchteten weiter verschärft, besonders an den Außengrenzen der EU. Darüber sowie über die Rolle der Künste sprach Tobi Müller mit Bilgin Ayata am 21. April per Videokonferenz.
Die Kolumnistin Mely Kiyak schreibt auf republik.ch: "Deutschland hat 47 Kinder und Jugendliche aufgenommen. Bleiben nur noch 39’953 Flüchtlinge in akuter Lebensgefahr." Es geht um die verschwindend geringe Zahl von Menschen in den Lagern auf den ägäischen Inseln, die von EU-Staaten aufgenommen werden. Woran liegt es, dass der Aufschrei nicht lauter ist gegen diese Politik?
Bilgin Ayata: Ein Grund ist, dass schon lange vor dem Flüchtlingssommer 2015 eine Mobilisierung auf politischer Ebene entstand, die Flucht und Migration kriminalisiert und entmenschlicht. Es wird gar nicht mehr in Frage gestellt, warum Menschen, die Schutz suchen, auch nach der Registrierung weiter in Lagern festgehalten werden. Aber das muss natürlich in Frage gestellt werden. In der Pandemie sehen wir nun, was es bedeutet, in diesen Lagern zu leben. Die Corona-Krise vergrößert mit einer Lupe diesen Zustand. Doch es gibt schon laute Kritik. Ich bin überrascht, dass trotz des Versammlungsverbotes und der Einschränkungen eine Bewegung wie #LeaveNoOneBehind entstanden ist und sich weiter entwickelt. Politisch herrscht hingegen Stagnation.
Spielt die Pandemie da mit hinein? Da wir uns legal nicht versammeln können, fehlen die Kanäle des Protestes
Ayata: Ich halte das für eine spannende Zeit für Proteste. Aktivisten von #LeaveNoOneBehind haben sich in Frankfurt am Main beim Bäcker in die Schlange gestellt, als die Polizei kam. Das fand ich geradezu kreativ. Sie haben auch eine Twitter-Demo gemacht auf dem Account der Bundesregierung. In Berlin, aber auch in Basel, wo ich gerade lebe, hängen viele Plakate in den Straßen. Dass diese Kampagne in den Medien keine riesige Verbreitung findet, liegt eher daran, dass die Aufmerksamkeit seit Jahren auf Migrationsbekämpfung gelegt wird und der Schutzfaktor eine geringere Rolle spielt.
Was ich oft gehört habe von Geflüchteten: Die Lager auf der osteuropäischen Route, speziell in Bulgarien, konnte man nicht verlassen, unter anderem weil draußen Rechtsextreme patrouillierten. Die hygienischen Bedingungen waren schlecht. Was man jetzt aus Lesbos hört, ist noch schlimmer. Das Prinzip Gefängnis bleibt aber, erst recht unter dem restriktiven Lockdown, den die griechische Regierung für die Migranten bestimmt hat.
Ayata: Die Hotspots in Griechenland sind seit dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das 2016 vereinbart wurde, zu Masseninternierungslagern auf den fünf Inseln geworden. Der Transfer auf das Festland ist sehr begrenzt, alle Ankommenden bleiben erst einmal auf den ägäischen Inseln. Das sind derzeit etwa 40.000 auf den Inseln Lesvos, Chios, Samos, Leros und Kos. Die Zustände haben sich jetzt sogar noch verschärft und die Situation kommt den Bedingungen nahe, die Sie aus Bulgarien erwähnt haben. Zwei Faktoren sind da wichtig. Zum einen wurde im letzten Sommer eine neue Regierung gewählt in Griechenland, die Nea Dimokratia, die die linke Syriza abgelöst hat und eine Verbindung mit konservativen und rechtsnationalen Kräften eingegangen ist. Ein erstes Ziel dieser Regierung auf der Agenda war: geschlossene Lager. Davor waren die Tore in den Lagern offen, unter bestimmten Auflagen konnte man in die Stadt gehen. In der Pandemie wurden diese Bestimmungen nun deutlich verschärft. Zum andern hat nun die EU der Regierung 220 Millionen Euro zugesprochen, um fünf neue geschlossene Lager zu bauen.
Ein Grund für die Lage in der Ägäis ist der freie Personenverkehr im Schengener Raum, der zu entsprechend harter Befestigung der EU-Außengrenzen geführt hat. Von freiem Verkehr kann man in der Pandemie nicht mehr sprechen. Was heißt das für die Flüchtlingsrouten?
Ayata: Die Ankunftszahlen aus der Türkei waren am Anfang der Pandemie tatsächlich sehr gering. Noch Anfang März öffnete die Türkei ihre Grenzen, um die EU unter Druck zu setzen. Und dann kam die Pandemie dazwischen. Die Grenzen wurden geschlossen und es wird stark kontrolliert. Doch die Ankünfte gibt es nach wie vor – im Mittelmeer vor Italien auf Schiffen, oder in Griechenland, wo die Geflüchteten derzeit isoliert werden. Die kommen also gar nicht erst in die Hotspots, wo sonst die Geflüchteten hingebracht werden für die Registrierung. Stattdessen werden sie isoliert gehalten und auf das Festland in neue Lager gebracht.
Sie schreiben in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kulturaustausch: "Bei einer über die Türkei eingereisten Person gilt der Antrag als unzulässig, wenn sie nicht nachweisen kann, dass ihr Leben bei einer Rückführung in die Türkei in Gefahr wäre. Dann wird sie in die Türkei deportiert. Diese Zulässigkeitsprüfung ist dem eigentlichen Asylverfahren vorgelagert und stellt sowohl für Schutzsuchende als auch die griechischen Behörden eine zusätzliche administrative Hürde dar. Die Folge sind hoffnungslos überfüllte Lager." Wenn ich das richtig verstehe, geht es hier um das ewige Problem der safe countries, also welche Drittstaaten als sicher eingestuft werden?
Ayata: Das ursächliche Problem ist etwas anderes. Das Kerndilemma: Der Schengen-Raum gewährleistet EU-Bürger_innen, unter normalen Umständen freien Personenverkehr innerhalb der EU, gleichzeitig wird versucht, die Außengrenzen hermetisch abzuriegeln. Für alle die "irregulär", also ohne Papiere in diesen Raum eintreten, wendet die EU zunehmend Methoden an, die in eine Grauzone der Rechtsstaatlichkeit führen. Gleichzeitig aber hat sich die EU gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 dem Schutz von Geflüchteten verpflichtet. Doch diese Verpflichtung steht im Widerspruch zu aktuellen Maßnahmen, zum Beispiel die Unterscheidung in zulässige und unzulässige. Er oder sie darf laut Genfer Konvention nicht bestraft werden, eine Grenze übertreten zu haben, um Schutz zu suchen. Die Vorverlagerung der Asylverfahren in diesen Hotspots widerspricht dem. Der sichere Drittstaat ist ein Element der europäischen Migrationspolitik, die sich in den letzten 30 Jahren Schritt für Schritt entwickelt hat. Da geht es darum, dass Asylsuchende, die über einen sicheren Drittstaat eingereist sind, auch nur dort einen Antrag stellen dürfen. Die Türkei ist nach Meinung von vielen Rechtswissenschaftlern und Menschenrechtsorganisationen kein sicherer Drittstaat. Sie produziert selbst Flüchtlinge, wie wir in den letzten Jahren deutlich gesehen haben. Und die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Vorbehalt unterzeichnet.
Es geht um das Dublin-Abkommen: Zuständig ist jenes Land, das die Geflüchteten zuerst kontrolliert. Verhindert das eine Koordination der EU-Flüchtlingspolitik?
Ayata: Ich glaube, dass es nicht mehr um technische oder administrative Fragen geht. Jetzt steht eine Grundsatzfrage auf dem Spiel: Verpflichtet sich die EU noch dem Schutz der Geflüchteten? Die Praxis an den Außengrenzen sieht anders aus: Es gibt Millionen von Menschen, die ihre Wohnorte verlassen müssen, weil es dort Krieg und Vertreibung gibt, woran die Politik einiger westliche Länder mitschuldig ist. Wenn wir unseren Reichtum unter anderem der Rüstungsindustrie verdanken, müssen wir uns auch mit den Konsequenzen befassen. Die Pandemie führt nun auch bei uns dazu, dass viele Menschen zum ersten Mal in eine Notsituation geraten und Ängste haben, die denen von Geflüchteten ein Stück weit ähnlich sind. In vielen Teilen der Welt sind solche Notsituationen aber Alltag. Mehr Überwachung und Migrationskontrolle sind keine Antwort auf diese Fragen der strukturellen Ungleichheit.
Welche Rolle kommt den Theatern in Migrationsfragen zu? Viele alte Stoffe handeln von Krieg und Vertreibung, dann gibt es dokumentarische Arbeiten, aber auch Arbeiten mit Geflüchteten…
Ayata: Ich bin Migrationssoziologin, nicht Theaterwissenschaftlerin, und sehe das vielleicht etwas unkritischer als meine Kolleg_innen in der Kulturarbeit. Als außenstehende Beobachterin finde ich bemerkenswert, was einige Theater leisten. Das ist ein Gegenpol zur populistischen Mobilisierung. Mein Fachgebiet handelt von Grenzübertritten, und auch persönlich überschreite ich gerne die Grenze von der Wissenschaft zu den Künsten. Das ist ein wichtiger Nährboden der Kritik, die andere Fragen stellt als die Medien. Klar erinnere ich mich auch an schwierige Diskussionen im Theater, etwa in Bezug auf Blackfacing – man kann ja Rassismus nicht getrennt von Migration betrachten. Oder die Frage nach der Diversität in Besetzungen und Inhalten. Das sind natürlich intersektionale Fragen, es geht gleichzeitig auch um Geschlecht, Alter, Körper und mehr. Persönlich habe ich letztes Jahr mit dem Gorki Theater zusammengearbeitet, sie haben ein Konzept von mir über "Deheimatization" aufgegriffen und zum Thema ihres Herbstsalons gemacht. 100 Künstler haben sich ganz unterschiedlich mit dem Begriff beschäftigt, das hatte eine Pluralität zur Folge, die im wissenschaftlichen Betrieb unmöglich wäre. Da gibt meistens eine Kritik, dann eine Gegen-Kritik, und so entwickelt sich das – vielleicht – weiter. Das Theater hat andere Möglichkeiten. Dass die AFD sich so sehr auf Kultureinrichtungen und speziell auf das Theater einschießt, ist gerade ein Zeichen dafür, wie erfolgreich die Arbeit der Theater eben ist.
Was kann das Theater besser als die Medien, wo haben die Medien welches Manko? In Deutschland hat 2015, fast zu meinem Erstaunen, nicht ein einziges großes Medienhaus gegen die Flüchtlinge gehetzt.
Ayata: Man muss aber aufpassen, nicht alles von 2015 her zu erklären. Das ist nicht der einzige Umkehrpunkt. Die Debatte ist viel älter. Wichtig für die Debatte in Deutschland war die radikale Einschränkung des Rechts auf Asyl laut Artikel 16 im Jahr 1993. Das ist der zentrale Umkehrpunkt, wie ich ihn sehe. Ich kann mich noch gut an das Spiegel-Cover zu der Zeit erinnern erinnern, mit Geflüchteten die die Tore stürmen.Wir haben eine konstante Medienkampagne seit 25 Jahren in der Migration kriminalisiert und dehumanisiert wird. Und da kommt den Künsten eine große Rolle zu, die Geschichten zum Leben erwecken, die nicht mehr erzählt werden können. Es wird über den Migranten, die Muslima gesprochen, aber aus welchen Perspektiven und mit welchen Inhalten? In den Künsten können andere Geschichten erzählt werden. Das Theater ist da relativ spät eingestiegen. Und man muss auch sehen, woher die Impulse kamen, zum Beispiel aus dem Ballhaus Naunynstraße ab 2008 unter Shermin Langhoff in Berlin. Oder Festivals im Theater Hebbel am Ufer wie Beyond Belonging, die von Menschen kuratiert wurden, die selbst ständig als "others", als "andere" markiert worden waren. Das war eine wichtige Zeit für die Theater, die sich zwar als Freiheitsräume verstanden, aber oft gar nicht mehr gemerkt haben, wie sie ihre alten Strukturen ständig reproduzieren. In anderen Ländern ging das schneller, in den USA und in England etwa.
In München, unter dem Intendanten Frank Baumbauer, gab es bereits 2004 das Stadtteilprojekt Bunnyhill: Das Theater ging raus in den Stadtteil Hasenbergl, wo man von Theater noch nicht viel gehört hatte. Daraus entstand bald ein Fördertopf der Kulturstiftung des Bundes…
Ayata: Ja, es gibt sicher auch andere Institutionen, die da viel geleistet haben. Für mich wichtig, wiederum in Berlin, war die Werkstatt der Kulturen, als sie von Philippa Ébéné übernommen wurde. Ich habe dort sehr deutlich den Unterschied gesehen: Setzt man die Akzente für eine Community oder mit ihr. Und heute sind wir auch deswegen an einem Punkt, wo sich kein Theater mehr ohne Kritik leisten kann, dass alle im Ensemble, hm, sagen wir mal, also weiß, männlich…
Sie meinen ein Ensemble in dem alle so aussehen wie ich! (Lachen)
Ayata: Es geht mir aber nicht darum zu sagen, dass die Kunst von Theaterschaffenden mit vielfältigen Biografien besser sei. Es geht mir eher darum, dass die Vielfalt auf den Bühnen notwendig ist, damit auch mehr Kritik und Kritikfähigkeit möglich ist. Eine Bühne, die die Vielfalt der Gesellschaft nicht abbildet, verwehrt sich ihren Möglichkeiten und Potentialen.
In der Bildenden Kunst und in der Performance kann man von einer Wende reden hin zum Politischen. Die Gruppe Forensic Architecture erhält Preise für kriminalistische Nachstellungen, etwa von NSU-Morden in Deutschland, jüngst von einem Vorfall an der griechischen Grenze, als ein 22jähriger Syrer starb, nachdem er von Gummigeschossen getroffen wurde. Warum ist Kunst so wichtig?
Ayata: Forensic Architecture leisten großartige Arbeit. Sie haben als eine Forschergruppe gestartet und sind heute zu einer alternativen Institution geworden, die staatliche Gewalt untersucht. Forensic Architecture arbeiten mittlerweile nicht nur an Kunst-Biennalen, sondern nehmen auch Aufträge an, ungeklärte oder umstrittene staatliche Gewalttakte zu untersuchen. Und da könnte man kritisch fragen: Sind die so wichtig geworden, weil Menschenrechtsorganisationen mitunter so sehr von staatlichen Interessen bestimmt werden, dass ihre Kritik darunter leidet? Ich denke an die UNHCR, die Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen, oder an die IOM, die Internationale Organisation für Migration. Mittlerweile ist es so, dass diese Organisationen zum Schutz von Migranten selbst zu jenen Akteuren der Migrationspolitik geworden sind, die sie ab und wann kritisieren. Und da stellt sich Frage, die auch der Kunst nicht fremd ist: So liegt die Grenze von Kooperation und Vereinnahmung, ab wann wird die Kritik der eigenen Selbsterhaltung untergeordnet?
Weiterführende Links zur Arbeit von Bilgin Ayata über die Lager in der Ägäis:
https://www.eurozine.com/the-limits-of-protection-prevention-and-care/
https://www.eurozine.com/politics-of-abandonment/
https://www.instagram.com/eu_migrationpolicy_hotspots/
Die Kolumnistin Mely Kiyak schreibt auf republik.ch: "Deutschland hat 47 Kinder und Jugendliche aufgenommen. Bleiben nur noch 39’953 Flüchtlinge in akuter Lebensgefahr." Es geht um die verschwindend geringe Zahl von Menschen in den Lagern auf den ägäischen Inseln, die von EU-Staaten aufgenommen werden. Woran liegt es, dass der Aufschrei nicht lauter ist gegen diese Politik?
Bilgin Ayata: Ein Grund ist, dass schon lange vor dem Flüchtlingssommer 2015 eine Mobilisierung auf politischer Ebene entstand, die Flucht und Migration kriminalisiert und entmenschlicht. Es wird gar nicht mehr in Frage gestellt, warum Menschen, die Schutz suchen, auch nach der Registrierung weiter in Lagern festgehalten werden. Aber das muss natürlich in Frage gestellt werden. In der Pandemie sehen wir nun, was es bedeutet, in diesen Lagern zu leben. Die Corona-Krise vergrößert mit einer Lupe diesen Zustand. Doch es gibt schon laute Kritik. Ich bin überrascht, dass trotz des Versammlungsverbotes und der Einschränkungen eine Bewegung wie #LeaveNoOneBehind entstanden ist und sich weiter entwickelt. Politisch herrscht hingegen Stagnation.
Spielt die Pandemie da mit hinein? Da wir uns legal nicht versammeln können, fehlen die Kanäle des Protestes
Ayata: Ich halte das für eine spannende Zeit für Proteste. Aktivisten von #LeaveNoOneBehind haben sich in Frankfurt am Main beim Bäcker in die Schlange gestellt, als die Polizei kam. Das fand ich geradezu kreativ. Sie haben auch eine Twitter-Demo gemacht auf dem Account der Bundesregierung. In Berlin, aber auch in Basel, wo ich gerade lebe, hängen viele Plakate in den Straßen. Dass diese Kampagne in den Medien keine riesige Verbreitung findet, liegt eher daran, dass die Aufmerksamkeit seit Jahren auf Migrationsbekämpfung gelegt wird und der Schutzfaktor eine geringere Rolle spielt.
Was ich oft gehört habe von Geflüchteten: Die Lager auf der osteuropäischen Route, speziell in Bulgarien, konnte man nicht verlassen, unter anderem weil draußen Rechtsextreme patrouillierten. Die hygienischen Bedingungen waren schlecht. Was man jetzt aus Lesbos hört, ist noch schlimmer. Das Prinzip Gefängnis bleibt aber, erst recht unter dem restriktiven Lockdown, den die griechische Regierung für die Migranten bestimmt hat.
Ayata: Die Hotspots in Griechenland sind seit dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das 2016 vereinbart wurde, zu Masseninternierungslagern auf den fünf Inseln geworden. Der Transfer auf das Festland ist sehr begrenzt, alle Ankommenden bleiben erst einmal auf den ägäischen Inseln. Das sind derzeit etwa 40.000 auf den Inseln Lesvos, Chios, Samos, Leros und Kos. Die Zustände haben sich jetzt sogar noch verschärft und die Situation kommt den Bedingungen nahe, die Sie aus Bulgarien erwähnt haben. Zwei Faktoren sind da wichtig. Zum einen wurde im letzten Sommer eine neue Regierung gewählt in Griechenland, die Nea Dimokratia, die die linke Syriza abgelöst hat und eine Verbindung mit konservativen und rechtsnationalen Kräften eingegangen ist. Ein erstes Ziel dieser Regierung auf der Agenda war: geschlossene Lager. Davor waren die Tore in den Lagern offen, unter bestimmten Auflagen konnte man in die Stadt gehen. In der Pandemie wurden diese Bestimmungen nun deutlich verschärft. Zum andern hat nun die EU der Regierung 220 Millionen Euro zugesprochen, um fünf neue geschlossene Lager zu bauen.
Ein Grund für die Lage in der Ägäis ist der freie Personenverkehr im Schengener Raum, der zu entsprechend harter Befestigung der EU-Außengrenzen geführt hat. Von freiem Verkehr kann man in der Pandemie nicht mehr sprechen. Was heißt das für die Flüchtlingsrouten?
Ayata: Die Ankunftszahlen aus der Türkei waren am Anfang der Pandemie tatsächlich sehr gering. Noch Anfang März öffnete die Türkei ihre Grenzen, um die EU unter Druck zu setzen. Und dann kam die Pandemie dazwischen. Die Grenzen wurden geschlossen und es wird stark kontrolliert. Doch die Ankünfte gibt es nach wie vor – im Mittelmeer vor Italien auf Schiffen, oder in Griechenland, wo die Geflüchteten derzeit isoliert werden. Die kommen also gar nicht erst in die Hotspots, wo sonst die Geflüchteten hingebracht werden für die Registrierung. Stattdessen werden sie isoliert gehalten und auf das Festland in neue Lager gebracht.
Sie schreiben in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kulturaustausch: "Bei einer über die Türkei eingereisten Person gilt der Antrag als unzulässig, wenn sie nicht nachweisen kann, dass ihr Leben bei einer Rückführung in die Türkei in Gefahr wäre. Dann wird sie in die Türkei deportiert. Diese Zulässigkeitsprüfung ist dem eigentlichen Asylverfahren vorgelagert und stellt sowohl für Schutzsuchende als auch die griechischen Behörden eine zusätzliche administrative Hürde dar. Die Folge sind hoffnungslos überfüllte Lager." Wenn ich das richtig verstehe, geht es hier um das ewige Problem der safe countries, also welche Drittstaaten als sicher eingestuft werden?
Ayata: Das ursächliche Problem ist etwas anderes. Das Kerndilemma: Der Schengen-Raum gewährleistet EU-Bürger_innen, unter normalen Umständen freien Personenverkehr innerhalb der EU, gleichzeitig wird versucht, die Außengrenzen hermetisch abzuriegeln. Für alle die "irregulär", also ohne Papiere in diesen Raum eintreten, wendet die EU zunehmend Methoden an, die in eine Grauzone der Rechtsstaatlichkeit führen. Gleichzeitig aber hat sich die EU gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 dem Schutz von Geflüchteten verpflichtet. Doch diese Verpflichtung steht im Widerspruch zu aktuellen Maßnahmen, zum Beispiel die Unterscheidung in zulässige und unzulässige. Er oder sie darf laut Genfer Konvention nicht bestraft werden, eine Grenze übertreten zu haben, um Schutz zu suchen. Die Vorverlagerung der Asylverfahren in diesen Hotspots widerspricht dem. Der sichere Drittstaat ist ein Element der europäischen Migrationspolitik, die sich in den letzten 30 Jahren Schritt für Schritt entwickelt hat. Da geht es darum, dass Asylsuchende, die über einen sicheren Drittstaat eingereist sind, auch nur dort einen Antrag stellen dürfen. Die Türkei ist nach Meinung von vielen Rechtswissenschaftlern und Menschenrechtsorganisationen kein sicherer Drittstaat. Sie produziert selbst Flüchtlinge, wie wir in den letzten Jahren deutlich gesehen haben. Und die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Vorbehalt unterzeichnet.
Es geht um das Dublin-Abkommen: Zuständig ist jenes Land, das die Geflüchteten zuerst kontrolliert. Verhindert das eine Koordination der EU-Flüchtlingspolitik?
Ayata: Ich glaube, dass es nicht mehr um technische oder administrative Fragen geht. Jetzt steht eine Grundsatzfrage auf dem Spiel: Verpflichtet sich die EU noch dem Schutz der Geflüchteten? Die Praxis an den Außengrenzen sieht anders aus: Es gibt Millionen von Menschen, die ihre Wohnorte verlassen müssen, weil es dort Krieg und Vertreibung gibt, woran die Politik einiger westliche Länder mitschuldig ist. Wenn wir unseren Reichtum unter anderem der Rüstungsindustrie verdanken, müssen wir uns auch mit den Konsequenzen befassen. Die Pandemie führt nun auch bei uns dazu, dass viele Menschen zum ersten Mal in eine Notsituation geraten und Ängste haben, die denen von Geflüchteten ein Stück weit ähnlich sind. In vielen Teilen der Welt sind solche Notsituationen aber Alltag. Mehr Überwachung und Migrationskontrolle sind keine Antwort auf diese Fragen der strukturellen Ungleichheit.
Welche Rolle kommt den Theatern in Migrationsfragen zu? Viele alte Stoffe handeln von Krieg und Vertreibung, dann gibt es dokumentarische Arbeiten, aber auch Arbeiten mit Geflüchteten…
Ayata: Ich bin Migrationssoziologin, nicht Theaterwissenschaftlerin, und sehe das vielleicht etwas unkritischer als meine Kolleg_innen in der Kulturarbeit. Als außenstehende Beobachterin finde ich bemerkenswert, was einige Theater leisten. Das ist ein Gegenpol zur populistischen Mobilisierung. Mein Fachgebiet handelt von Grenzübertritten, und auch persönlich überschreite ich gerne die Grenze von der Wissenschaft zu den Künsten. Das ist ein wichtiger Nährboden der Kritik, die andere Fragen stellt als die Medien. Klar erinnere ich mich auch an schwierige Diskussionen im Theater, etwa in Bezug auf Blackfacing – man kann ja Rassismus nicht getrennt von Migration betrachten. Oder die Frage nach der Diversität in Besetzungen und Inhalten. Das sind natürlich intersektionale Fragen, es geht gleichzeitig auch um Geschlecht, Alter, Körper und mehr. Persönlich habe ich letztes Jahr mit dem Gorki Theater zusammengearbeitet, sie haben ein Konzept von mir über "Deheimatization" aufgegriffen und zum Thema ihres Herbstsalons gemacht. 100 Künstler haben sich ganz unterschiedlich mit dem Begriff beschäftigt, das hatte eine Pluralität zur Folge, die im wissenschaftlichen Betrieb unmöglich wäre. Da gibt meistens eine Kritik, dann eine Gegen-Kritik, und so entwickelt sich das – vielleicht – weiter. Das Theater hat andere Möglichkeiten. Dass die AFD sich so sehr auf Kultureinrichtungen und speziell auf das Theater einschießt, ist gerade ein Zeichen dafür, wie erfolgreich die Arbeit der Theater eben ist.
Was kann das Theater besser als die Medien, wo haben die Medien welches Manko? In Deutschland hat 2015, fast zu meinem Erstaunen, nicht ein einziges großes Medienhaus gegen die Flüchtlinge gehetzt.
Ayata: Man muss aber aufpassen, nicht alles von 2015 her zu erklären. Das ist nicht der einzige Umkehrpunkt. Die Debatte ist viel älter. Wichtig für die Debatte in Deutschland war die radikale Einschränkung des Rechts auf Asyl laut Artikel 16 im Jahr 1993. Das ist der zentrale Umkehrpunkt, wie ich ihn sehe. Ich kann mich noch gut an das Spiegel-Cover zu der Zeit erinnern erinnern, mit Geflüchteten die die Tore stürmen.Wir haben eine konstante Medienkampagne seit 25 Jahren in der Migration kriminalisiert und dehumanisiert wird. Und da kommt den Künsten eine große Rolle zu, die Geschichten zum Leben erwecken, die nicht mehr erzählt werden können. Es wird über den Migranten, die Muslima gesprochen, aber aus welchen Perspektiven und mit welchen Inhalten? In den Künsten können andere Geschichten erzählt werden. Das Theater ist da relativ spät eingestiegen. Und man muss auch sehen, woher die Impulse kamen, zum Beispiel aus dem Ballhaus Naunynstraße ab 2008 unter Shermin Langhoff in Berlin. Oder Festivals im Theater Hebbel am Ufer wie Beyond Belonging, die von Menschen kuratiert wurden, die selbst ständig als "others", als "andere" markiert worden waren. Das war eine wichtige Zeit für die Theater, die sich zwar als Freiheitsräume verstanden, aber oft gar nicht mehr gemerkt haben, wie sie ihre alten Strukturen ständig reproduzieren. In anderen Ländern ging das schneller, in den USA und in England etwa.
In München, unter dem Intendanten Frank Baumbauer, gab es bereits 2004 das Stadtteilprojekt Bunnyhill: Das Theater ging raus in den Stadtteil Hasenbergl, wo man von Theater noch nicht viel gehört hatte. Daraus entstand bald ein Fördertopf der Kulturstiftung des Bundes…
Ayata: Ja, es gibt sicher auch andere Institutionen, die da viel geleistet haben. Für mich wichtig, wiederum in Berlin, war die Werkstatt der Kulturen, als sie von Philippa Ébéné übernommen wurde. Ich habe dort sehr deutlich den Unterschied gesehen: Setzt man die Akzente für eine Community oder mit ihr. Und heute sind wir auch deswegen an einem Punkt, wo sich kein Theater mehr ohne Kritik leisten kann, dass alle im Ensemble, hm, sagen wir mal, also weiß, männlich…
Sie meinen ein Ensemble in dem alle so aussehen wie ich! (Lachen)
Ayata: Es geht mir aber nicht darum zu sagen, dass die Kunst von Theaterschaffenden mit vielfältigen Biografien besser sei. Es geht mir eher darum, dass die Vielfalt auf den Bühnen notwendig ist, damit auch mehr Kritik und Kritikfähigkeit möglich ist. Eine Bühne, die die Vielfalt der Gesellschaft nicht abbildet, verwehrt sich ihren Möglichkeiten und Potentialen.
In der Bildenden Kunst und in der Performance kann man von einer Wende reden hin zum Politischen. Die Gruppe Forensic Architecture erhält Preise für kriminalistische Nachstellungen, etwa von NSU-Morden in Deutschland, jüngst von einem Vorfall an der griechischen Grenze, als ein 22jähriger Syrer starb, nachdem er von Gummigeschossen getroffen wurde. Warum ist Kunst so wichtig?
Ayata: Forensic Architecture leisten großartige Arbeit. Sie haben als eine Forschergruppe gestartet und sind heute zu einer alternativen Institution geworden, die staatliche Gewalt untersucht. Forensic Architecture arbeiten mittlerweile nicht nur an Kunst-Biennalen, sondern nehmen auch Aufträge an, ungeklärte oder umstrittene staatliche Gewalttakte zu untersuchen. Und da könnte man kritisch fragen: Sind die so wichtig geworden, weil Menschenrechtsorganisationen mitunter so sehr von staatlichen Interessen bestimmt werden, dass ihre Kritik darunter leidet? Ich denke an die UNHCR, die Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen, oder an die IOM, die Internationale Organisation für Migration. Mittlerweile ist es so, dass diese Organisationen zum Schutz von Migranten selbst zu jenen Akteuren der Migrationspolitik geworden sind, die sie ab und wann kritisieren. Und da stellt sich Frage, die auch der Kunst nicht fremd ist: So liegt die Grenze von Kooperation und Vereinnahmung, ab wann wird die Kritik der eigenen Selbsterhaltung untergeordnet?
Weiterführende Links zur Arbeit von Bilgin Ayata über die Lager in der Ägäis:
https://www.eurozine.com/the-limits-of-protection-prevention-and-care/
https://www.eurozine.com/politics-of-abandonment/
https://www.instagram.com/eu_migrationpolicy_hotspots/
Sonntag, 19. April 2020
"DER KÖRPER WIRD EINE RÜCKKEHR ERLEBEN"


Auf dem Bild links: Ulrich Khuon, rechts: Christoph Biermann. Aufnahmen des Videointerviews mit Tobi Müller
Was verbindet Fußball und Theater in der Krise? Ein Gespräch mit Ulrich Khuon, Intendant des DT und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, und dem Fußballjournalisten Christoph Biermann (u. a. 11 Freunde), der im DT zum monatlichen Fußballsalon einlädt. Die Fragen stellte Kulturjournalist Tobi Müller (im normalen DT-Leben eine Gastgeberhälfte des Popsalon) am 14. April in einer Videokonferenz.
Ulrich Khuon, Christoph Biermann, wie kommen Sie durch diese fußballfreie Zeit? Schauen Sie das Champions League Finale von 2005 mit neuem Kommentar an? Streamen Sie die weißrussische Liga, die noch immer spielt?
Ulrich Khuon: Ein Sport, der nicht aktuell ist, erscheint mir als Widerspruch. Aber ich gebe zu, ich bin da nicht konsequent. Ich fahre Heimrad und normalerweise beflügeln mich dabei die großen Touren, der Giro d'Italia oder die Tour de France. Aber neulich bin ich dann doch einer historischen Radtour hinterhergefahren.
Christoph Biermann: Habe bei mir komischerweise auch kein Interesse an historischen Spielen festgestellt. Dafür habe ich einige Dokumentationen geguckt: Sunderland‚ 'Til I Die oder auch Puerta 7 - Eine Frau räumt auf, das ist eine argentinische Serie auf Netflix, die im Barra Brava-Milieu spielt. Es geht um Hooliganismus, Korruption und Drogen. Dann gibt es einen Dokumentarfilm über den senegalesischen Spieler Sadio Mané, der bei Liverpool unter Vertrag steht. Wenn man nun alte Spiele analysieren möchte, wäre das Archiv eine Möglichkeit, sicher. Aber an dem Punkt bin ich noch nicht.
Niemand schaut die weißrussische Liga?
Biermann: Kann man die sehen? Ich hab sie noch nicht gesucht…
Die Rechte wurden bereits in zwölf Länder verkauft, nicht nach Deutschland allerdings. Aber online ließe sich das wohl finden.
Khuon: Ich bin da einmal zufällig hineingeraten. Aber ein Fußballspiel hängt entscheidend an der Identifikation der Zuschauenden. Man hat sich mit der Mannschaft beschäftigt, entwickelt Empathie. Das gelänge mir auch in der weißrussischen Liga, bloß müsste ich dranbleiben. Aber ich arbeite zurzeit so viel wie selten zuvor, da kann ich mir nicht noch den weißrussischen Fußball drauf schaffen. (Lachen in der Runde)
An Ostern schauten die Kinder bei uns das Champions-League-Finale von 2005, AC Milan gegen Liverpool. Ich blieb bloß 5 Minuten hängen. Faszinierend: 2005 gab es keine Tattoos auf dem Platz, kaum Bärte, viel größere Räume…
Biermann: Bärte und Tattoos: klar, Fußballer sind Teil ihrer Zeit. Die irren Fußballerfrisuren der Achtzigerjahre spiegelten auch nur die irren Frisuren der anderen damals. Heute ist das vielleicht noch ausgeprägter, zum Beispiel mit dem ganzen Tätowierwesen. Ansonsten stimmt das: Platz und Zeit sind die rarsten Ressourcen, die man im Fußball hat. Und diese Entwicklung hat sich wahnsinnig beschleunigt. Man kann die Geschichte des Fußballs als eine durch die Jahrzehnte immer weiter durchgedrückten Gaspedals erzählen. Die Spieler sind nicht immer schneller, aber sie sprinten häufiger und über längere Strecken und Räume zulaufen, wie es so schön heißt. Da wo der Ball ist, gibt es immer weniger Zeit und Platz.
Ist das Theater auch schneller geworden, Ulrich Khuon? In den Neunzigerjahren wurde Frank Castorf mitunter sehr schnell (wenn auch lang), Christoph Marthaler sehr langsam. Und heute?
Khuon: So linear wie im Fußball ist das im Theater nicht. Im Theater der Gegenwart passiert alles gleichzeitig. Es gibt ein immersives Theater der Beteiligung, gleichzeitig ein Theater der Repräsentation und der Distanz. Was das Theater meistens versucht zu vermeiden, ist der Realismus. Die Normalbewegung findet kaum statt. Sie wird entweder beschleunigt, oder verlangsamt. Michael Thalheimer ist eher ein Beschleuniger, zumindest war er das eine Zeit lang. Susanne Kennedy entschleunigt wieder.
Es gibt mehr Extreme als noch vor wenigen Jahrzehnten – Das irre Tempo am Schluss der "Lear"-Inszenierung von Sebastian Hartmann bei Ihnen im Deutschen Theater, mit dem Text "Die Politiker" von Wolfram Lotz wäre in den Achtzigerjahren nicht vorstellbar gewesen, oder?
Khuon: Wobei die Inszenierung Lear erst am Schluss dieses Tempo aufnimmt, mit dem Text von Wolfram Lotz. Davor arbeitet sie mit scheinbarer Ziellosigkeit, und entwickelt sich viel langsamer. Diese Extreme findet man heute mitunter an einem einzigen Abend. Das ist neu, ja.
Eine neue Rolle spielen nun die Archive. Die Schaubühne zeigt alte Arbeiten von Peter Stein, bei Ihnen hat man etwa "Philotas" in der Regie von Friedo Solter von 1987 gesehen. Ich schätze mal, irgendwann packen Sie auch die legendäre "Hamlet/Maschine" von Heiner Müller aus…
Khuon: Ja mal schauen, es ist da einiges geplant, wir haben ja noch ein bisschen etwas vor uns.
Biermann: Genau wie eine Theateraufführung ist ein Fußballspiel eine kulturelle Hervorbringung, die auf dem Livecharakter basiert. Interessanter wird es, wenn man konkrete Fragen an vergangene Spiele stellt. Mich fasziniert der mythenumrankte Spieler und spätere Trainer von Dynamo Kiew wie auch der sowjetrussischen Nationalmannschaft Walerij Lobanowskyi. Der hat ab Mitte der Siebzigerjahre als Trainer viele interessante Sachen gemacht, aber es gibt sehr wenig Bilder davon. Das würde ich schon gerne mal genauer sehen.
Ulrich Khuon, Sie können ja nicht immer überall hinfahren. Nutzen Sie Aufzeichnungen, um Künstler_innen kennenzulernen?
Khuon: Eine Aufzeichnung ist ein Einstieg. Wenn ich es genauer wissen will, muss ich aber hinfahren. Es stimmt schon, ältere Aufzeichnungen sind ein Reservoir, doch ich sehe sie mir selten an. Ich bin geprägt von den Regisseuren der Siebzigerjahre in Frankfurt: Frank-Patrick Steckel, Hans Neuenfels, Klaus Michael Grüber, Peter Palitzsch. Da bin ich nach den Aufführungen nachts drei Stunden heimgefahren nach Freiburg im Auto. Diese Erfahrungen habe ich gemacht, ich muss sie nicht rekonstruieren. Es gibt natürlich Ausnahmen: Kürzlich habe ich eine Inszenierung anno 1963 gesehen von Wolfgang Langhoff, 1969 aufgezeichnet, Iphigenie auf Tauris mit Inge Keller, das hat mich schon berührt.
Es gibt legendäre Inszenierungen noch aus den Siebzigerjahren, die nicht aufgezeichnet wurden. Obwohl mehr Leute ins Theater gehen als in Fußballstadien, das überrascht ja manche. Sie auch, Christoph Biermann?
Biermann: Nee, das ist alles wunderbar. Wobei man auch sehen muss, dass nicht jeden Abend Fußball gespielt wird. Man vergleicht immer Äpfel und Birnen. Aber die Abwesenheit des Publikums trifft beide gerade, das Theater und den Fußball. Wir werden bald Geisterspiele sehen, es wird vor leeren Rängen gekickt werden. Aber das Sportereignis selbst ist fast wertlos ohne die Interaktion mit dem Publikum, soviel wissen wir bereits. Nicht die sportliche Spitzenleistung ist entscheidend. Das Ereignis ist die Bereitschaft des Publikums zur Versammlung, um ihre Mannschaft anzufeuern. Geisterspiele, das wird etwas völlig anderes.
Khuon: Interessant, weil im Fußball ja viel mehr Leute im Fernsehen zugucken. Aber ich glaube, auch da spielt eben die Fiktion eine Rolle. Das Publikum lädt das Spiel auf. Für die Welt ist es völlig egal, wer Deutscher Meister wird. Aber die Aufladung ist wichtig durch den anwesenden Zuschauer.
Biermann: Schönes Bild: die Aufladung. Ja, wir werden den entladenen Fußball sehen. Der Sport an sich funktioniert ja auch, wenn nur drei Leute zuschauen. Aber was es groß macht, auch zum Geschäft macht, wird komplett entladen. Es gab bereits dieses so genannte Geisterspiel zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach. Ich habe danach mit Christoph Kramer gesprochen, Gladbacher und früher auch Nationalspieler. Er sagte, für ihn als Spieler sei es doppelt so anstrengend gewesen und hätte halb so viel Spaß gemacht. Weil er diese Aufladung selbst herstellen musste. Fußballspiele werden als letzte freigegeben, auch weil die ekstatische Masse kaum zu kontrollieren ist. Im Theater ist das eher möglich: jeden dritten Platz besetzen, in der Schlange anstehen. Die Leute sind da diszipliniert genug. Im Fußball wird das so nicht klappen.
In einem Round Table der New York Times hieß es vor ein paar Tagen, mit der Öffnung von Großveranstaltungen sei frühstens im Herbst 2021 zu rechnen. Lesen kann man alles, wissen aber wenig. Wie kann man mit so viel Unsicherheit einen Theaterbetrieb führen?
Khuon: Um eine Gemeinschaft wie ein Theater zusammenzuhalten, muss man sehr viel kommunizieren. Aber gerade ist nichts klar, da haben Sie recht. Man muss jetzt Annahmen möglichst umsichtig in den Raum stellen. Ich kann nicht sagen: keine Ahnung, ob es im Sommer weitergeht oder erst im Herbst 2021, da wäre ich handlungsunfähig. Das geht nicht. Jeder hat ja heutzutage seinen Virologen, so auch ich! Und da höre ich heraus: Wir müssen wahrscheinlich lernen, mit dem Virus zu leben. Ich gehe erst einmal davon aus, dass wir im Herbst unter bestimmten Bedingungen live Theater spielen können: auf Lücke sitzen, mit Mundschutz. Es wird etwas anderes sein, aber ich werde immer für das Live-Erlebnis kämpfen. Mit René Pollesch habe ich schon gesprochen, der bei uns die Eröffnung im Herbst machen soll. Pollesch wird die Distanz mit zum Thema machen. Da bin ich optimistisch. Was aber sicher keinen Sinn hat: Fünf Optionen offen zu halten und für alle zu planen, da würde man irre werden. Die erste Option muss mit Bedacht gewählt sein. Es geht jetzt um das Maß, etwas, das der Kunst sonst ja fremd ist.
Zum Schluss: Wie wird sich die Kunst, der Sport selbst verändern? Bruno Labbadia, der neue Hertha-Trainer, beschrieb das so: in Kleingruppen trainieren, bei künftigen Geisterspielen keine Umarmungen. Fußball als Choreographie der Distanz klingt surreal …
Biermann: Den Körper kann man so trainieren, im Spiel wird das aber schwierig. Und es wird über einen relativ langen Zeitraum Fußball ohne Zuschauer gespielt werden. Aber vergessen wir nicht, dass es auch unterhalb der ersten beiden Ligen viele Menschen gibt, die vom Fußball leben. Und die werden vielleicht ein Jahr nicht spielen können. Weil die nicht von Fernsehrechten leben, sondern allein von Ticketeinnahmen, die nun wegbrechen. Sehr viele müssen sich da bald arbeitslos melden. Auch das wird etwas mit dem Fußball machen. Möglicherweise wird man feststellen, so viel Fußball gar nicht zu brauchen.
Ulrich Khuon, wie sieht die unmittelbare Zukunft bei Ihnen aus: Theatervorstellungen mit weniger Publikum, dazu ein Stream und vielleicht ein sozialmediales Forum dazu?
Khuon: Im Moment sollte es auf jeden Fall keine Denkverbote geben. Im Prinzip gilt für uns dasselbe wie für den Fußball: Es wird sich wahnsinnig viel verändern. Die meiste Energie werden wir auf die Anwesenheit und die Nähe verwenden. Wir werden Lösungen finden müssen für unterschiedliche Rezeptionsformen, auch weil zum Beispiel Ältere sich weniger ins Theater trauen werden. Aber auf Dauer werden wir diese körperliche Distanz nicht aushalten. Der Körper, der nach AIDS, auf der Rückseite der so wichtigen MeToo-Debatte und nun in der Corona-Krise erneut problematisiert wird und zu Verklemmungen führt, wird eine Rückkehr erleben. Vielleicht schon, wenn wir medizinisch einen Schritt weiter sind. Ich glaube nicht, dass wir zehn Jahre "Abstandstheater" erleben, das intellektuell verarbeitet, was wir emotional gerade nicht auf die Reihe kriegen. Ich glaube an die Sehnsucht nach exzessiver Nähe.
Ulrich Khuon, Christoph Biermann, wie kommen Sie durch diese fußballfreie Zeit? Schauen Sie das Champions League Finale von 2005 mit neuem Kommentar an? Streamen Sie die weißrussische Liga, die noch immer spielt?
Ulrich Khuon: Ein Sport, der nicht aktuell ist, erscheint mir als Widerspruch. Aber ich gebe zu, ich bin da nicht konsequent. Ich fahre Heimrad und normalerweise beflügeln mich dabei die großen Touren, der Giro d'Italia oder die Tour de France. Aber neulich bin ich dann doch einer historischen Radtour hinterhergefahren.
Christoph Biermann: Habe bei mir komischerweise auch kein Interesse an historischen Spielen festgestellt. Dafür habe ich einige Dokumentationen geguckt: Sunderland‚ 'Til I Die oder auch Puerta 7 - Eine Frau räumt auf, das ist eine argentinische Serie auf Netflix, die im Barra Brava-Milieu spielt. Es geht um Hooliganismus, Korruption und Drogen. Dann gibt es einen Dokumentarfilm über den senegalesischen Spieler Sadio Mané, der bei Liverpool unter Vertrag steht. Wenn man nun alte Spiele analysieren möchte, wäre das Archiv eine Möglichkeit, sicher. Aber an dem Punkt bin ich noch nicht.
Niemand schaut die weißrussische Liga?
Biermann: Kann man die sehen? Ich hab sie noch nicht gesucht…
Die Rechte wurden bereits in zwölf Länder verkauft, nicht nach Deutschland allerdings. Aber online ließe sich das wohl finden.
Khuon: Ich bin da einmal zufällig hineingeraten. Aber ein Fußballspiel hängt entscheidend an der Identifikation der Zuschauenden. Man hat sich mit der Mannschaft beschäftigt, entwickelt Empathie. Das gelänge mir auch in der weißrussischen Liga, bloß müsste ich dranbleiben. Aber ich arbeite zurzeit so viel wie selten zuvor, da kann ich mir nicht noch den weißrussischen Fußball drauf schaffen. (Lachen in der Runde)
An Ostern schauten die Kinder bei uns das Champions-League-Finale von 2005, AC Milan gegen Liverpool. Ich blieb bloß 5 Minuten hängen. Faszinierend: 2005 gab es keine Tattoos auf dem Platz, kaum Bärte, viel größere Räume…
Biermann: Bärte und Tattoos: klar, Fußballer sind Teil ihrer Zeit. Die irren Fußballerfrisuren der Achtzigerjahre spiegelten auch nur die irren Frisuren der anderen damals. Heute ist das vielleicht noch ausgeprägter, zum Beispiel mit dem ganzen Tätowierwesen. Ansonsten stimmt das: Platz und Zeit sind die rarsten Ressourcen, die man im Fußball hat. Und diese Entwicklung hat sich wahnsinnig beschleunigt. Man kann die Geschichte des Fußballs als eine durch die Jahrzehnte immer weiter durchgedrückten Gaspedals erzählen. Die Spieler sind nicht immer schneller, aber sie sprinten häufiger und über längere Strecken und Räume zulaufen, wie es so schön heißt. Da wo der Ball ist, gibt es immer weniger Zeit und Platz.
Ist das Theater auch schneller geworden, Ulrich Khuon? In den Neunzigerjahren wurde Frank Castorf mitunter sehr schnell (wenn auch lang), Christoph Marthaler sehr langsam. Und heute?
Khuon: So linear wie im Fußball ist das im Theater nicht. Im Theater der Gegenwart passiert alles gleichzeitig. Es gibt ein immersives Theater der Beteiligung, gleichzeitig ein Theater der Repräsentation und der Distanz. Was das Theater meistens versucht zu vermeiden, ist der Realismus. Die Normalbewegung findet kaum statt. Sie wird entweder beschleunigt, oder verlangsamt. Michael Thalheimer ist eher ein Beschleuniger, zumindest war er das eine Zeit lang. Susanne Kennedy entschleunigt wieder.
Es gibt mehr Extreme als noch vor wenigen Jahrzehnten – Das irre Tempo am Schluss der "Lear"-Inszenierung von Sebastian Hartmann bei Ihnen im Deutschen Theater, mit dem Text "Die Politiker" von Wolfram Lotz wäre in den Achtzigerjahren nicht vorstellbar gewesen, oder?
Khuon: Wobei die Inszenierung Lear erst am Schluss dieses Tempo aufnimmt, mit dem Text von Wolfram Lotz. Davor arbeitet sie mit scheinbarer Ziellosigkeit, und entwickelt sich viel langsamer. Diese Extreme findet man heute mitunter an einem einzigen Abend. Das ist neu, ja.
Eine neue Rolle spielen nun die Archive. Die Schaubühne zeigt alte Arbeiten von Peter Stein, bei Ihnen hat man etwa "Philotas" in der Regie von Friedo Solter von 1987 gesehen. Ich schätze mal, irgendwann packen Sie auch die legendäre "Hamlet/Maschine" von Heiner Müller aus…
Khuon: Ja mal schauen, es ist da einiges geplant, wir haben ja noch ein bisschen etwas vor uns.
Biermann: Genau wie eine Theateraufführung ist ein Fußballspiel eine kulturelle Hervorbringung, die auf dem Livecharakter basiert. Interessanter wird es, wenn man konkrete Fragen an vergangene Spiele stellt. Mich fasziniert der mythenumrankte Spieler und spätere Trainer von Dynamo Kiew wie auch der sowjetrussischen Nationalmannschaft Walerij Lobanowskyi. Der hat ab Mitte der Siebzigerjahre als Trainer viele interessante Sachen gemacht, aber es gibt sehr wenig Bilder davon. Das würde ich schon gerne mal genauer sehen.
Ulrich Khuon, Sie können ja nicht immer überall hinfahren. Nutzen Sie Aufzeichnungen, um Künstler_innen kennenzulernen?
Khuon: Eine Aufzeichnung ist ein Einstieg. Wenn ich es genauer wissen will, muss ich aber hinfahren. Es stimmt schon, ältere Aufzeichnungen sind ein Reservoir, doch ich sehe sie mir selten an. Ich bin geprägt von den Regisseuren der Siebzigerjahre in Frankfurt: Frank-Patrick Steckel, Hans Neuenfels, Klaus Michael Grüber, Peter Palitzsch. Da bin ich nach den Aufführungen nachts drei Stunden heimgefahren nach Freiburg im Auto. Diese Erfahrungen habe ich gemacht, ich muss sie nicht rekonstruieren. Es gibt natürlich Ausnahmen: Kürzlich habe ich eine Inszenierung anno 1963 gesehen von Wolfgang Langhoff, 1969 aufgezeichnet, Iphigenie auf Tauris mit Inge Keller, das hat mich schon berührt.
Es gibt legendäre Inszenierungen noch aus den Siebzigerjahren, die nicht aufgezeichnet wurden. Obwohl mehr Leute ins Theater gehen als in Fußballstadien, das überrascht ja manche. Sie auch, Christoph Biermann?
Biermann: Nee, das ist alles wunderbar. Wobei man auch sehen muss, dass nicht jeden Abend Fußball gespielt wird. Man vergleicht immer Äpfel und Birnen. Aber die Abwesenheit des Publikums trifft beide gerade, das Theater und den Fußball. Wir werden bald Geisterspiele sehen, es wird vor leeren Rängen gekickt werden. Aber das Sportereignis selbst ist fast wertlos ohne die Interaktion mit dem Publikum, soviel wissen wir bereits. Nicht die sportliche Spitzenleistung ist entscheidend. Das Ereignis ist die Bereitschaft des Publikums zur Versammlung, um ihre Mannschaft anzufeuern. Geisterspiele, das wird etwas völlig anderes.
Khuon: Interessant, weil im Fußball ja viel mehr Leute im Fernsehen zugucken. Aber ich glaube, auch da spielt eben die Fiktion eine Rolle. Das Publikum lädt das Spiel auf. Für die Welt ist es völlig egal, wer Deutscher Meister wird. Aber die Aufladung ist wichtig durch den anwesenden Zuschauer.
Biermann: Schönes Bild: die Aufladung. Ja, wir werden den entladenen Fußball sehen. Der Sport an sich funktioniert ja auch, wenn nur drei Leute zuschauen. Aber was es groß macht, auch zum Geschäft macht, wird komplett entladen. Es gab bereits dieses so genannte Geisterspiel zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach. Ich habe danach mit Christoph Kramer gesprochen, Gladbacher und früher auch Nationalspieler. Er sagte, für ihn als Spieler sei es doppelt so anstrengend gewesen und hätte halb so viel Spaß gemacht. Weil er diese Aufladung selbst herstellen musste. Fußballspiele werden als letzte freigegeben, auch weil die ekstatische Masse kaum zu kontrollieren ist. Im Theater ist das eher möglich: jeden dritten Platz besetzen, in der Schlange anstehen. Die Leute sind da diszipliniert genug. Im Fußball wird das so nicht klappen.
In einem Round Table der New York Times hieß es vor ein paar Tagen, mit der Öffnung von Großveranstaltungen sei frühstens im Herbst 2021 zu rechnen. Lesen kann man alles, wissen aber wenig. Wie kann man mit so viel Unsicherheit einen Theaterbetrieb führen?
Khuon: Um eine Gemeinschaft wie ein Theater zusammenzuhalten, muss man sehr viel kommunizieren. Aber gerade ist nichts klar, da haben Sie recht. Man muss jetzt Annahmen möglichst umsichtig in den Raum stellen. Ich kann nicht sagen: keine Ahnung, ob es im Sommer weitergeht oder erst im Herbst 2021, da wäre ich handlungsunfähig. Das geht nicht. Jeder hat ja heutzutage seinen Virologen, so auch ich! Und da höre ich heraus: Wir müssen wahrscheinlich lernen, mit dem Virus zu leben. Ich gehe erst einmal davon aus, dass wir im Herbst unter bestimmten Bedingungen live Theater spielen können: auf Lücke sitzen, mit Mundschutz. Es wird etwas anderes sein, aber ich werde immer für das Live-Erlebnis kämpfen. Mit René Pollesch habe ich schon gesprochen, der bei uns die Eröffnung im Herbst machen soll. Pollesch wird die Distanz mit zum Thema machen. Da bin ich optimistisch. Was aber sicher keinen Sinn hat: Fünf Optionen offen zu halten und für alle zu planen, da würde man irre werden. Die erste Option muss mit Bedacht gewählt sein. Es geht jetzt um das Maß, etwas, das der Kunst sonst ja fremd ist.
Zum Schluss: Wie wird sich die Kunst, der Sport selbst verändern? Bruno Labbadia, der neue Hertha-Trainer, beschrieb das so: in Kleingruppen trainieren, bei künftigen Geisterspielen keine Umarmungen. Fußball als Choreographie der Distanz klingt surreal …
Biermann: Den Körper kann man so trainieren, im Spiel wird das aber schwierig. Und es wird über einen relativ langen Zeitraum Fußball ohne Zuschauer gespielt werden. Aber vergessen wir nicht, dass es auch unterhalb der ersten beiden Ligen viele Menschen gibt, die vom Fußball leben. Und die werden vielleicht ein Jahr nicht spielen können. Weil die nicht von Fernsehrechten leben, sondern allein von Ticketeinnahmen, die nun wegbrechen. Sehr viele müssen sich da bald arbeitslos melden. Auch das wird etwas mit dem Fußball machen. Möglicherweise wird man feststellen, so viel Fußball gar nicht zu brauchen.
Ulrich Khuon, wie sieht die unmittelbare Zukunft bei Ihnen aus: Theatervorstellungen mit weniger Publikum, dazu ein Stream und vielleicht ein sozialmediales Forum dazu?
Khuon: Im Moment sollte es auf jeden Fall keine Denkverbote geben. Im Prinzip gilt für uns dasselbe wie für den Fußball: Es wird sich wahnsinnig viel verändern. Die meiste Energie werden wir auf die Anwesenheit und die Nähe verwenden. Wir werden Lösungen finden müssen für unterschiedliche Rezeptionsformen, auch weil zum Beispiel Ältere sich weniger ins Theater trauen werden. Aber auf Dauer werden wir diese körperliche Distanz nicht aushalten. Der Körper, der nach AIDS, auf der Rückseite der so wichtigen MeToo-Debatte und nun in der Corona-Krise erneut problematisiert wird und zu Verklemmungen führt, wird eine Rückkehr erleben. Vielleicht schon, wenn wir medizinisch einen Schritt weiter sind. Ich glaube nicht, dass wir zehn Jahre "Abstandstheater" erleben, das intellektuell verarbeitet, was wir emotional gerade nicht auf die Reihe kriegen. Ich glaube an die Sehnsucht nach exzessiver Nähe.