
Iphigenie auf Tauris
von Johann Wolfgang von Goethe
"Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht"
Sie ist die Tochter des fluchbeladenen Geschlechts der Tantaliden. Nur himmlischer Intervention verdankt es Iphigenie, dass sie noch am Leben ist, wollte ihr Vater Agamemnon sie doch einst den Göttern opfern, damit das griechische Heer vorankomme Richtung Troja. In letzter Sekunde entführte Artemis das Mädchen und brachte sie nach Tauris. Jetzt, nach vielen Jahren als Artemis‘ Priesterin in der Fremde, sehnt sie sich nach Rückkehr. Und ist zugleich dem Taurerkönig Thoas tief verplichtet, dessen Gewaltgesellschaft sie in eine humane verwandelt hat. – "Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht", heißt es im Parzenlied, das Iphigenie in ihrer Kindheit gehört und so gern vergessen hatte. Heiner Müller hat einmal gesagt, man müsse nur einen einfachen Druckfehler machen und schon werde der Satz aktuell: "Es fürchten die Götter das Menschengeschlecht". Das ganze Stück zittere vor diesem Druckfehler.
Sie ist die Tochter des fluchbeladenen Geschlechts der Tantaliden. Nur himmlischer Intervention verdankt es Iphigenie, dass sie noch am Leben ist, wollte ihr Vater Agamemnon sie doch einst den Göttern opfern, damit das griechische Heer vorankomme Richtung Troja. In letzter Sekunde entführte Artemis das Mädchen und brachte sie nach Tauris. Jetzt, nach vielen Jahren als Artemis‘ Priesterin in der Fremde, sehnt sie sich nach Rückkehr. Und ist zugleich dem Taurerkönig Thoas tief verplichtet, dessen Gewaltgesellschaft sie in eine humane verwandelt hat. – "Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht", heißt es im Parzenlied, das Iphigenie in ihrer Kindheit gehört und so gern vergessen hatte. Heiner Müller hat einmal gesagt, man müsse nur einen einfachen Druckfehler machen und schon werde der Satz aktuell: "Es fürchten die Götter das Menschengeschlecht". Das ganze Stück zittere vor diesem Druckfehler.
Regie Ivan Panteleev
Bühne / Kostüme Johannes Schütz
Sound-Design Martin Person
Licht Robert Grauel
Dramaturgie Claus Caesar
Premiere am 14. Oktober 2016, Deutsches Theater
Kathleen MorgeneyerIphigenie

Oliver StokowskiThoas, König der Taurer

Moritz GroveOrest

Camill JammalPylades

Barbara SchnitzlerArkas

Iphigenie
Thoas, König der Taurer
Orest
Pylades
Arkas
Regisseur lvan Panteleev ("Warten auf Godot") schafft in seiner lnszenierung am Deutschen Theater viel Raum für Johann Wolfgang von Goethes Text. Und das Tolle: Die Schauspieler sprechen "lphigenie auf Tauris" auf eine Weise, dass man jede Silbe versteht und darin Heute erkennt. Sie kann sich noch so viel weiße Farbe ins Gesicht schmieren und ihr blütenweißes Kleid spazieren tragen – die Unschuld bleibt doch nur Hülle. Oder nicht? Gut. Böse? Kathleen Morgeneyer spielt die lphigenie so wunderbar menschlich, dass sie keine eindeutige Antwort zu lässt.
Regisseur lvan Panteleev ("Warten auf Godot") schafft in seiner lnszenierung am Deutschen Theater viel Raum für Johann Wolfgang von Goethes Text. Und das Tolle: Die Schauspieler sprechen "lphigenie auf Tauris" auf eine Weise, dass man jede Silbe versteht und darin Heute erkennt.
Es ist herzöffnend, wie es Panteleev und seinen Schauspielern (ebenfalls wunderbar: Barbara Schnitzler als Arkas, Vertrauter von König Thoas) gelingt, das alles mit einem Goethe-Text, der neben der vielen weißen Farbe das einzige Spannungsmedium ist, über zwei Stunden lang nicht langweilig werden zu lassen. Das ist etwas, das es, verzeihen Sie die Altbackenheit, einfach derzeit doch am Theater viel zu selten gibt: Schichten abkratzende, Saiten zum Schwingen bringende Textarbeit. Was sind das für irrsinnige Fantasy-Genealogien, die die griechische Mythologie zu bieten hat! Die nerdige Akribie, mit der die Fortschreibungsgeschichte des Tantaliden-Fluchs berichtet wird, gibt Zeugnis vom Bedürfnis des Menschen, sich in seinen Erzählungen eine Eingerichtetheit zu erschaffen, eine präzise Welt der Handlungen und Abstammungen, die groß genug ist, es mit seiner Angst aufzunehmen. Ivan Panteleev hat "Iphigenie auf Tauris" am Deutschen Theater inszeniert. Der Bulgare ist schon deswegen ein interessanter Regisseur, weil er angeblich kein Wort Deutsch sprach, bis er 2000 nach Berlin kam. Seine letzte Inszenierung am Deutschen Theater war "Warten auf Godot", das gerade zum 50. Mal gegeben wurde. Seine Iphigenie ist eine Inszenierung, die gerade in ihrer absoluten Reduziertheit zeigt, was im Theater, dieser uralten Magie-Kiste, möglich ist: das Sich-Einfühlen in die schöne Absurdität Mensch. […]
Es ist herzöffnend, wie es Panteleev und seinen Schauspielern (ebenfalls wunderbar: Barbara Schnitzler als Arkas, Vertrauter von König Thoas) gelingt, das alles mit einem Goethe-Text, der neben der vielen weißen Farbe das einzige Spannungsmedium ist, über zwei Stunden lang nicht langweilig werden zu lassen. Das ist etwas, das es, verzeihen Sie die Altbackenheit, einfach derzeit doch am Theater viel zu selten gibt: Schichten abkratzende, Saiten zum Schwingen bringende Textarbeit.
Noch erstaunlicher als die Bescheidenheit vor dem Großklassiker ist, dass diese Nicht-Interpretation dank der Schauspieler über weite Strecken funktioniert und nur selten, etwa in den Dröhn- und Brüllanfällen von Pylades (Camill Jammal) die Grenze zur unfreiwilligen Komik streift. Die Schauspieler können etwas, was fast so selten geworden ist wie der demütige Umgang der Regie mit der Stückvorlage: Sie sprechen die elegant rhythmisierten Jamben, ohne sie mechanisch zu rattern. Und sie denken, was sie sagen. […]
Vor allem der auch in ihren anderen Rollen am Deutschen Theater ziemlich großartigen Kathleen Morgeneyer als Priesterin Iphigenie gelingt es, ihre Figur in feinen Schattierungen zu zeigen und das Korsett der hohen Form sozusagen zu verflüssigen. Oliver Stokowski, der König Thoas wie einen nachdenklichen Bauern spielt, und Moritz Grove als dauerüberhitzter Orest sind Kontrastfiguren zur leicht entrückten Iphigenie. Panteleev macht etwas, was im heutigen Theaterbetrieb fast schon störrischen Eigensinn beweist: Er spielt einen klassischen Text, ohne ihn zu kommentieren oder demonstrieren zu wollen, dass der Regisseur eigentlich klüger ist als der Autor. Ja, er lässt sich sogar auf die antikisierende Verssprache und das Humanitätspathos Goethes ein, ohne es zu ironisieren oder die geschlossene Form des Schauspiels mit Fremdtexten aufzubrechen. Wie schon in seiner Berliner "Warten auf Godot"-Inszenierung und in seinem "Philoktet" am Münchner Residenztheater folgt Panteleev uneingeschränkt der Vorlage: Goethe pur, direkt und ohne Reader's Digest-Verkürzungen vom Reclamheft auf die Bühne: Und das, obwohl die Exilsituation lphigenies ("Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern ein einsam Leben führt") doch für allerlei zeitgenössische Flüchtlingsassoziationen herhalten könnte. […]
Noch erstaunlicher als die Bescheidenheit vor dem Großklassiker ist, dass diese Nicht-Interpretation dank der Schauspieler über weite Strecken funktioniert und nur selten, etwa in den Dröhn- und Brüllanfällen von Pylades (Camill Jammal) die Grenze zur unfreiwilligen Komik streift. Die Schauspieler können etwas, was fast so selten geworden ist wie der demütige Umgang der Regie mit der Stückvorlage: Sie sprechen die elegant rhythmisierten Jamben, ohne sie mechanisch zu rattern. Und sie denken, was sie sagen. […]
Vor allem der auch in ihren anderen Rollen am Deutschen Theater ziemlich großartigen Kathleen Morgeneyer als Priesterin Iphigenie gelingt es, ihre Figur in feinen Schattierungen zu zeigen und das Korsett der hohen Form sozusagen zu verflüssigen. Oliver Stokowski, der König Thoas wie einen nachdenklichen Bauern spielt, und Moritz Grove als dauerüberhitzter Orest sind Kontrastfiguren zur leicht entrückten Iphigenie.
Das liegt auch daran, dass Panteleev gleich zu Beginn deutlich macht, worum es ihm geht: Er will den Text zertrümmern, indem er ihn im Vortrag ernst nimmt und ihn in der Darbietung persifliert. [...] Wie stringent der Regisseur seine Idee durchzieht und dabei mutig das Risiko eingeht, den starr nacherzählten Inhalt durch eine diesen Inhalt konterkarierende Form zu pulverisieren, das beeindruckt. Iphigenie, zu Anfang noch naiv und leichtgläubig, ist als einziger Bühnenmensch in Weiß gekleidet, ihre Mitspieler tragen die an Wand, Tisch und Stühlen fleckig durchschimmernde Ursprungsfarbe. Man kann die dunkle Seite des Menschen übertünchen, es nützt aber nichts. Hoffnung erwächst hier nur aus der Einsicht in die Notwendigkeit des eigennützigen "Homo sapiens". So wenig auf der Bühne auch geschieht, in ihren sprachgewaltigen Rededuellen in dem streng monoton in fünfhebigen Jamben gehaltenen Goethe-Text schaffen es Thoas, Orest, Pylades und des Königs Adjutant Arkas (Barbara Schnitzler), Iphigenie vom "Fundi" zum "Realo" zu wandeln. Joschka Fischer wäre entzückt. Ein heute unspielbarer Text? Ich beweise euch das Gegenteil! Ivan Panteleev gehört zu jener Riege an Spielleitern, die sich gern dem Paradoxen, Absurden und Gedankenknotenhaften hingibt. Besonders famos inszenierte er zuletzt Samuel Becketts "Warten auf Godot" am Deutschen Theater in Berlin. Dort steht nun auch seine neueste Produktion auf dem Programm. Iphigenie (Kathleen Morgeneyer) ist hier nicht jener Leuchtturm des Humanismus, als den Goethe sie eigentlich charakterisiert hat. Nein, hier performt ein angry young girl mit zeitgemäß zynischem Zorn ihre Abgefucktheit. Und das tut sie so gut, dass die im Stakkato vorgetragenen Szenen einem auch nach zwei Stunden noch nicht auf die Nerven gehen.
Das liegt auch daran, dass Panteleev gleich zu Beginn deutlich macht, worum es ihm geht: Er will den Text zertrümmern, indem er ihn im Vortrag ernst nimmt und ihn in der Darbietung persifliert. [...] Wie stringent der Regisseur seine Idee durchzieht und dabei mutig das Risiko eingeht, den starr nacherzählten Inhalt durch eine diesen Inhalt konterkarierende Form zu pulverisieren, das beeindruckt. Iphigenie, zu Anfang noch naiv und leichtgläubig, ist als einziger Bühnenmensch in Weiß gekleidet, ihre Mitspieler tragen die an Wand, Tisch und Stühlen fleckig durchschimmernde Ursprungsfarbe. Man kann die dunkle Seite des Menschen übertünchen, es nützt aber nichts. Hoffnung erwächst hier nur aus der Einsicht in die Notwendigkeit des eigennützigen "Homo sapiens". So wenig auf der Bühne auch geschieht, in ihren sprachgewaltigen Rededuellen in dem streng monoton in fünfhebigen Jamben gehaltenen Goethe-Text schaffen es Thoas, Orest, Pylades und des Königs Adjutant Arkas (Barbara Schnitzler), Iphigenie vom "Fundi" zum "Realo" zu wandeln. Joschka Fischer wäre entzückt.