
Tabula rasa: Gruppentanz und Klassenkampf
nach Carl Sternheim
Dass Carl Sternheim, dieser begnadete Polemiker, die deutsche Sozialdemokratie verabschiedete, ist fast 100 Jahre her: Seine bösartig-rasante Komödie 'Tabula rasa' (1916) zeigt einen Protagonisten, der so lange zwischen Klassenbewusstsein und Renditeerwartung, Arbeitersolidarität und Aktionärsinteresse hin und her laviert, bis er seinem radikalen Egoismus freie Bahn und sämtliche Widersprüche hinter sich lässt. Was war das eigentlich nochmal: links zu sein?
In Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung werden Sternheims scharfkantige, in der Tradition Molières stehende Figuren heimgesucht von den alten Weisen, die, vielleicht, neu in uns entstehen. Falls man sich, wer weiß, überhaupt an sie erinnert.
In Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung werden Sternheims scharfkantige, in der Tradition Molières stehende Figuren heimgesucht von den alten Weisen, die, vielleicht, neu in uns entstehen. Falls man sich, wer weiß, überhaupt an sie erinnert.
Regie Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne Jo Schramm
Kostüme Daniela Selig
Video Jo Schramm
Live-Video Marlene Blumert, Kristina Trömer
Dramaturgie Claus Caesar
Live-Musik Michael Letz
Premiere 11. September 2014
Felix GoeserWilhelm Ständer

Lisa HrdinaIsolde Ständer, Nichte und Mündel von Wilhelm Ständer

Michael SchweighöferHeinrich Flocke

Daniel HoevelsArtur Flocke, Sohn von Heinrich Flocke

Natalia BelitskiNettel Flocke, Tochter von Heinrich Flocke

Christoph FrankenWerner Sturm

Jörg PosePaul Schippel

Judith HofmannBerta, Magd bei Ständer

Jürgen KuttnerDer Arzt

Michael LetzMusiker
Wilhelm Ständer
Isolde Ständer, Nichte und Mündel von Wilhelm Ständer
Heinrich Flocke
Artur Flocke, Sohn von Heinrich Flocke
Nettel Flocke, Tochter von Heinrich Flocke
Werner Sturm
Paul Schippel
Berta, Magd bei Ständer
Der Arzt
Musiker
Außerdem im Spielplan
DT Kontext: Vortrag und Gespräch
Der Traum ist aus? Zur Geschichte und Gegenwart utopischen Denkens
zu Gast: Tobias Brück (Journalist)
Rangfoyer
17.00 - 18.00
Mit englischen Übertiteln
Weltall Erde Mensch
Eine unwahrscheinliche Reise von Alexander Eisenach und Ensemble
Regie: Alexander Eisenach
DT Bühne
18.00 - 21.40
Vorstellung fällt leider aus
Wiederaufnahme
Regie: Jessica Weisskirchen
Leider muss die für heute geplante Vorstellung von Edward II. Die Liebe bin ich entfallen. Der Grund dafür sind Erkrankungen im Ensemble. Sollten Sie bereits Karten erworben haben, wird unser Besucher:innenservice Sie in Kürze kontaktieren.
Anstelle von Edward II. Die Liebe bin ich zeigen wir heute Im Spiegelsaal.
Anstelle von Edward II. Die Liebe bin ich zeigen wir heute Im Spiegelsaal.
Box
19.00
Wiederaufnahme
Eine Inszenierung des DT Jung*
Im Spiegelsaal
Regie: Katharina Bill
Anstelle von Edward II. Die Liebe bin ich zeigen wir heute Im Spiegelsaal.
Box
19:00 - 20:35
Und Kuttner, der seine Inszenierungen wie stets mit einer höchstpersönlich hingebretterten Stand-up-Suada schmückt, führt als ästhetisches Gleichnis der grassierenden Versozialdemokratisierung ein Video vor: die gnadenlose Verhunzung des Black-Sabbath-Klassikers "Paranoid" durch die deutsche Version "Der Hund von Baskerville", dargeboten von Cindy und Bert. Die ruckartige Mimik des Letzteren, so vermutet Kuttner, werde von Moskau aus mit einem alten, noch nicht stufenlos verstellbaren Modelleisenbahntransformator gesteuert.
Was gibt’s noch? Zum Beispiel den "Chor der Freischwimmer der Glaswerke Rodau", der mit marthaleresker Mattigkeit unter der Leitung von Michael Letz (E-Piano, Anglerhut) zart-resignatives Bademantel-Arbeiterliedgut darbietet. Eine knall-komische Probe zu Wagners "Ring", einstudiert zum Betriebsjubiläum von Daniel Hoevels, der bei aller Emphase nie nie nie vergisst, den Stolz auf seinen splissigen Mittelscheitel und seine Karottenmarmorjeans mitzuspielen. Hübsch aber auch die Anteilnahme des Kollektivs beim Fernsehen: Gesendet wird das Schicksal eines erblindeten, bettlägerigen Revolutionärs, der eine verspätete Liebeserklärung abgibt, seine Erlebnisse in einem sozialistisch-realistischen Erbauungsroman schildert und dann das Manuskript verliert. Richtig: Das ist Pawel Kortschagin aus Ostrowskis "Wie der Stahl gehärtet wurde". Auch so ein Arbeiterheld. Für Kuttner und Kühnel ist die Karriere der Sozialdemokratie von der revolutionären Bewegung zur parlamentarischen Partei ein Niedergang. Machtkorrumpiert und angetrieben von der Furcht als vaterlandslose Gesellen dazustehen, stimmte die Fraktion im Sommer 1914 für die Kriegskredite − und zwar keine Woche, nachdem sie "flammenden Protest gegen das verbrecherische Treiben der Kriegshetzer" erhoben hatte (Sebastian Haffner im Programmheft).
Und Kuttner, der seine Inszenierungen wie stets mit einer höchstpersönlich hingebretterten Stand-up-Suada schmückt, führt als ästhetisches Gleichnis der grassierenden Versozialdemokratisierung ein Video vor: die gnadenlose Verhunzung des Black-Sabbath-Klassikers "Paranoid" durch die deutsche Version "Der Hund von Baskerville", dargeboten von Cindy und Bert. Die ruckartige Mimik des Letzteren, so vermutet Kuttner, werde von Moskau aus mit einem alten, noch nicht stufenlos verstellbaren Modelleisenbahntransformator gesteuert.
Was gibt’s noch? Zum Beispiel den "Chor der Freischwimmer der Glaswerke Rodau", der mit marthaleresker Mattigkeit unter der Leitung von Michael Letz (E-Piano, Anglerhut) zart-resignatives Bademantel-Arbeiterliedgut darbietet. Eine knall-komische Probe zu Wagners "Ring", einstudiert zum Betriebsjubiläum von Daniel Hoevels, der bei aller Emphase nie nie nie vergisst, den Stolz auf seinen splissigen Mittelscheitel und seine Karottenmarmorjeans mitzuspielen. Hübsch aber auch die Anteilnahme des Kollektivs beim Fernsehen: Gesendet wird das Schicksal eines erblindeten, bettlägerigen Revolutionärs, der eine verspätete Liebeserklärung abgibt, seine Erlebnisse in einem sozialistisch-realistischen Erbauungsroman schildert und dann das Manuskript verliert. Richtig: Das ist Pawel Kortschagin aus Ostrowskis "Wie der Stahl gehärtet wurde". Auch so ein Arbeiterheld.
Handwerklich ist der Abend fantastisch gearbeitet, die Schauspieler sind toll und auch Kuttners Suada über das historische Versagen der SPD anhand eines alten Musikvideos von Cindy & Bert, das er in Manier seiner Videoschnipselabende in der Volksbühne als SPD-Wahlclip deutet, ist wahnsinnig komisch. Die Bühne ist schon mal toll. Ein richtiges Schwimmbad hat Jo Schramm da in das Deutsche Theater gebaut. Rechts und links hübsch-hässliche Mosaikwände bis ganz hoch hinauf. Und als der Schauspieler Felix Goeser, der die Hauptfigur Wilhelm Ständer spielt, mit Halbglatze und schütterem Lagerfeldzopf die Szene betritt, hechtet er erst mal in den Pool und durchpflügt ihn machohaft. Der erste Szenenapplaus am Donnerstag bei der Premiere von "Tabula rasa: Gruppentanz und Klassenkampf". Die Badehose ist rot. Denn das ist die Signalfarbe des Abends, der sich die Sozialdemokratie vorgeknöpft hat. (...)
Handwerklich ist der Abend fantastisch gearbeitet, die Schauspieler sind toll und auch Kuttners Suada über das historische Versagen der SPD anhand eines alten Musikvideos von Cindy & Bert, das er in Manier seiner Videoschnipselabende in der Volksbühne als SPD-Wahlclip deutet, ist wahnsinnig komisch.
Der Mann steht da wie ein junger Gott: Wilhelm Ständer, Arbeiter, Glasbläser, Sozialdemokrat, posiert nackt bis auf die rote Badehose vor einem kathedralenhohen Lenin-Mosaik und ist im Begriff, sich kopfüber ins Becken des imposanten Betriebsschwimmbads der Rodauer Glaswerke zu stürzen. Der Schauspieler Felix Goeser springt und schwimmt als Ständer drei Bahnen – zur Freude der Zuschauer im Deutschen Theater, die lachend erkennen, dass die Wassertiefe auf der Bühne allenfalls 20 Zentimeter misst.
Ein Fake ist nicht nur das Bad (Bühne: Jo Schramm), sondern der ganze Sozialdemokrat Ständer, den Carl Sternheim 1915 in "Tabula rasa" entwarf – nicht zuletzt als höhnischen Kommentar auf die Partei, die sich im Juli 1914 gegen ihre Überzeugungen vor den Kriegskarren hatte spannen lassen. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die fast schon traditionell die Spielzeit am Deutschen Theater miteröffnen, benutzen die böse Komödie um den schlauen Arbeiter, der längst ein bourgeoises Leben führt und dies vor der Fabrikbelegschaft verbergen muss, für eine bei aller Polemik doch ziemlich nostalgische Rückschau auf 100 Jahre Links-Sein: Sternheims Stück wird ergänzt und erweitert mit historischem Material aus der Ostrowsksi-Verfilmung "Wie der Stahl gehärtet wurde", ein "Chor der Freischwimmer" singt Arbeiterlieder vom "Roten Wedding" und "Kleinen Trompeter", und der Schauspieler Jörg Pose ruft aus der ersten Reihe immer mal wieder Fragen ins Stück: "Was war links eigentlich noch mal – lange Haare?" Sein Theaterstück "Tabula rasa" verstand Carl Sternheim 1915 als höhnischen Kommentar auf die SPD. Die Inszenierung im Deutschen Theater zeigt: Einige der scharfen Beobachtungen sind von unbegrenzter Gültigkeit.
Der Mann steht da wie ein junger Gott: Wilhelm Ständer, Arbeiter, Glasbläser, Sozialdemokrat, posiert nackt bis auf die rote Badehose vor einem kathedralenhohen Lenin-Mosaik und ist im Begriff, sich kopfüber ins Becken des imposanten Betriebsschwimmbads der Rodauer Glaswerke zu stürzen. Der Schauspieler Felix Goeser springt und schwimmt als Ständer drei Bahnen – zur Freude der Zuschauer im Deutschen Theater, die lachend erkennen, dass die Wassertiefe auf der Bühne allenfalls 20 Zentimeter misst.
Ein Fake ist nicht nur das Bad (Bühne: Jo Schramm), sondern der ganze Sozialdemokrat Ständer, den Carl Sternheim 1915 in "Tabula rasa" entwarf – nicht zuletzt als höhnischen Kommentar auf die Partei, die sich im Juli 1914 gegen ihre Überzeugungen vor den Kriegskarren hatte spannen lassen. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die fast schon traditionell die Spielzeit am Deutschen Theater miteröffnen, benutzen die böse Komödie um den schlauen Arbeiter, der längst ein bourgeoises Leben führt und dies vor der Fabrikbelegschaft verbergen muss, für eine bei aller Polemik doch ziemlich nostalgische Rückschau auf 100 Jahre Links-Sein: Sternheims Stück wird ergänzt und erweitert mit historischem Material aus der Ostrowsksi-Verfilmung "Wie der Stahl gehärtet wurde", ein "Chor der Freischwimmer" singt Arbeiterlieder vom "Roten Wedding" und "Kleinen Trompeter", und der Schauspieler Jörg Pose ruft aus der ersten Reihe immer mal wieder Fragen ins Stück: "Was war links eigentlich noch mal – lange Haare?"