
Untergang des Egoisten Johann Fatzer
von Bertolt Brecht
"Ich mache / Keinen Krieg mehr, sondern ich gehe / Jetzt heim gradewegs, ich scheiße / Auf die Ordnung der Welt. Ich bin / Verloren"
Fatzer desertiert mit drei Kameraden aus dem ersten Weltkrieg. Sie verstecken sich bei der Frau des einen in einem kleinen Raum in Mülheim an der Ruhr. Sie wollen dem Krieg entkommen, ihn bekämpfen und einen Umsturz. Doch die erhoffte Revolution findet nicht statt. Die Deserteure radikalisieren sich gegeneinander. Sie sind raus aus der Gesellschaft.
Brecht merkte in seinem Kommentar zum Fatzer an, dass dieser die "lähmende Geschichte" ebenso wie die "Zertrümmerung der Anschauungen durch die Verhältnisse" zum Gegenstand habe. Von ungeheuerlicher Wucht sind die politischen, psychischen, ideologischen Energien, die Brecht in seinem mehr als 500-seitigen Fragment konserviert hat. Sie freizusetzen, ihre Wucht wieder vernehmbar zu machen, daran werden Tom Kühnel und Jürgen Kuttner mit ihrer Inszenierung des "Jahrhunderttextes" (Heiner Müller) arbeiten.
Fassung Tom Kühnel / Jürgen Kuttner
Fatzer desertiert mit drei Kameraden aus dem ersten Weltkrieg. Sie verstecken sich bei der Frau des einen in einem kleinen Raum in Mülheim an der Ruhr. Sie wollen dem Krieg entkommen, ihn bekämpfen und einen Umsturz. Doch die erhoffte Revolution findet nicht statt. Die Deserteure radikalisieren sich gegeneinander. Sie sind raus aus der Gesellschaft.
Brecht merkte in seinem Kommentar zum Fatzer an, dass dieser die "lähmende Geschichte" ebenso wie die "Zertrümmerung der Anschauungen durch die Verhältnisse" zum Gegenstand habe. Von ungeheuerlicher Wucht sind die politischen, psychischen, ideologischen Energien, die Brecht in seinem mehr als 500-seitigen Fragment konserviert hat. Sie freizusetzen, ihre Wucht wieder vernehmbar zu machen, daran werden Tom Kühnel und Jürgen Kuttner mit ihrer Inszenierung des "Jahrhunderttextes" (Heiner Müller) arbeiten.
Fassung Tom Kühnel / Jürgen Kuttner
Regie Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne Jo Schramm
Kostüme Daniela Selig
Musik Ornament & Verbrechen
Video Marlene Blumert
Licht Ingo Greiser
Ton Matthias Lunow, Björn Mauder
Dramaturgie Juliane Koepp
Premiere am 12. November 2016, Kammerspiele
Andreas DöhlerJohann Fatzer

Bernd StempelKoch

Alexander KhuonBüsching

Edgar EckertKaumann

Natali SeeligTherese Kaumann

Jürgen KuttnerSpielleiter

Ornament & VerbrechenLive-Musik

Johann Fatzer
Koch
Büsching
Kaumann
Therese Kaumann
Spielleiter
Live-Musik
Mülheimer Fatzer Tage
15. Juli 2017
15. Juli 2017
Außerdem im Spielplan
Vorstellung fällt leider aus
Regie: Rafael Sanchez
Zu unserem Bedauern muss die Vorstellung Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park heute leider ersatzlos entfallen. Bereits gekaufte Karten können innerhalb von 14 Tagen an der Theaterkasse umgetauscht oder zurückgegeben werden.
Box
19.00 - 20.15
Mit englischen Übertiteln
Regie: Kirill Serebrennikov
Deutsches Theater
19.30 - 22.55
Zum letzten Mal
Mit englischen Übertiteln
Kammerspiele
20.00 - 21.40
Als die Soldaten bei Kaufmanns Gattin in Mühlheim an der Ruhr einen provisorischen Unterschlupf finden, kaspern sie die einsetzenden amourösen Scharmützel unter donnernden Klängen des Industrialduos "Ornament und Verbrechen" zum rockigen Musical um. Andreas Döhler, dessen grandios gegebener Fatzer ein Kraftprotz vom Schlage eines "Baal" ist, besäuft sich an der Bar und gibt dem verzweifelt für den Umsturz plädierenden Individualisten eine harte dramatische Tiefe. Und Natali Seelig slapstickt sich gekonnt als Kaufmanns sexuell frustrierte Frau durch die zweistündige Aufführung.
[...]
Am Ende dürften Kühnel und Kuttner sich die Hände gerieben haben ob des vorab sicher nicht völlig sicheren Umstands, dass ihr Plan bei diesem "Fatzer" voll aufgeht. Die Beseitigung des Publikums lässt sich nicht nur als brave formale Umsetzung der Brechtschen Vorgaben begreifen. Auch diese ironische Brechung, die im deutschsprachigen Gegenwartstheater gerade bei solch hochgradig politischen Themen nur bei Strafe hemmungsloser Verrisse in den Feuilletons fehlen darf, ist in dieser vor originellen Regieeinfällen sprühenden Textbearbeitung enthalten.Sie brauchen keinen Verweis auf Donald Trump, um aus den teilweise redundanten Stückfetzen eine Essenz herauszukitzeln, die ein altes Sujet sein mag, aber immer neu bleibt. In Perfektion kommt sie zum Vorschein, als das bereits wankende Kollektiv darüber debattiert, ob es nun weiterkämpfen oder zuerst auf Fleischsuche gehen und damit den unbändigen Hunger stillen soll. Alles Zeitverschwendung, die Revolution muss jetzt kommen, ruft Fatzer. Wir müssen essen, sagen die anderen. Dass Fatzer, der sich aufgrund seiner Liebe zur Subversion doch am ehesten als Altruist betrachtet, von den Kameraden schließlich als Egoist hingerichtet wird, spiegelt den wohl niemals endenden Streit zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie. Der Raum ist vollgepackt mit Reminiszenzen an das Werk des Dichters. Da steht - umfunktioniert zu einer Bar - der Wagen der "Mutter Courage", da hängt der Galgen aus der "Dreigroschenoper" und als Anspielung auf Brechts Vorliebe für fernöstliche Philosophie rangiert da ein hölzerner Pavillon. Wenn das in silbrig glitzernde Raumanzüge verfrachtete Ensemble das Mitmachspiel beginnen lässt, nutzt es improvisationsfreudig von Beginn an diesen ehrfurchtsvoll gestalteten Raum und sprengt lustvoll die Genregrenzen.
Als die Soldaten bei Kaufmanns Gattin in Mühlheim an der Ruhr einen provisorischen Unterschlupf finden, kaspern sie die einsetzenden amourösen Scharmützel unter donnernden Klängen des Industrialduos "Ornament und Verbrechen" zum rockigen Musical um. Andreas Döhler, dessen grandios gegebener Fatzer ein Kraftprotz vom Schlage eines "Baal" ist, besäuft sich an der Bar und gibt dem verzweifelt für den Umsturz plädierenden Individualisten eine harte dramatische Tiefe. Und Natali Seelig slapstickt sich gekonnt als Kaufmanns sexuell frustrierte Frau durch die zweistündige Aufführung.
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Am Ende dürften Kühnel und Kuttner sich die Hände gerieben haben ob des vorab sicher nicht völlig sicheren Umstands, dass ihr Plan bei diesem "Fatzer" voll aufgeht. Die Beseitigung des Publikums lässt sich nicht nur als brave formale Umsetzung der Brechtschen Vorgaben begreifen. Auch diese ironische Brechung, die im deutschsprachigen Gegenwartstheater gerade bei solch hochgradig politischen Themen nur bei Strafe hemmungsloser Verrisse in den Feuilletons fehlen darf, ist in dieser vor originellen Regieeinfällen sprühenden Textbearbeitung enthalten.Sie brauchen keinen Verweis auf Donald Trump, um aus den teilweise redundanten Stückfetzen eine Essenz herauszukitzeln, die ein altes Sujet sein mag, aber immer neu bleibt. In Perfektion kommt sie zum Vorschein, als das bereits wankende Kollektiv darüber debattiert, ob es nun weiterkämpfen oder zuerst auf Fleischsuche gehen und damit den unbändigen Hunger stillen soll. Alles Zeitverschwendung, die Revolution muss jetzt kommen, ruft Fatzer. Wir müssen essen, sagen die anderen. Dass Fatzer, der sich aufgrund seiner Liebe zur Subversion doch am ehesten als Altruist betrachtet, von den Kameraden schließlich als Egoist hingerichtet wird, spiegelt den wohl niemals endenden Streit zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie.
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Am Deutschen Theater spielen sie jetzt nicht die Müller-Fassung, das ist eine gute Entscheidung. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, das eingespielte Regieduo, sucht den freien, unverstellten Blick. Ein gut zweistündiger, lockerer Abend als Überprüfungsanstalt: was taugt der Text, um uns in unserer Gegenwart zu begreifen? Sie holen dafür keine Gegenwartsabziehbilder auf die Bühne, keinen Donald T., keine Angela M., auch eine gute Entscheidung. Stattdessen Brecht-Versatzstücke, den Wagen aus der "Mutter Courage", einen Galgen wie in der "Dreigroschenoper", einen fernöstlichen Pavillon, ein Kino und das Publikum als Teil des Geschehens. Es sitzt im Bühnenbild, es soll verantwortlich gemacht werden für das Spiel - und für die Welt, in der es stattfindet. Kuttner sagt uns mitmachenden Zuschauern in einem launigen Prolog: "Es kann ja nicht sein, dass ich mir auf der Bühne ihre Gedanken mache."
[...]
Ordentliches Verabredungstheater, dazwischen die pseudo-lehrstückhaften Publikumsauflockerungsnummern. Schön die beigegebene Livemusik, schön auch die Videoeinsprengsel. Die Szenen aber fallen auseinander: Alles bleibt Stückwerk, eine Splittersammlung. Der Abend scheitert daran, dem Unvereinbaren einen Fluchtpunkt zu verschaffen. Zum Glück. Denn dieser Fluchtpunkt ist bislang immer ldeologie, Indoktrination, Indienstnahme des Menschen für Parteiinteressen gewesen. Das Deutsche Theater zeigt den "Untergang des Egoisten Johann Fatzer" von Bertolt Brecht. Der Abend ist gescheitert, zum Glück. Er ist aufschlussreich gescheitert, das macht ihn sehenswert.
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Am Deutschen Theater spielen sie jetzt nicht die Müller-Fassung, das ist eine gute Entscheidung. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, das eingespielte Regieduo, sucht den freien, unverstellten Blick. Ein gut zweistündiger, lockerer Abend als Überprüfungsanstalt: was taugt der Text, um uns in unserer Gegenwart zu begreifen? Sie holen dafür keine Gegenwartsabziehbilder auf die Bühne, keinen Donald T., keine Angela M., auch eine gute Entscheidung. Stattdessen Brecht-Versatzstücke, den Wagen aus der "Mutter Courage", einen Galgen wie in der "Dreigroschenoper", einen fernöstlichen Pavillon, ein Kino und das Publikum als Teil des Geschehens. Es sitzt im Bühnenbild, es soll verantwortlich gemacht werden für das Spiel - und für die Welt, in der es stattfindet. Kuttner sagt uns mitmachenden Zuschauern in einem launigen Prolog: "Es kann ja nicht sein, dass ich mir auf der Bühne ihre Gedanken mache."
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Ordentliches Verabredungstheater, dazwischen die pseudo-lehrstückhaften Publikumsauflockerungsnummern. Schön die beigegebene Livemusik, schön auch die Videoeinsprengsel. Die Szenen aber fallen auseinander: Alles bleibt Stückwerk, eine Splittersammlung. Der Abend scheitert daran, dem Unvereinbaren einen Fluchtpunkt zu verschaffen. Zum Glück. Denn dieser Fluchtpunkt ist bislang immer ldeologie, Indoktrination, Indienstnahme des Menschen für Parteiinteressen gewesen.
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Die Szene etwa, in der die Soldaten bei der Kaumann anklopfen, wird zur Kitschmusical-Nummer: Natali Seelig windet sich als vermeintlich sexuell frustrierte Soldatengattin hochnotkomisch auf dem Kanapee,während sie betont pathostriefend "Meine Blöße ist schon verdorrt" intoniert. Der Part, in dem Fatzer zwecks Fleischbeschaffung einem Soldaten folgt, findet hingegen auf der Warschauer Brücke statt und wird per Video eingespielt: Andreas Döhler, dessen Fatzer-Darstellung ein bisschen an den "bösen Baal, den asozialen"erinnert, abzüglich dessen Hedonismus und dafür mit einiger Wut und echter Not im Bauch, versucht in seinem Raumanzug vergeblich, Passanten aus ihrem Gleichgültigkeitstrott zu bringen. Eine Beratung zwischen den Kameraden Koch (Bernd Stempel), Büsching (Alexander Khuon) und Kaumann (Edgar Eckert) gerät wiederum zum lustigen Comic-Verschnitt, und zwischendurch haut die Band "Ornament und Verbrechen" live in die Instrumente. Dank Brechts Theaterclou von der erkenntnisfordernden Verfremdung sind der Spielfantasie keine Grenzen gesetzt. Heiner Müller nannte "Fatzer" einen "Jahrhunderttext": Die Sprache, schrieb er, "formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den Denkprozess". Kühnels und Kuttners Inszenierung führt so unterhaltsam wie dialektisch vor, dass das mit den Denkprozessen wahrlich keine leichte Sache ist. Der Spielleiter animiert im Laufe des Abends zum chorischen Ablesen ganzer "Fatzer"-Passagen von einer Art Teleprompter - worauf sich erstaunlich viele bereitwillig einlassen. Bemerkenswert, wie ganze Publikumschöre plötzlich relativ unbekümmert "Ich scheiße auf die Ordnung der Welt" skandieren. Dialektik als Mitmach-Event, das Lehrstück als Karaoke: eine durchaus korrekte Analyse des Status quo.
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Die Szene etwa, in der die Soldaten bei der Kaumann anklopfen, wird zur Kitschmusical-Nummer: Natali Seelig windet sich als vermeintlich sexuell frustrierte Soldatengattin hochnotkomisch auf dem Kanapee,während sie betont pathostriefend "Meine Blöße ist schon verdorrt" intoniert. Der Part, in dem Fatzer zwecks Fleischbeschaffung einem Soldaten folgt, findet hingegen auf der Warschauer Brücke statt und wird per Video eingespielt: Andreas Döhler, dessen Fatzer-Darstellung ein bisschen an den "bösen Baal, den asozialen"erinnert, abzüglich dessen Hedonismus und dafür mit einiger Wut und echter Not im Bauch, versucht in seinem Raumanzug vergeblich, Passanten aus ihrem Gleichgültigkeitstrott zu bringen. Eine Beratung zwischen den Kameraden Koch (Bernd Stempel), Büsching (Alexander Khuon) und Kaumann (Edgar Eckert) gerät wiederum zum lustigen Comic-Verschnitt, und zwischendurch haut die Band "Ornament und Verbrechen" live in die Instrumente. Dank Brechts Theaterclou von der erkenntnisfordernden Verfremdung sind der Spielfantasie keine Grenzen gesetzt. Heiner Müller nannte "Fatzer" einen "Jahrhunderttext": Die Sprache, schrieb er, "formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den Denkprozess". Kühnels und Kuttners Inszenierung führt so unterhaltsam wie dialektisch vor, dass das mit den Denkprozessen wahrlich keine leichte Sache ist.