
Der Text, den ich auszeichnen möchte ...
von Lukas Bärfuss

Auf dem Bild: Lukas Bärfuss, Fritzi Haberlandt, Schorsch Kamerun
Lukas Bärfuss ist der Juryvorsitzende der Autorentheatertage 2021. Er hat die 212 Stücke gelesen und geprüft, die zum diesjährigen Wettbewerb eingesandt wurden. In einer E-Mail an die beiden Mitjuror_innen Fritzi Haberlandt und Schorsch Kamerun beschreibt er seine Suchkriterien. So entsteht – wie nebenbei – eine kleine Poetologie der Gegenwartsdramatik.
"Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, hat zuerst visionären Charakter. Dem Wortsinn nach hat hier jemand etwas gesehen und will oder muss oder darf nun darüber berichten. Jemand ist zum Zeugen geworden, Zeuge eines Verbrechens, eines Verrates, einer Rettung, einer Bestrafung, einer Erkenntnis, einer Enttäuschung. All dies kann überall passieren: in einem Fahrstuhl, in einem Job-Center, in einer Schule, an einem Waldrand, in einem Rausch, im Bett, irgendwo.
Dem literarischen Text, den ich auszeichnen möchte, liegt eine Erfahrung zu Grunde; und er will gleichzeitig eine Erfahrung ermöglichen. Er spricht von einer ungeklärten, besser noch, von einer unklärbaren Situation. Die Sprache wird sich ganz in den Dienst dieser doppelten Aufgabe stellen; sie ist deswegen anschaulich, musikalisch, vielfältig, überraschend und zugänglich.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, kommt gleich zur Sache. Er lässt mich nicht warten. Falls er selbst nicht weiß, was seine Sache ist, dann ist natürlich genau dies seine Sache.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, kommt mit sich nicht ans Ende, er wird an sich nicht satt. Er weiß über seine Beschränkungen, er weiß, dass es jenseits der Sprache wohl eine Welt gibt, darüber aber vernünftigerweise keine Aussage gemacht werden kann.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, versucht sich darin, die Gegensätze zu verbinden. Ein Mensch wird stark, wenn er einsieht, wie schwach und zerbrechlich er ist. Wer seine Beschränktheit begreift, steht am Anfang einer Erkenntnis. Mut ist die Überwindung der Verzweiflung, nicht ihre Negation.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, leidet daran, dass die gestaltende Hand bereit sein muss, zu zerstören. Er wird deshalb von allem, was nur dem Stil geschuldet ist, Abstand nehmen.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, weiß, dass Existenz Mangel bedeutet: Mangel an Zeit, Mangel an Energie, Mangel an Sorgfalt. Er verzichtet deshalb, aus Höflichkeit und Demut, auf Unnötiges.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, weiß, dass sowohl die totale Kontrolle wie das totale Chaos ohne Interesse sind.
Der dramatische Text, den ich auszeichnen möchte, beschreibt und ermöglicht eine Veränderung. Ganz praktisch soll er Schauspielerinnen und Schauspielern die Möglichkeit geben, sich so oft wie nötig und so tief wie möglich zu verwandeln. Der dramatische Text, den ich auszeichne, sieht hier das utopische Potential des Theaters: Verwandlung ist unumgänglich, sie ist häufig willkürlich, und sie kann von Menschen im Guten wie im Schlechten beeinflusst und gestaltet werden.
Der dramatische Text, den ich auszeichnen möchte, stellt sich dem Theater als Problem. Problem bedeutet: das Vorangestellte, die Voraussetzung, die Bedingung, die Hürde, die zu nehmen ist. Der dramatische Text, den ich auszeichnen möchte, weiß, dass auf und hinter der Bühne und im Publikum, lebendige Menschen freiwillig an sein Werk gehen werden. Er braucht deshalb für jede notwendige Zumutung eine ausreichende Begründung."
Lukas Bärfuss, am 23. Oktober 2020
Dem literarischen Text, den ich auszeichnen möchte, liegt eine Erfahrung zu Grunde; und er will gleichzeitig eine Erfahrung ermöglichen. Er spricht von einer ungeklärten, besser noch, von einer unklärbaren Situation. Die Sprache wird sich ganz in den Dienst dieser doppelten Aufgabe stellen; sie ist deswegen anschaulich, musikalisch, vielfältig, überraschend und zugänglich.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, kommt gleich zur Sache. Er lässt mich nicht warten. Falls er selbst nicht weiß, was seine Sache ist, dann ist natürlich genau dies seine Sache.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, kommt mit sich nicht ans Ende, er wird an sich nicht satt. Er weiß über seine Beschränkungen, er weiß, dass es jenseits der Sprache wohl eine Welt gibt, darüber aber vernünftigerweise keine Aussage gemacht werden kann.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, versucht sich darin, die Gegensätze zu verbinden. Ein Mensch wird stark, wenn er einsieht, wie schwach und zerbrechlich er ist. Wer seine Beschränktheit begreift, steht am Anfang einer Erkenntnis. Mut ist die Überwindung der Verzweiflung, nicht ihre Negation.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, leidet daran, dass die gestaltende Hand bereit sein muss, zu zerstören. Er wird deshalb von allem, was nur dem Stil geschuldet ist, Abstand nehmen.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, weiß, dass Existenz Mangel bedeutet: Mangel an Zeit, Mangel an Energie, Mangel an Sorgfalt. Er verzichtet deshalb, aus Höflichkeit und Demut, auf Unnötiges.
Der literarische Text, den ich auszeichnen möchte, weiß, dass sowohl die totale Kontrolle wie das totale Chaos ohne Interesse sind.
Der dramatische Text, den ich auszeichnen möchte, beschreibt und ermöglicht eine Veränderung. Ganz praktisch soll er Schauspielerinnen und Schauspielern die Möglichkeit geben, sich so oft wie nötig und so tief wie möglich zu verwandeln. Der dramatische Text, den ich auszeichne, sieht hier das utopische Potential des Theaters: Verwandlung ist unumgänglich, sie ist häufig willkürlich, und sie kann von Menschen im Guten wie im Schlechten beeinflusst und gestaltet werden.
Der dramatische Text, den ich auszeichnen möchte, stellt sich dem Theater als Problem. Problem bedeutet: das Vorangestellte, die Voraussetzung, die Bedingung, die Hürde, die zu nehmen ist. Der dramatische Text, den ich auszeichnen möchte, weiß, dass auf und hinter der Bühne und im Publikum, lebendige Menschen freiwillig an sein Werk gehen werden. Er braucht deshalb für jede notwendige Zumutung eine ausreichende Begründung."
Lukas Bärfuss, am 23. Oktober 2020