
Tartuffe
oder Das Schwein der Weisen
von PeterLicht frei nach Molière
Orgon gehört der ganze Laden. Und in seinem Sonnenlicht tanzen sie alle: seine Frau Elmire, seine beiden Kinder Damis und Mariane, Schwager Cléante, seine Vatermutter Herr Frau Pernelle sowie Zofe Dorine. Alles okay soweit. Bis Orgon, genannt Orgi, in eine Krise gerät, sein okayes Leben reflektiert und sich bewusst wird, dass er nichts und niemandem nahe kommt, dass er zu Dingen und Menschen stets in einem Abstand steht: "Man trifft sich mit allem in der Mitte." So sehr er diese Gemitteltheit seines Lebenswandels schätzt, so sehr spürt er auch einen elementaren Mangel in dieser Welt, an deren Rändern es beängstigend zu flackern beginnt. Orgon sehnt sich nach Veränderung: "Gerne würde ich irgendetwas greifen oder ergriffen sein." Eine neue Welt, in der die ganze Pracht zu entdecken und die volle Ladung spürbar ist, wo man nicht bloß existiert, sondern an etwas anderes glauben kann – das wäre es! Denn: "So, wie es ist, so reicht es ja wohl nicht!" Da kommt ihm Heilsbringer Tartuffe, genannt Tüffi, wie gerufen und Orgi fasst den Plan, sich und seine soziale Bezugsgruppe aus dem Okay-Reich ins Tüffi-Reich zu überführen. In Tüffis Sonnendschungel geht es um Gemeinschaft, Liebe, work, inneren Frieden, Übergeschlechtlichkeit und natürlich Ganzheitlichkeit. Im Tüffi-Tempel musst du wollen und fühlen, du musst frei sein und dich ausstülpen, du musst einfach da und komplett drin sein. Direkte Aktion! Take a deep breath!
Der Musiker und Autor PeterLicht hat Molières Tartuffe ins Heute geholt und zeigt eine maximal beschleunigte Gesellschaft, die der patriarchale Turbokapitalismus aus ihrer Umlaufbahn geworfen hat und die um Spektakel, Performance und Authentizität bemüht ist. Andere Sehnsüchte sind da, aber es fehlen die Wege und Mittel. Wo ist eine Utopie? Wie geht die Zukunft? Woran halten? Mit was verbinden? Welche Welt morgen? Bis Erkenntnisse gewonnen und Antworten gefunden sind, hilft vor allem eines: viel reden! Und: immer einen Schritt schneller sein als die Depression!
In der Zäsur der Coronakrise und als Teil des DT Open Air im Sommer 2021 bespielen Regisseur Jan Bosse und Ensemble mit dieser Komödie den Vorplatz des Deutschen Theaters.
Der Musiker und Autor PeterLicht hat Molières Tartuffe ins Heute geholt und zeigt eine maximal beschleunigte Gesellschaft, die der patriarchale Turbokapitalismus aus ihrer Umlaufbahn geworfen hat und die um Spektakel, Performance und Authentizität bemüht ist. Andere Sehnsüchte sind da, aber es fehlen die Wege und Mittel. Wo ist eine Utopie? Wie geht die Zukunft? Woran halten? Mit was verbinden? Welche Welt morgen? Bis Erkenntnisse gewonnen und Antworten gefunden sind, hilft vor allem eines: viel reden! Und: immer einen Schritt schneller sein als die Depression!
In der Zäsur der Coronakrise und als Teil des DT Open Air im Sommer 2021 bespielen Regisseur Jan Bosse und Ensemble mit dieser Komödie den Vorplatz des Deutschen Theaters.
Regie Jan Bosse
Bühne Stéphane Laimé
Kostüme Kathrin Plath
Musik, Komposition & Sounddesign Carolina Bigge, Arno Kraehahn
Licht Marco Scherle
Dramaturgie David Heiligers
Premiere
22. Mai 2021
Open Air // Vorplatz
22. Mai 2021
Open Air // Vorplatz
Regine ZimmermannHerr Frau Pernelle

Felix GoeserOrgon

Natali SeeligElmire

Tamer TahanDamis

Kotbong YangMariane

Moritz GroveCléante

Linn ReusseDorine

Božidar KocevskiTartuffe

Carolina BiggeLive-Musik

Herr Frau Pernelle
Orgon
Elmire
Damis
Mariane
Cléante
Dorine
Tartuffe
Live-Musik
[...]
Doch an diesem Abend hört man sich rasch ein in diesen Sound, lässt sich von ihm mitreißen, verfällt ihm schließlich mit Haut und Haaren. Warum? Weil hier nicht, wie so oft im künstlerisch avancierten Gegenwartstheater, auf das Genre der Komödie und ihre Figuren herabgeschaut wird, weil Komödie nicht parodiert, sondern tatsächlich ausgespielt wird. Das hinreißende Ensemble gibt den schrillen Karikaturen Würde und gestaltet jeden Augenblick mit Wärme, Zuneigung und Schwung. Selbst Božidar Kocevski, der den titelgebenden Hochstapler verkörpert und anfangs nur grunzende Schweinslaute von sich geben darf, verleiht seinem "Tüffi" – wie er hier meist genannt wird – ballettöse Eleganz und eine bemerkenswerte erotische Anziehungskraft, vor allem, wenn er für das ganze Ensemble eine urkomische esoterische Yogastunde abhält, die Cléante (Moritz Grove) tapfer aus dem Schweinischen simultanübersetzt.
Das Deutsche Theater zeigt PeterLichts Molière-Umschreibung "Tartuffe oder Das Schwein der Weisen" als Open-Air-Premiere. Eine euphorischere, beglückendere Rückkehr zum Live-Theater vor Publikum kann man sich kaum wünschen.
[...]
Doch an diesem Abend hört man sich rasch ein in diesen Sound, lässt sich von ihm mitreißen, verfällt ihm schließlich mit Haut und Haaren. Warum? Weil hier nicht, wie so oft im künstlerisch avancierten Gegenwartstheater, auf das Genre der Komödie und ihre Figuren herabgeschaut wird, weil Komödie nicht parodiert, sondern tatsächlich ausgespielt wird. Das hinreißende Ensemble gibt den schrillen Karikaturen Würde und gestaltet jeden Augenblick mit Wärme, Zuneigung und Schwung. Selbst Božidar Kocevski, der den titelgebenden Hochstapler verkörpert und anfangs nur grunzende Schweinslaute von sich geben darf, verleiht seinem "Tüffi" – wie er hier meist genannt wird – ballettöse Eleganz und eine bemerkenswerte erotische Anziehungskraft, vor allem, wenn er für das ganze Ensemble eine urkomische esoterische Yogastunde abhält, die Cléante (Moritz Grove) tapfer aus dem Schweinischen simultanübersetzt.
Waren es bei Molière noch aktuelle Bezüge auf pseudo-religiöse Machenschaft, geht es nun um eine spätkapitalistische, männlich dominierte Welt. Alles wird "penisförmig" zerredet. Der grandiose Vollblutkomiker Božidar Kocevski singt dazu als Tüffi mit Rockstar-Attitüde herrlich albern im Falsett "Penis als Chance" und verulkt so sein toxisches Testosteron-Geprotze.
PeterLichts "Tartuffe" [...] ist in seiner elliptischen Wortwut und Kalauerseligkeit gar nicht leicht zu fassen. Jan Bosse schafft es aber, die Textkaskaden mit einem tollen Ensemble zu verdichten und andockfähig zu machen. Gesteigerten Drive gewinnt die Farce auch dadurch, dass Bosse sich nicht mit reinem Vorplatztheater zufrieden gibt, sondern das DT im Rücken als Schau- und Spielplatz nutzt (Bühne: Stéphane Laimé). Das Theater ist Orgis Palast, den Tüffi als Hausbesetzer in Beschlag genommen hat, es gibt Leitern zum Balkon und falsche Fassadenteile, die lustvoll eingeschlagen werden.
Jan Bosses fröhlich beschleunigte Inszenierung dauert keine zwei Stunden, sie ist dynamisch, druckvoll und von klugem Klamauk getragen. Mit dem vortrefflichen Ensemble zeigt er PeterLichts vergnügliche Sprachkritik als anregendes Sommertheater, bei dem man herzlich kalt über andere lachen kann – und sich dabei trotzdem die so lange untätigen Applaushände wärmt.
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Božidar Kocevski spielt diesen Tüffi als anfangs buchstäblich grunzendes Macho-Schwein, breitet aber nach einem herrlich lüsternen Solotänzchen seine phallokratische Weltsicht aus, in der sich das "Penishafte der Welt" und das "Penishafte des Kapitalismus" verbinden zum "Penis als Chance". Daran ist nichts klemmig oder klebrig, sondern von einer so unschuldig offenen Gier, dass Orgis Familie ihm nicht mal richtig böse ist, als sie feststellt, dass der Tüffi nur ein "normaler Sex-Schamane" ist, der die Kursgebühren für seine "School of Ausstülpung und inneren Frieden" abkassieren will.
Und dann spielt das Ensemble auf den Treppenstufen des Theaters das Wetter ohnehin an die Wand. "Tartuffe oder Das Schwein der Weisen", die Molière-Interpretation des Musikers und Autors Peter Licht, ist eine belebende Text-Dusche, die alle Diskurs-Schlacken und Emo-Blockaden wegspült.
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Božidar Kocevski spielt diesen Tüffi als anfangs buchstäblich grunzendes Macho-Schwein, breitet aber nach einem herrlich lüsternen Solotänzchen seine phallokratische Weltsicht aus, in der sich das "Penishafte der Welt" und das "Penishafte des Kapitalismus" verbinden zum "Penis als Chance". Daran ist nichts klemmig oder klebrig, sondern von einer so unschuldig offenen Gier, dass Orgis Familie ihm nicht mal richtig böse ist, als sie feststellt, dass der Tüffi nur ein "normaler Sex-Schamane" ist, der die Kursgebühren für seine "School of Ausstülpung und inneren Frieden" abkassieren will.
Wo bei Molière der Tartuffe Macht über die Familie Orgons erringt, indem er den Familienvorstand mit verlogener Gottesfürchtigkeit betört, da sind die Mittel, die Tartuffe bei Peter Licht anwendet, ganz andere: Er zeigt sich Orgon und den Seinen als ein in Grunzlauten sprechender Wilder, ein Eber in Menschengestalt, der ihnen das Gefühl gibt, selbst nicht "geil" zu sein ("geil" ist das Schlüsselwort der Aufführung). Wo bei Molière die Andacht und die Beichte oberste Druckmittel des Betrügers sind, da ist bei Licht der Tüffi ein Sexschamane, der seine Opfer bei ihrer Selbstachtung, ihrem Marktwert packt: Sie sollen, sagt er ihnen, in sich das Außergewöhnliche entdecken und nicht so verdammt "mittel" sein. […] Ganz am Ende ändert sich die Tonlage des Spiels. Tartuffe ist weg, und den Übriggebliebenen ist die Geilheit vergangen. Reue zieht ein in der Familie Orgon, und die Aufführung lässt uns einen Blick ins leere Universum werfen, das sich hinter aller Eitelkeit auftut. Elmire (gespielt von Natali Seelig) singt einen Song, in dem es heißt: "Wir sind Löcher mit offenen Böden. Füllt uns!" Wen kann Elmire gemeint haben? Vielleicht sogar den guten alten Theaterbetrieb, der jetzt wieder beginnt.