
Niemand
Tragödie in sieben Bildern von Ödön von Horváth
Mehr als 70 Jahre nach dem Tod eines der meistgespielten deutschsprachigen Dramatikers taucht ein unbekanntes Stück auf, ein Sensationsfund. "So quälend und verzweifelt wie hier hat der Autor sich selbst und seine Zeit an keiner anderen Stelle seines Werkes befragt", so der Horváth-Experte Klaus Kastberger.
Der Titel verweist auf die ambivalente Leerstelle im Zentrum. Ist Niemand das erbarmungslose Schicksal, Zufall oder Gott, der, wenn er nun doch nicht tot ist, sich einfach nicht interessiert? In ein Treppenhaus pfercht Horváth 1924 sein Personal, das uns auch in späteren Stücken wieder begegnet, ein zum Dasein verurteilter Reigen beschädigter Existenzen hinter sozialen Masken: Der tyrannische, verkrüppelte Hausherr, der alle in seine Schuld gezwungen hat und den die Liebe dann doch nicht zum besseren Menschen wandelt, gefallene Mädchen, mittellose Künstler, brutale Zuhälter und ein ungleicher Bruder, dessen Heimkehr, die finale Katastrophe auslösen wird. In dieser Zwischenkriegswelt ist alles Teil der allgemeinen Inflation – Waren, Dienstleistungen und Menschen – und damit ersetzbar. Auf Kellnerinnen, die zwangsläufig zu Prostituierten werden, folgen umgehend Nachfolgerinnen gleichen Namens. Immer wieder werden Krüge zerbrochen und läuten den sozialen Abstieg ein. Auf die ökonomische Krise folgt zwangsläufig die moralische und umgekehrt: "Weh uns. Alles wiederholt sich."
Roh, expressionistisch und unheimlich zeichnet der 23jährige Horváth die Brutalität der Menschen, der Verhältnisse, der Existenz. Der Regisseur Dušan David Pařízek geht in seiner Inszenierung den Verbindungslinien zu Horváths späteren Dramen und denen in unsere Zeit nach.
Der Titel verweist auf die ambivalente Leerstelle im Zentrum. Ist Niemand das erbarmungslose Schicksal, Zufall oder Gott, der, wenn er nun doch nicht tot ist, sich einfach nicht interessiert? In ein Treppenhaus pfercht Horváth 1924 sein Personal, das uns auch in späteren Stücken wieder begegnet, ein zum Dasein verurteilter Reigen beschädigter Existenzen hinter sozialen Masken: Der tyrannische, verkrüppelte Hausherr, der alle in seine Schuld gezwungen hat und den die Liebe dann doch nicht zum besseren Menschen wandelt, gefallene Mädchen, mittellose Künstler, brutale Zuhälter und ein ungleicher Bruder, dessen Heimkehr, die finale Katastrophe auslösen wird. In dieser Zwischenkriegswelt ist alles Teil der allgemeinen Inflation – Waren, Dienstleistungen und Menschen – und damit ersetzbar. Auf Kellnerinnen, die zwangsläufig zu Prostituierten werden, folgen umgehend Nachfolgerinnen gleichen Namens. Immer wieder werden Krüge zerbrochen und läuten den sozialen Abstieg ein. Auf die ökonomische Krise folgt zwangsläufig die moralische und umgekehrt: "Weh uns. Alles wiederholt sich."
Roh, expressionistisch und unheimlich zeichnet der 23jährige Horváth die Brutalität der Menschen, der Verhältnisse, der Existenz. Der Regisseur Dušan David Pařízek geht in seiner Inszenierung den Verbindungslinien zu Horváths späteren Dramen und denen in unsere Zeit nach.
Regie / Bühne Dušan David Pařízek
Kostüme Kamila Polívková
Musikalische Leitung Marcel Braun
Licht Thomas Langguth
Dramaturgie Birgit Lengers
Deutsche Erstaufführung am 25. März 2017, Kammerspiele
Marcel KohlerFürchtegott Lehmann

Franziska MachensGilda

Wiebke MollenhauerUrsula

Frank SeppelerKaspar Lehmann

Elias ArensKlein

Lisa HrdinaKellnerin, Nachfolgerin, Backfisch

Henning VogtWladimir

Fürchtegott Lehmann
Gilda
Ursula
Kaspar Lehmann
Klein
Kellnerin, Nachfolgerin, Backfisch
Wladimir
Außerdem im Spielplan
Mit englischen Übertiteln
Regie: Claudia Bossard
DT Kontext: Im Anschluss an die Vorstellung Vortrag und Gespräch mit Rainald Goetz
DT Bühne
19.30 - 21.50
Ausverkauft
Evtl. Restkarten an der Abendkasse
Evtl. Restkarten an der Abendkasse
Wiederaufnahme
Mit englischen Übertiteln
Forever Yin Forever Young
Die Welt des Funny van Dannen
Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner
Kammer
20.00 - 21.30
Diese Verkünstlichung ist ein kluger Zugriff, mit dem auch jeglicher Sozialkitsch vermieden wird, der eigentlich zwangsläufig entsteht, wenn sich wohlsituierte Zuschauer unreflektiert mit armen Elenden identifizieren. Da die Bedingungen des Abends schnell geklärt sind, dürfen sich Spieler und Zuschauer einlassen. Dann beginnt die Freiheit des Spiels. Und die Spieler, vor allem die Spielerinnen, nutzen sie. Franziska Machens als Gilda Amour geht das sexistische Klischee von der passionierten Hure, die ihrem Zuhälter verfallen ist, ohne irgendwelche Korrektheitshemmungen, dafür mit spielerischer Genauigkeit und Blitzschlagfertigkeit an. Lisa Hrdina bremst mit bemerkenswerter Dominanz und seltsam maschinellem Eifer in einigen der besagten Nebenrollen das Geschehen immer mal wieder ab. Und wie Wiebke Mollenhauer, als ihre Ursula den Hurenauftritt übt und sich unter Gildas Anleitung immer ordinärer und lächerlicher in die Verstellung zurückzieht, Tränen aufsteigen lässt − da ist der Abend richtig groß.
Schöne Nummern liefern Henning Vogt als schnurrbärtiger Macho Wladimir und Elias Arens als kreischig-selbstmitleidiger Musiker Klein. Die Aufmerksamkeit des Jungdramatikers galt aber eher dem ungleichen Brüderpaar Fürchtegott und Kaspar. Mit dem Ergebnis, dass diese einfach nicht fertig werden wollen, Gerechtigkeits- und Religionsfragen, sowie sonstiges Allgemeingültiges und Existenzielles zu besprechen, was Marcel Kohler und Frank Seppeler tapfer mit ironischem Gebrüll, Lachkrampfanfällen und prügelndem Körpereinsatz durchexzerzieren. Vieles in ''Niemand'', das Horváth unter dem frischen Eindruck der Hyperinflation geschrieben hat, deutet auf den späteren Dramatiker hin. Es treten prekäre Gestalten auf − gefallene Fräuleins, Prostituierte, Diebe, Zuhälter, Missgestaltete − deren Notlage moralische Abgründe aufreißt und dramatische Konflikte spannt. [...] Der 1971 im tschechischen Brno geborene Regisseur Dušan David Pařízek mochte aber bei allen Strichen nicht auf die originalen, interessanten Mängel des Stückes verzichten. Er hat die Unreife, den rohen Pathos und den verschwatzten Furor nicht herausgefiltert, sondern er geht auf Abstand. [...]
Diese Verkünstlichung ist ein kluger Zugriff, mit dem auch jeglicher Sozialkitsch vermieden wird, der eigentlich zwangsläufig entsteht, wenn sich wohlsituierte Zuschauer unreflektiert mit armen Elenden identifizieren. Da die Bedingungen des Abends schnell geklärt sind, dürfen sich Spieler und Zuschauer einlassen. Dann beginnt die Freiheit des Spiels. Und die Spieler, vor allem die Spielerinnen, nutzen sie. Franziska Machens als Gilda Amour geht das sexistische Klischee von der passionierten Hure, die ihrem Zuhälter verfallen ist, ohne irgendwelche Korrektheitshemmungen, dafür mit spielerischer Genauigkeit und Blitzschlagfertigkeit an. Lisa Hrdina bremst mit bemerkenswerter Dominanz und seltsam maschinellem Eifer in einigen der besagten Nebenrollen das Geschehen immer mal wieder ab. Und wie Wiebke Mollenhauer, als ihre Ursula den Hurenauftritt übt und sich unter Gildas Anleitung immer ordinärer und lächerlicher in die Verstellung zurückzieht, Tränen aufsteigen lässt − da ist der Abend richtig groß.
Schöne Nummern liefern Henning Vogt als schnurrbärtiger Macho Wladimir und Elias Arens als kreischig-selbstmitleidiger Musiker Klein. Die Aufmerksamkeit des Jungdramatikers galt aber eher dem ungleichen Brüderpaar Fürchtegott und Kaspar. Mit dem Ergebnis, dass diese einfach nicht fertig werden wollen, Gerechtigkeits- und Religionsfragen, sowie sonstiges Allgemeingültiges und Existenzielles zu besprechen, was Marcel Kohler und Frank Seppeler tapfer mit ironischem Gebrüll, Lachkrampfanfällen und prügelndem Körpereinsatz durchexzerzieren.
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Parízek lässt ein durchgehend junges Ensemble aus drei Frauen und vier Männern erstmal mit Rasseln, Reiben und Zupfinstrumenten musizieren. So zetteln sie eine Art Klingelstreich an, der uns nach und nach in die Einzelwohnungen und Abseiten des Mietshauses führt. [...]
In unterhaltsamen zwei Stunden schildert Parízeks ''Niemand'' eine sehr ferne Welt. Die Entdeckung des lange verschollenen Horváth-Stücks ''Niemand'' galt 2015 als Sensation. Jetzt ist es im Deutschen Theater in Berlin zu sehen. Regisseur Parízek präsentiert das milieusatte Sittenbild eher spielerisch.
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Parízek lässt ein durchgehend junges Ensemble aus drei Frauen und vier Männern erstmal mit Rasseln, Reiben und Zupfinstrumenten musizieren. So zetteln sie eine Art Klingelstreich an, der uns nach und nach in die Einzelwohnungen und Abseiten des Mietshauses führt. [...]
In unterhaltsamen zwei Stunden schildert Parízeks ''Niemand'' eine sehr ferne Welt.
Sieben Schauspieler müssen genügen, und die Bühne ist auch kein Treppenhaus, sondern ein klaustrophobisches Dielenparkett, das auch die Rückwand überspannt und bestenfalls Schächte öffnet, die in den nächsten Nebenkeller führen.
Der Regisseur und Bühnenbildner legt auch bei der Spielfassung eingreifend Hand an. Aus sieben Bildern wird eine gut zweistündige Session, deren Personal durchgehend am Rand sitzt und bei Bedarf die Fläche entert. [...]
Dabei glänzen Monolog-Auftritte von Lisa Hrdina und Elias Arens, die aus ihren schlecht belichteten Nebenrollen treten. So schmettert Hrdina die zähnefletschende Rede einer Chancenlosen, die ihre nicht vorhandenen Chancen um jeden Preis ergreifen wird, und Arens gibt Horváths leise duldendem Walzergeiger Klein eine federnde Schärfe, die für jede politische Radikalisierung offen steht. Und wenn Henning Vogts handgreiflicher Wladimir nach seinem Raubmord an die Rampe tritt, von seiner besten Zeit beim Militär erzählt und über den Krieg nachdenkt, dann versteht jeder, dass der Frieden danach seinesgleichen nicht viel zu bieten hat. Für Franziska Machens' Überlebensprostituierte Gilda ist der Beruf des Sich-Verkaufens dagegen eher ein schauspielerisches Phänomen, das sie mit hautengem Flower-Body mit viel Spaß an der Profession verbindet. Die Schattenseiten des Gewerbes wie der Tod am Galgen und Wladimirs Faust bleiben ihr in der Strichfassung erspart. Ein neues Stück von Ödön von Horváth: Nach 90 Jahren taucht "Niemand" wieder auf – in Wien und Berlin
Sieben Schauspieler müssen genügen, und die Bühne ist auch kein Treppenhaus, sondern ein klaustrophobisches Dielenparkett, das auch die Rückwand überspannt und bestenfalls Schächte öffnet, die in den nächsten Nebenkeller führen.
Der Regisseur und Bühnenbildner legt auch bei der Spielfassung eingreifend Hand an. Aus sieben Bildern wird eine gut zweistündige Session, deren Personal durchgehend am Rand sitzt und bei Bedarf die Fläche entert. [...]
Dabei glänzen Monolog-Auftritte von Lisa Hrdina und Elias Arens, die aus ihren schlecht belichteten Nebenrollen treten. So schmettert Hrdina die zähnefletschende Rede einer Chancenlosen, die ihre nicht vorhandenen Chancen um jeden Preis ergreifen wird, und Arens gibt Horváths leise duldendem Walzergeiger Klein eine federnde Schärfe, die für jede politische Radikalisierung offen steht. Und wenn Henning Vogts handgreiflicher Wladimir nach seinem Raubmord an die Rampe tritt, von seiner besten Zeit beim Militär erzählt und über den Krieg nachdenkt, dann versteht jeder, dass der Frieden danach seinesgleichen nicht viel zu bieten hat. Für Franziska Machens' Überlebensprostituierte Gilda ist der Beruf des Sich-Verkaufens dagegen eher ein schauspielerisches Phänomen, das sie mit hautengem Flower-Body mit viel Spaß an der Profession verbindet. Die Schattenseiten des Gewerbes wie der Tod am Galgen und Wladimirs Faust bleiben ihr in der Strichfassung erspart.