
Handeln unter Unsicherheit: Theater als Schule der Nähe
von Claus Caesar
Man solle sich, sagt der Virologe Christian Drosten, gegenwärtig am besten so verhalten, als seien wir alle mit dem Corona-Virus infiziert. Damit formuliert er eine Erfahrung, für die es, zumindest in westlichen Gesellschaften, kein Äquivalent gibt: die Erfahrung, dass die/der Andere einzig aufgrund ihrer/seiner Existenz als Gefahr erscheint. Der/die Andere wird zu einer Gefahr, vor der man sich – paradoxerweise – um der Gemeinschaft willen schützen muss. Noch ist kaum abzuschätzen, wie lange diese Krise dauern, wie beständig wir auf Distanz zueinander gehen werden. Welche Spuren wird diese Erfahrung in der kollektiven Psyche hinterlassen? Welche Narben werden bleiben? Wird Michel Houellebecq mit seiner These Recht behalten, die Corona-Krise funktioniere wie ein Katalysator für technologisch ohnehin angeschobene Entwicklungen, die sämtlich auf die Reduktion menschlicher und materieller Kontakte hinauslaufen?
Noch nie, sagt Jürgen Habermas, habe es "so viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen" gegeben. Selbst einfachste Situationen im Alltag sind derzeit gekennzeichnet von Widersprüchen, Uneindeutigkeiten oder kognitiver Dissonanz. Handeln unter Unsicherheit: damit halbwegs souverän umgehen zu können, muss man sich sicherlich leisten können. Leichter fällt es dennoch denjenigen, die über ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz verfügen: die Fähigkeit, Vieldeutigkeit nicht zur ertragen, sondern unter Umständen auch positiv umdeuten zu können.
Theater, wenn es gelingt, erzählt, wie jede Kunst, von der Komplexität einer Welt, die sich nicht anders als widersprüchlich beschreiben lässt. Glückendes Theater eröffnet Räume jenseits des Erwartbaren, jenseits des Bekannten, jenseits der Botschaften. "Ich nehme von der Pandemie keine Aufträge entgegen", sagt René Pollesch. Ins Theater zu gehen, kann daher heißen, sich in Sachen Ambiguitätstoleranz zu üben: Gegensätze auszuhalten, Differenzen nicht einzuebnen, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, das Verlangen nach vollständigem Verstehen hintan zu stellen.
Zugleich formuliert die Leerstelle, die Theater als sozialste aller Kunstformen in der Pandemie bedeutet, einen Einwand, der Houellebecqs These zuwiderläuft. Wer sich an die Energie erinnert, die in einem vollbesetzten Zuschauerraum auf der Bühne, im Saal und zwischen Saal und Bühne hin und her fluktuiert, wem in einer Inszenierung nicht nur die Worte, sondern auch die Stimmen, die Körper, die Klänge der Schauspieler begegnet sind, der weiß, dass wir auf noch einer fundamentaleren als der politischen oder gesellschaftlichen Ebene soziale Wesen sind: dass wir angewiesen sind auf den Anderen in einem basalen Sinn, der sich technologisch nicht subsumieren lässt. Theater als Schule der Nähe. Vielleicht wird es uns eines Tages damit leichter fallen, die Spuren der momentanen, notwendigen, aber schmerzlichen Disziplinierung wieder zu verwischen.
Noch nie, sagt Jürgen Habermas, habe es "so viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen" gegeben. Selbst einfachste Situationen im Alltag sind derzeit gekennzeichnet von Widersprüchen, Uneindeutigkeiten oder kognitiver Dissonanz. Handeln unter Unsicherheit: damit halbwegs souverän umgehen zu können, muss man sich sicherlich leisten können. Leichter fällt es dennoch denjenigen, die über ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz verfügen: die Fähigkeit, Vieldeutigkeit nicht zur ertragen, sondern unter Umständen auch positiv umdeuten zu können.
Theater, wenn es gelingt, erzählt, wie jede Kunst, von der Komplexität einer Welt, die sich nicht anders als widersprüchlich beschreiben lässt. Glückendes Theater eröffnet Räume jenseits des Erwartbaren, jenseits des Bekannten, jenseits der Botschaften. "Ich nehme von der Pandemie keine Aufträge entgegen", sagt René Pollesch. Ins Theater zu gehen, kann daher heißen, sich in Sachen Ambiguitätstoleranz zu üben: Gegensätze auszuhalten, Differenzen nicht einzuebnen, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, das Verlangen nach vollständigem Verstehen hintan zu stellen.
Zugleich formuliert die Leerstelle, die Theater als sozialste aller Kunstformen in der Pandemie bedeutet, einen Einwand, der Houellebecqs These zuwiderläuft. Wer sich an die Energie erinnert, die in einem vollbesetzten Zuschauerraum auf der Bühne, im Saal und zwischen Saal und Bühne hin und her fluktuiert, wem in einer Inszenierung nicht nur die Worte, sondern auch die Stimmen, die Körper, die Klänge der Schauspieler begegnet sind, der weiß, dass wir auf noch einer fundamentaleren als der politischen oder gesellschaftlichen Ebene soziale Wesen sind: dass wir angewiesen sind auf den Anderen in einem basalen Sinn, der sich technologisch nicht subsumieren lässt. Theater als Schule der Nähe. Vielleicht wird es uns eines Tages damit leichter fallen, die Spuren der momentanen, notwendigen, aber schmerzlichen Disziplinierung wieder zu verwischen.