
Radar Ost 2021
Fünf Fragen an Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch
Was gibt Ihnen Kraft und Halt jetzt, wo Sie gezwungen sind, Ihr Land zum zweiten Mal zu verlassen?
Als es zum ersten Mal passierte, war ich jünger und es war natürlich einfacher, außerdem hatte ich noch die Möglichkeit, mein Land manchmal zu besuchen. Die Türen knallten zu, dann öffneten sie sich wieder. Lukaschenko begann mit Europa zu liebäugeln. Jetzt ist es ein unerwartetes Exil. Ich hatte nicht vor, für eine so lange Zeit wegzugehen – wie wahrscheinlich zehntausende Belarussen, die sich im Ausland wiederfinden und es einfach nicht fassen können. Was mir hilft, ist, dass ich hier einen riesigen Tisch habe. Darauf liegt mein neues Buch. Es handelt von der belarussischen Revolution, die so unerwartet und wunderschön begonnen hat und die nun so hart und schrecklich unterdrückt wird. Das heißt, die Arbeit rettet mich. Es ist, als ob ich zu Hause wäre. Jeder Tag beginnt mit den Nachrichten. Und mit einer neuen Buchseite.
Warum sollte sich das Theater heute mit dem Thema Afghanistan beschäftigen? Mit anderen Worten, worum geht es in Ohnmacht, dem neuen Theaterstück, das von Ihrem Roman Zinkjungen inspiriert ist und auf dem Festival RADAR OST in einer Lesung vorgestellt wird?
Es ist keine Überraschung, dass Afghanistan wieder auf der Tagesordnung steht. Als ich im Krieg dort war, als dort noch sowjetische Truppen waren, zeigten mir die Afghanen alte englische Gewehre: „Mit diesen Gewehren haben wir die Briten vertrieben. Euch werden wir genauso vertreiben.“ Es ist ein gemartertes Land. Wie sich die Menschen an die Flugzeuge klammern und vom Himmel fallen – das sind, meiner Meinung nach, die Bilder dieses Jahrhunderts. Und dabei geht es nicht nur um Afghanistan. Die Sache ist die, dass große Länder auf ihre Art und Weise versuchen, Ordnung in anderen Ländern schaffen. Ist es wirklich notwendig, ständig mit Waffen unterwegs zu sein? Im einundzwanzigsten Jahrhundert sollte man das als Kannibalismus ansehen. Zinkjungen – sowohl das Buch als auch das Stück Ohnmacht – werfen genau diese Fragen auf. Und zwar aus der Sicht der Mutter. Frauen haben diesen eigenen Blick auf die Welt – einen Blick durch das Lebendige. Im 21. Jahrhundert ist der Hauptmythos des Krieges, der Heldentod, nicht mehr mit Bedeutung aufgeladen. Was aber mit Bedeutung aufgeladen ist, ist das Leben. Dass es einen Sinn gibt, das Leben zu erhalten. Der Blick der Frau, er ist sehr tief. Und sehr modern, würde ich sagen. Marius Ivaškevičius hat dies alles in Ohnmacht sehr genau erfasst. Ich hoffe, dass dieses Stück inszeniert wird – die Menschen brauchen es, sie werden darüber nachdenken.
Wie ist das Verhältnis zwischen Kunst und Risiko?
Die Schwierigkeit der Kunst ist ein intellektuelles Risiko: Wie findet man den Text der Kunst und balanciert ihn doch auf der Schwelle, damit es nicht kippt? Das Grauen muss natürlich vermittelt werden, aber wie findet man eine Form, die einen Menschen nicht so sehr erschreckt, dass er nicht zu Ende lesen kann? Denn der Mensch von heute ist so sehr von all dem Grauen, all den Leidenschaften und Ängsten umgeben, dass man sich nicht wundern muss, wenn er nicht liest, nicht schaut. Deshalb versuche ich in meinen Büchern immer, Angst und Trauer miteinander zu verbinden und so zu enden, dass ein Mensch nachdenkt und stärker wird.
Womit wollen Sie sich nicht mehr auseinandersetzen?
Das Unbegreifliche und Abscheuliche und Erschreckende in der menschlichen Natur ist der Verrat. Es gibt eine Geschichte in Secondhand-Zeit, in der ein Junge sehr in Tante Olja, die Schwester seiner Mutter, verliebt ist. Sie ist wunderschön, hat eine schöne Stimme und lange Haare. Aber als er erwachsen wurde, kam die Perestroika, und seine Mutter gestand ihm, dass es Tante Olja war, die seinen Bruder denunziert hat und er deshalb sterben musste. Irgendwo in Sibirien, in den Lagern. Und Tante Olja wird alt und krank, da fragte sie dieser junge Mann: „Tante Olja, wie erinnerst du dich an das Jahr ‘37?“ Plötzlich funkelten ihre Augen: „Oh, es war ein schönes Jahr. Ich war verliebt, ich war glücklich...“ „Und wer hat meinen Bruder denunziert?“ Aber Tante Olja hatte diese Frage schon beantwortet: „Nun, das war die Zeit. Damals hättest du versuchen sollen, einen ehrlichen Menschen zu finden.“ Und hier ist die Frage: Wer ist das Böse? Welche Gesichter hat es – das von Stalin, von Beria. Ja, beide. Aber auch dieses wunderschöne Gesicht von Tante Olja.
Wo stehen wir jetzt in Belarus, wie geht es weiter?
Was heute in Belarus vor sich geht, hat eine der Protagonistinnen in meinem neuen Buch sehr gut beschrieben: Wir leben nach den Büchern von Solschenizyn. Sogar die eigenen Verwandten werden denunziert. Ich glaube, das war auch im Jahr ´37 so. Wie schnell die stalinistische Maschinerie in Gang gekommen ist: Denunziationen, Deportation, Schauprozesse in irrsinnigem Tempo. Und zur gleichen Zeit diese jungen Leute, die dafür verurteilt werden, dass sie am Freiheitsmarsch teilgenommen haben. Und deshalb denke ich, dass die Kunst den menschlichen Geist stärken kann, damit er all dem widerstehen kann. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: entweder auf der Seite des Guten oder auf der Seite des Bösen zu stehen.
Wir waren naiv in den neunziger Jahren, als wir auf den Plätzen und in den Straßen herumliefen und „Freiheit!“ riefen. Wir sprachen Worte aus, die wir nicht kannten. Demokratie, Freiheit. Wir wussten nicht, womit wir sie füllen sollten. Dass es Arbeit ist. Dass es Zeit braucht. Denn ein Mensch, der sein ganzes Leben in einem Lager verbracht hat, kann nicht aus den Toren dieses Lagers hinausgehen und frei sein. Außerhalb des Lagers beginnt er mit dem Bau eines neuen Lagers. Genau das geschieht heute in Belarus und Russland, sie sind sich sehr ähnlich und lernen voneinander. Ich glaube, wir haben erst jetzt verstanden, dass die Freiheit ein langer Weg ist. Dass es kein Fest ist, wie wir dachten. Es braucht Zeit. Es fordert Opfer und Verluste. Nun gehen wir diesen Weg.
Interview und Übersetzung: Ekaterina Raykova-Merz
Als es zum ersten Mal passierte, war ich jünger und es war natürlich einfacher, außerdem hatte ich noch die Möglichkeit, mein Land manchmal zu besuchen. Die Türen knallten zu, dann öffneten sie sich wieder. Lukaschenko begann mit Europa zu liebäugeln. Jetzt ist es ein unerwartetes Exil. Ich hatte nicht vor, für eine so lange Zeit wegzugehen – wie wahrscheinlich zehntausende Belarussen, die sich im Ausland wiederfinden und es einfach nicht fassen können. Was mir hilft, ist, dass ich hier einen riesigen Tisch habe. Darauf liegt mein neues Buch. Es handelt von der belarussischen Revolution, die so unerwartet und wunderschön begonnen hat und die nun so hart und schrecklich unterdrückt wird. Das heißt, die Arbeit rettet mich. Es ist, als ob ich zu Hause wäre. Jeder Tag beginnt mit den Nachrichten. Und mit einer neuen Buchseite.
Warum sollte sich das Theater heute mit dem Thema Afghanistan beschäftigen? Mit anderen Worten, worum geht es in Ohnmacht, dem neuen Theaterstück, das von Ihrem Roman Zinkjungen inspiriert ist und auf dem Festival RADAR OST in einer Lesung vorgestellt wird?
Es ist keine Überraschung, dass Afghanistan wieder auf der Tagesordnung steht. Als ich im Krieg dort war, als dort noch sowjetische Truppen waren, zeigten mir die Afghanen alte englische Gewehre: „Mit diesen Gewehren haben wir die Briten vertrieben. Euch werden wir genauso vertreiben.“ Es ist ein gemartertes Land. Wie sich die Menschen an die Flugzeuge klammern und vom Himmel fallen – das sind, meiner Meinung nach, die Bilder dieses Jahrhunderts. Und dabei geht es nicht nur um Afghanistan. Die Sache ist die, dass große Länder auf ihre Art und Weise versuchen, Ordnung in anderen Ländern schaffen. Ist es wirklich notwendig, ständig mit Waffen unterwegs zu sein? Im einundzwanzigsten Jahrhundert sollte man das als Kannibalismus ansehen. Zinkjungen – sowohl das Buch als auch das Stück Ohnmacht – werfen genau diese Fragen auf. Und zwar aus der Sicht der Mutter. Frauen haben diesen eigenen Blick auf die Welt – einen Blick durch das Lebendige. Im 21. Jahrhundert ist der Hauptmythos des Krieges, der Heldentod, nicht mehr mit Bedeutung aufgeladen. Was aber mit Bedeutung aufgeladen ist, ist das Leben. Dass es einen Sinn gibt, das Leben zu erhalten. Der Blick der Frau, er ist sehr tief. Und sehr modern, würde ich sagen. Marius Ivaškevičius hat dies alles in Ohnmacht sehr genau erfasst. Ich hoffe, dass dieses Stück inszeniert wird – die Menschen brauchen es, sie werden darüber nachdenken.
Wie ist das Verhältnis zwischen Kunst und Risiko?
Die Schwierigkeit der Kunst ist ein intellektuelles Risiko: Wie findet man den Text der Kunst und balanciert ihn doch auf der Schwelle, damit es nicht kippt? Das Grauen muss natürlich vermittelt werden, aber wie findet man eine Form, die einen Menschen nicht so sehr erschreckt, dass er nicht zu Ende lesen kann? Denn der Mensch von heute ist so sehr von all dem Grauen, all den Leidenschaften und Ängsten umgeben, dass man sich nicht wundern muss, wenn er nicht liest, nicht schaut. Deshalb versuche ich in meinen Büchern immer, Angst und Trauer miteinander zu verbinden und so zu enden, dass ein Mensch nachdenkt und stärker wird.
Womit wollen Sie sich nicht mehr auseinandersetzen?
Das Unbegreifliche und Abscheuliche und Erschreckende in der menschlichen Natur ist der Verrat. Es gibt eine Geschichte in Secondhand-Zeit, in der ein Junge sehr in Tante Olja, die Schwester seiner Mutter, verliebt ist. Sie ist wunderschön, hat eine schöne Stimme und lange Haare. Aber als er erwachsen wurde, kam die Perestroika, und seine Mutter gestand ihm, dass es Tante Olja war, die seinen Bruder denunziert hat und er deshalb sterben musste. Irgendwo in Sibirien, in den Lagern. Und Tante Olja wird alt und krank, da fragte sie dieser junge Mann: „Tante Olja, wie erinnerst du dich an das Jahr ‘37?“ Plötzlich funkelten ihre Augen: „Oh, es war ein schönes Jahr. Ich war verliebt, ich war glücklich...“ „Und wer hat meinen Bruder denunziert?“ Aber Tante Olja hatte diese Frage schon beantwortet: „Nun, das war die Zeit. Damals hättest du versuchen sollen, einen ehrlichen Menschen zu finden.“ Und hier ist die Frage: Wer ist das Böse? Welche Gesichter hat es – das von Stalin, von Beria. Ja, beide. Aber auch dieses wunderschöne Gesicht von Tante Olja.
Wo stehen wir jetzt in Belarus, wie geht es weiter?
Was heute in Belarus vor sich geht, hat eine der Protagonistinnen in meinem neuen Buch sehr gut beschrieben: Wir leben nach den Büchern von Solschenizyn. Sogar die eigenen Verwandten werden denunziert. Ich glaube, das war auch im Jahr ´37 so. Wie schnell die stalinistische Maschinerie in Gang gekommen ist: Denunziationen, Deportation, Schauprozesse in irrsinnigem Tempo. Und zur gleichen Zeit diese jungen Leute, die dafür verurteilt werden, dass sie am Freiheitsmarsch teilgenommen haben. Und deshalb denke ich, dass die Kunst den menschlichen Geist stärken kann, damit er all dem widerstehen kann. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: entweder auf der Seite des Guten oder auf der Seite des Bösen zu stehen.
Wir waren naiv in den neunziger Jahren, als wir auf den Plätzen und in den Straßen herumliefen und „Freiheit!“ riefen. Wir sprachen Worte aus, die wir nicht kannten. Demokratie, Freiheit. Wir wussten nicht, womit wir sie füllen sollten. Dass es Arbeit ist. Dass es Zeit braucht. Denn ein Mensch, der sein ganzes Leben in einem Lager verbracht hat, kann nicht aus den Toren dieses Lagers hinausgehen und frei sein. Außerhalb des Lagers beginnt er mit dem Bau eines neuen Lagers. Genau das geschieht heute in Belarus und Russland, sie sind sich sehr ähnlich und lernen voneinander. Ich glaube, wir haben erst jetzt verstanden, dass die Freiheit ein langer Weg ist. Dass es kein Fest ist, wie wir dachten. Es braucht Zeit. Es fordert Opfer und Verluste. Nun gehen wir diesen Weg.
Interview und Übersetzung: Ekaterina Raykova-Merz
Swetlana Alexijewitsch, in der Ukraine geboren und in Belarus aufgewachsen, arbeitete als Reporterin und Autorin. Über Interviews fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen „Roman in Stimmen“. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem Nobelpreis für Literatur. Nach dem Erscheinen ihres Romans Zinkjungen 1989 über die Folgen des Kriegs in Afghanistan war sie gezwungen, Belarus zu verlassen. Nach einigen Jahren kehrte sie aber wieder zurück. Als eine der schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos musste sie vor einem Jahr erneut ihre Heimat verlassen. Von den sieben Präsidiumsmitgliedern des
Koordinierungsrats, der sich für eine friedliche Machtübernahme einsetzte, war sie zuletzt das einzige in Freiheit. Heute lebt sie in Berlin im Exil.
Koordinierungsrats, der sich für eine friedliche Machtübernahme einsetzte, war sie zuletzt das einzige in Freiheit. Heute lebt sie in Berlin im Exil.

Margarita Kabakova
Sie können Swetlana Alexijewitsch bei der Abschlussdiskussion ART[ISTS] AT RISK live erleben. Die Diskussion findet im Anschluss an die Lesung Ohnmacht statt:
Urlesung und Gespräch
Ohnmacht
von Marius Ivaškevičius (Litauen), Lesung
im Anschluss Abschlussdiskussion: Art[ists] at Risk u. a. mit Swetlana Alexijewitsch (Belarus)
So, 10. Oktober um 11 Uhr – Kammerspiele
Urlesung und Gespräch
Ohnmacht
von Marius Ivaškevičius (Litauen), Lesung
im Anschluss Abschlussdiskussion: Art[ists] at Risk u. a. mit Swetlana Alexijewitsch (Belarus)
So, 10. Oktober um 11 Uhr – Kammerspiele