Wenn alles zu entgleiten droht
von Peter von Matt
Beginnt alles um mich herum langsam zu rutschen? Was bisher so fest gefügt und verankert war, ist ihm plötzlich nicht mehr zu trauen? Es gibt für diese Erfahrung kein genaues Wort. Sie kann ja auch nur Einbildung sein. Panik ist vorderhand nicht am Platz. Aber wäre es möglich, dass die bisherige Ordnung – wie soll man sagen? – kippt?
Das Jahrzehnt, in dem wir stehen, ist von diesem schleichenden Gefühl geprägt. Dessen exemplarische Inszenierung aber liegt vor in Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von 1979. Er hat jahrelang daran gearbeitet, größtenteils in Berlin, und eine Fassung nach der andern wieder verworfen. Die Freunde erklärten ihm, die Idee sei schlecht, daraus könne nichts werden. Er glaubte es ihnen und wollte doch nicht von der Sache lassen. Heute wissen wir: Er war der Zeit voraus – um dreieinhalb Jahrzehnte.
Das Buch verbindet das Privateste mit dem Allgemeinsten. Ein verwirrtes Ich in einem Tessiner Bergwinkel wird verknüpft mit der Geschichte des Planeten Erde. Schon das ist literarisch riskant. Man versteht die Freunde. Aber nun zeigt ein großer Erzähler seine Pranke. Die Erdgeschichte mit ihren wandernden und schiebenden Kontinenten, die aufstoßenden Gebirge, die schleifenden Gletscher, die Ungeheuerlichkeiten der Evolution und irgendwann ihr gefährlichstes Produkt, der schwache, nackte Mensch – das alles wird vom einsamen Herrn Geiser, der um sein Gedächtnis fürchtet, auf Zetteln und Schnipseln an die Wände gepinnt. Auch in seinem Gehirn droht etwas zu rutschen, nicht nur an den Berghängen ringsum. Aber nichts ist nachweisbar. Einzig die Ahnung ist da. Ist dies die Witterung eines Tieres oder das pathologische Symptom eines alten Misanthropen? Wir lesen und wissen es nicht. Doch die Ahnung überträgt sich. Plötzlich spüren wir im eigenen Leib, wie es ist, wenn alles zu entgleiten droht. Herr Geiser beweist sich selbst mit genauen Messungen, dass bisher nichts passiert ist, aber das schafft für ihn und für die Leser diese körperliche Empfindung nicht aus der Welt.
"KATASTROPHEN KENNT ALLEIN DER MENSCH, SOFERN ER SIE ÜBERLEBT; DIE NATUR KENNT KEINE KATASTROPHEN." Das ist der berühmteste Satz des Buches. Nicht zufällig. In ihm spricht sich am deutlichsten aus, wovon es handelt: von der Allgegenwart der Katastrophen und der erstaunlichen Fähigkeit des Menschen, sich um sie nicht zu kümmern, bis sie eines Tages plötzlich da sind. Goethe hat es einmal auf die schlagende Formel gebracht: "Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen". Aber zwischen diesem unbekümmerten Schlaf und dem Ausbruch des Unheils gibt es die Verfassung des Herrn Geiser. Sie ist nicht prophetisch. Die Propheten haben ein festes Wissen; Herr Geiser hat nur einen Verdacht. Was soll er da machen?
Was er macht, während immer noch nichts passiert ist, außer, dass es andauernd regnet und die Strassen ins Tal gesperrt sind, mutet rätselhaft an. Ohne einen Plan entworfen zu haben, bricht er plötzlich auf, mit Rucksack, Regenmantel und Regenschirm. Letzteres ist komisch. Man geht nicht mit einem Schirm in die Berge. Er will über einen schwierigen Passweg ins größere Nachbartal gelangen. Eine Flucht aus dem phantasierten Untergang in die geordnete Zivilisation? Wir wissen es nicht. Oder inszeniert er ein Orakel: wenn ich den Marsch überlebe, habe ich alle Schreckensvisionen besiegt? Mag sein, obwohl Herr Geiser wissenschaftlich denkt und nicht abergläubisch zu sein scheint. Wir schauen ihm zu und fühlen uns gegenüber dem, was da höchst präzis erzählt wird, so hilflos wie Herr Geiser gegenüber der Erdgeschichte und den Dinosauriern. Und dann sehen wir mit an, wie er wieder umkehrt, als er den gefährlichsten Teil endlich hinter sich hat. Max Frischs Erzählung ist eine Meditationsvorlage für Zeiten, in denen es an allen Horizonten wetterleuchtet.
Das Jahrzehnt, in dem wir stehen, ist von diesem schleichenden Gefühl geprägt. Dessen exemplarische Inszenierung aber liegt vor in Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von 1979. Er hat jahrelang daran gearbeitet, größtenteils in Berlin, und eine Fassung nach der andern wieder verworfen. Die Freunde erklärten ihm, die Idee sei schlecht, daraus könne nichts werden. Er glaubte es ihnen und wollte doch nicht von der Sache lassen. Heute wissen wir: Er war der Zeit voraus – um dreieinhalb Jahrzehnte.
Das Buch verbindet das Privateste mit dem Allgemeinsten. Ein verwirrtes Ich in einem Tessiner Bergwinkel wird verknüpft mit der Geschichte des Planeten Erde. Schon das ist literarisch riskant. Man versteht die Freunde. Aber nun zeigt ein großer Erzähler seine Pranke. Die Erdgeschichte mit ihren wandernden und schiebenden Kontinenten, die aufstoßenden Gebirge, die schleifenden Gletscher, die Ungeheuerlichkeiten der Evolution und irgendwann ihr gefährlichstes Produkt, der schwache, nackte Mensch – das alles wird vom einsamen Herrn Geiser, der um sein Gedächtnis fürchtet, auf Zetteln und Schnipseln an die Wände gepinnt. Auch in seinem Gehirn droht etwas zu rutschen, nicht nur an den Berghängen ringsum. Aber nichts ist nachweisbar. Einzig die Ahnung ist da. Ist dies die Witterung eines Tieres oder das pathologische Symptom eines alten Misanthropen? Wir lesen und wissen es nicht. Doch die Ahnung überträgt sich. Plötzlich spüren wir im eigenen Leib, wie es ist, wenn alles zu entgleiten droht. Herr Geiser beweist sich selbst mit genauen Messungen, dass bisher nichts passiert ist, aber das schafft für ihn und für die Leser diese körperliche Empfindung nicht aus der Welt.
"KATASTROPHEN KENNT ALLEIN DER MENSCH, SOFERN ER SIE ÜBERLEBT; DIE NATUR KENNT KEINE KATASTROPHEN." Das ist der berühmteste Satz des Buches. Nicht zufällig. In ihm spricht sich am deutlichsten aus, wovon es handelt: von der Allgegenwart der Katastrophen und der erstaunlichen Fähigkeit des Menschen, sich um sie nicht zu kümmern, bis sie eines Tages plötzlich da sind. Goethe hat es einmal auf die schlagende Formel gebracht: "Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen". Aber zwischen diesem unbekümmerten Schlaf und dem Ausbruch des Unheils gibt es die Verfassung des Herrn Geiser. Sie ist nicht prophetisch. Die Propheten haben ein festes Wissen; Herr Geiser hat nur einen Verdacht. Was soll er da machen?
Was er macht, während immer noch nichts passiert ist, außer, dass es andauernd regnet und die Strassen ins Tal gesperrt sind, mutet rätselhaft an. Ohne einen Plan entworfen zu haben, bricht er plötzlich auf, mit Rucksack, Regenmantel und Regenschirm. Letzteres ist komisch. Man geht nicht mit einem Schirm in die Berge. Er will über einen schwierigen Passweg ins größere Nachbartal gelangen. Eine Flucht aus dem phantasierten Untergang in die geordnete Zivilisation? Wir wissen es nicht. Oder inszeniert er ein Orakel: wenn ich den Marsch überlebe, habe ich alle Schreckensvisionen besiegt? Mag sein, obwohl Herr Geiser wissenschaftlich denkt und nicht abergläubisch zu sein scheint. Wir schauen ihm zu und fühlen uns gegenüber dem, was da höchst präzis erzählt wird, so hilflos wie Herr Geiser gegenüber der Erdgeschichte und den Dinosauriern. Und dann sehen wir mit an, wie er wieder umkehrt, als er den gefährlichsten Teil endlich hinter sich hat. Max Frischs Erzählung ist eine Meditationsvorlage für Zeiten, in denen es an allen Horizonten wetterleuchtet.