
Kritikalität und Kritik
Ein Essay von Philipp Staab
Der Kapitalismus der Gegenwart ist geprägt von einer seltsamen Spannung: Marktprinzipien gelten dort, wo sie nicht gelten sollten – und wo sie gelten sollten, gelten sie nicht.
In den vergangenen 30 Jahren ist für öffentliche Güter ein Primat von Kosteneffizienz, Leistung und Kundenorientierung im Aufwind gewesen: Wasser- und Energieversorgung, Mobilität oder Gesundheit wurden vielerorts privatisiert und mit Marktpreisen versehen. Mehr Markt also dort, wo doch eigentlich Bürger Rechte und nicht Konsumenten Wünsche geltend machen sollten.
Man muss nur an die Kosten einer Zahnbehandlung oder die Verfügbarkeit von Krankenhäusern in der Provinz denken, um zu sehen, dass diese Entwicklung bestimmte basale Dienstleistungen effektiv verknappt hat. Knappheit ist die simple Voraussetzung für Märkte. Was mehr Leute wollen als es haben können bekommt einen Preis, sodass fortan klar ist, wer es sich leisten kann und wer nicht. Wo Knappheit nicht existiert – etwa weil man als Bürger Rechte auf ein bestimmtes Gut hat – muss sie hergestellt werden, um Märkte zu ermöglichen.
Gleichzeitig sind im Herzen des Kapitalismus Marktprinzipien auf dem Rückzug. Das eindringlichste Beispiel hierfür sind digitale Produkte wie Musik- oder Videodateien. Sie sind (ähnlich wie auch geistiges Eigentum) zu praktisch nicht vorhandenen Kosten kopierbar und verbrauchen sich nicht, während sie konsumiert werden. Sie sind also nicht knapp und damit eigentlich auch nicht auf Märkten handelbar. Im kommerziellen Internet braucht es daher gigantische Monopole, die die Zugänge zu diesen Gütern kontrollieren, um sie überhaupt mit einem Preis versehen zu können. Für die globale Wertschöpfung braucht es immer mehr Patente, um zu verhindern, dass Wettbewerb entsteht, wo Wissensmonopole Profite sichern.
Die Spannung zwischen einem Kapitalismus der Unknappheit, in dem rar gemacht wird, was nicht rar ist und einer fundamentalen Wirtschaft der öffentlichen Güter, in der knapp ist, was nicht knapp sein sollte, ist nicht nur ein intellektueller Kniff. Sie korrespondiert mit der Spaltung zwischen einer Ökonomie der Nähe und einer der Distanz, einer Wirtschaft der Vorsorge und einer der Konsumintensivierung. Oben steht in Gesellschaften wie unseren meist, wer seine Tätigkeit in relativer Distanz zu anderen verüben kann - dies immer öfter im Bereich der Hochtechnologie, im Design oder in der Wissensproduktion, also den Ökonomien der Unknappheit. Hier geht es um Geschwindigkeit, um das immer nähere Zusammenrücken von Produktion und Konsum: Was ich jetzt möchte, soll immer nur einen Klick entfernt, alles sofort verfügbar sein. Unten steht oft, wer in der Ökonomie der Nähe zu anderen arbeitet – der Supermarkt an der Ecke, das Personal im sozialen Sektor, in Erziehung, Bildung, der öffentlichen Mobilität.
Dass dieses Spiel der gesellschaftlichen Positionierung nur möglich ist, weil in der Ökonomie der Nähe die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass in der Ökonomie der Distanz paradoxe Profite gesichert werden können, ist uns mit Beginn der Corona-Pandemie schlagartig bewusst geworden. Aus der blanken Not heraus wurde der Begriff der Systemrelevanz erfunden, um Tätigkeiten zu adeln, die vorher weitgehend unsichtbar waren, wenn nicht gar bewusst übersehen wurden. Wir haben eine neue Klasse definiert, die sich nicht durch Ausbeutung oder Status, sondern durch ihre basale Funktion fürs Ganze vom Rest unterscheiden soll. Sie bildet das Rückgrat, in Krisenzeiten gar die letzte Reserve der liberalen Gesellschaft. Wo sie nicht trägt, hilft nur noch – wie etwa in Frankreich oder Italien zu beobachten - das Militär.
Die Pandemie ist in dieser Hinsicht womöglich ein Fenster in eine Zukunft, die von verschärften Ressourcen- und daraus folgenden Statuskonflikten geprägt sein wird. Je klarer wird, dass der ökologischen Frage nicht mehr mit Verhinderung, sondern nur noch mit Anpassung zu begegnen sein wird, desto mehr werden sich unsere Gesellschaften auf einen Modus des konstanten Risikomanagements umstellen müssen, statt Krisen, wie bisher, als Ausnahmen von der Regel zu begreifen.
Dieser neue Modus verlangt nach einem gesellschaftlichen Projekt, das die Ökonomie der Nähe ebenso braucht wie die Ökonomie der Unknappheit. Resilienz gegen sich häufende Krisen heißt auch Vorratshaltung und Einschränkung. Der Ausbau relevanter Reserven wird den sozialen Frieden und sozialen Zusammenhalt stärken können. Denn eigentlich sind doch alle für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für Krankenpflegerinnen, Busfahrer und Facility Manager.
Einschränkung dagegen erzeugt Konflikte. Unknappe Güter bilden hier einen Einsatz, den man ins Spiel bringen kann. Es wird nicht reichen, den Bürgerinnen die Vorteile einer erneuerten Infrastruktur der Überlebensvorsorge zu erläutern und auch eine identitätsstiftende Ethik der Reduzierung wird nur bei kleinen Teilen der Bevölkerung verfangen. Was es braucht, um politische Legitimität und soziale Stabilität zu sichern sind auch alternative Quellen eines konsumorientierten Hedonismus und gut zugängliche Technologien der Zerstreuung.
Wenn es im Ganzen weniger sein muss, kommen hierfür nur die unknappen Güter infrage. Dafür werden sich die Regeln des Spiels ändern müssen, denn deren künstliche Verknappung zum Zweck privater Profite kann dann nicht mehr die Grundlage des Wirtschaftens sein. Die Einsicht in die Kritikalität basaler Infrastrukturen hängt in einem solchen Projekt also mit der Kritik des Kapitalismus der Unknappheit zusammen. Was sich in 2020 als Frage der systematischen Relevanz artikulierte, wird sich damit in absehbarer Zeit als Frage nach der Relevanz des Systems stellen müssen.
In den vergangenen 30 Jahren ist für öffentliche Güter ein Primat von Kosteneffizienz, Leistung und Kundenorientierung im Aufwind gewesen: Wasser- und Energieversorgung, Mobilität oder Gesundheit wurden vielerorts privatisiert und mit Marktpreisen versehen. Mehr Markt also dort, wo doch eigentlich Bürger Rechte und nicht Konsumenten Wünsche geltend machen sollten.
Man muss nur an die Kosten einer Zahnbehandlung oder die Verfügbarkeit von Krankenhäusern in der Provinz denken, um zu sehen, dass diese Entwicklung bestimmte basale Dienstleistungen effektiv verknappt hat. Knappheit ist die simple Voraussetzung für Märkte. Was mehr Leute wollen als es haben können bekommt einen Preis, sodass fortan klar ist, wer es sich leisten kann und wer nicht. Wo Knappheit nicht existiert – etwa weil man als Bürger Rechte auf ein bestimmtes Gut hat – muss sie hergestellt werden, um Märkte zu ermöglichen.
Gleichzeitig sind im Herzen des Kapitalismus Marktprinzipien auf dem Rückzug. Das eindringlichste Beispiel hierfür sind digitale Produkte wie Musik- oder Videodateien. Sie sind (ähnlich wie auch geistiges Eigentum) zu praktisch nicht vorhandenen Kosten kopierbar und verbrauchen sich nicht, während sie konsumiert werden. Sie sind also nicht knapp und damit eigentlich auch nicht auf Märkten handelbar. Im kommerziellen Internet braucht es daher gigantische Monopole, die die Zugänge zu diesen Gütern kontrollieren, um sie überhaupt mit einem Preis versehen zu können. Für die globale Wertschöpfung braucht es immer mehr Patente, um zu verhindern, dass Wettbewerb entsteht, wo Wissensmonopole Profite sichern.
Die Spannung zwischen einem Kapitalismus der Unknappheit, in dem rar gemacht wird, was nicht rar ist und einer fundamentalen Wirtschaft der öffentlichen Güter, in der knapp ist, was nicht knapp sein sollte, ist nicht nur ein intellektueller Kniff. Sie korrespondiert mit der Spaltung zwischen einer Ökonomie der Nähe und einer der Distanz, einer Wirtschaft der Vorsorge und einer der Konsumintensivierung. Oben steht in Gesellschaften wie unseren meist, wer seine Tätigkeit in relativer Distanz zu anderen verüben kann - dies immer öfter im Bereich der Hochtechnologie, im Design oder in der Wissensproduktion, also den Ökonomien der Unknappheit. Hier geht es um Geschwindigkeit, um das immer nähere Zusammenrücken von Produktion und Konsum: Was ich jetzt möchte, soll immer nur einen Klick entfernt, alles sofort verfügbar sein. Unten steht oft, wer in der Ökonomie der Nähe zu anderen arbeitet – der Supermarkt an der Ecke, das Personal im sozialen Sektor, in Erziehung, Bildung, der öffentlichen Mobilität.
Dass dieses Spiel der gesellschaftlichen Positionierung nur möglich ist, weil in der Ökonomie der Nähe die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass in der Ökonomie der Distanz paradoxe Profite gesichert werden können, ist uns mit Beginn der Corona-Pandemie schlagartig bewusst geworden. Aus der blanken Not heraus wurde der Begriff der Systemrelevanz erfunden, um Tätigkeiten zu adeln, die vorher weitgehend unsichtbar waren, wenn nicht gar bewusst übersehen wurden. Wir haben eine neue Klasse definiert, die sich nicht durch Ausbeutung oder Status, sondern durch ihre basale Funktion fürs Ganze vom Rest unterscheiden soll. Sie bildet das Rückgrat, in Krisenzeiten gar die letzte Reserve der liberalen Gesellschaft. Wo sie nicht trägt, hilft nur noch – wie etwa in Frankreich oder Italien zu beobachten - das Militär.
Die Pandemie ist in dieser Hinsicht womöglich ein Fenster in eine Zukunft, die von verschärften Ressourcen- und daraus folgenden Statuskonflikten geprägt sein wird. Je klarer wird, dass der ökologischen Frage nicht mehr mit Verhinderung, sondern nur noch mit Anpassung zu begegnen sein wird, desto mehr werden sich unsere Gesellschaften auf einen Modus des konstanten Risikomanagements umstellen müssen, statt Krisen, wie bisher, als Ausnahmen von der Regel zu begreifen.
Dieser neue Modus verlangt nach einem gesellschaftlichen Projekt, das die Ökonomie der Nähe ebenso braucht wie die Ökonomie der Unknappheit. Resilienz gegen sich häufende Krisen heißt auch Vorratshaltung und Einschränkung. Der Ausbau relevanter Reserven wird den sozialen Frieden und sozialen Zusammenhalt stärken können. Denn eigentlich sind doch alle für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für Krankenpflegerinnen, Busfahrer und Facility Manager.
Einschränkung dagegen erzeugt Konflikte. Unknappe Güter bilden hier einen Einsatz, den man ins Spiel bringen kann. Es wird nicht reichen, den Bürgerinnen die Vorteile einer erneuerten Infrastruktur der Überlebensvorsorge zu erläutern und auch eine identitätsstiftende Ethik der Reduzierung wird nur bei kleinen Teilen der Bevölkerung verfangen. Was es braucht, um politische Legitimität und soziale Stabilität zu sichern sind auch alternative Quellen eines konsumorientierten Hedonismus und gut zugängliche Technologien der Zerstreuung.
Wenn es im Ganzen weniger sein muss, kommen hierfür nur die unknappen Güter infrage. Dafür werden sich die Regeln des Spiels ändern müssen, denn deren künstliche Verknappung zum Zweck privater Profite kann dann nicht mehr die Grundlage des Wirtschaftens sein. Die Einsicht in die Kritikalität basaler Infrastrukturen hängt in einem solchen Projekt also mit der Kritik des Kapitalismus der Unknappheit zusammen. Was sich in 2020 als Frage der systematischen Relevanz artikulierte, wird sich damit in absehbarer Zeit als Frage nach der Relevanz des Systems stellen müssen.
Philipp Staab ist Professor für die "Soziologie der Zukunft der Arbeit" an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Einstein Center Digital Future (ECDF). In seiner Arbeit befasst er sich mit Themen der Technologie, Arbeit, politischen Ökonomie und sozialen Ungleichheit. 2019 erschien sein Buch "Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit" bei Suhrkamp.