Die Ruinen des Sommers von Guido Wertheimer
Im Juli 2024 beginne ich meinen Aufenthalt im DT. Pünktlich zu Beginn der Sommerpause. Das Theater ist völlig leer, fünf Wochen lang werde ich hier allein sein. Ich laufe durch die abgedunkelten Bühnen, werde vom Geräusch der klappernden Uhren in den grünen Gängen aufgeschreckt, gieße die fast toten Pflanzen in der Dramaturgie-Abteilung, öffne Türen, gehe Treppen rauf und runter, schließe die Rollos, bis die Sonne endlich untergeht. In einem der Keller, neben dem Heizungsraum, stoße ich auf ein Zitat von Pasolini, das wer weiß von wem an die Wand geschrieben wurde.
Der Tod liegt nicht im Sich- nicht- mitteilen können, sondern im Nicht- mehr- verstanden – werden können.
Die Stunden vergehen langsam in dieser leeren Welt, ich frage mich immer wieder, was passieren soll, wenn dieses Theater wieder seiner üblichen Nutzung zugeführt wird. Warum soll man dieses öffentliche Gebäude weiterhin bewohnen? Auf welche Weise? Wer soll es tun und wie soll es geschehen?
Während einer meiner langen Siestas in den Sesseln des Theaterfoyers habe ich einen Traum: Niemand kommt zurück. Das kolossale Gebäude ist jetzt eine Ruine. Diese Ruine wird von Pflanzen erobert und verwandelt sich in einen Garten. So ist mein Sommertraum inmitten dieses unbewohnten Berlins: Füchse, Vögel, Fledermäuse und Insekten kommen durch den großen Saal des Deutschen Theaters. Nach und nach schaffen sie sich einen neuen Lebensraum, eine Art von Zuflucht.
Aber als ich aufwache, ist es schon September, die Mitarbeiter:innen sind zurück: neue Schauspieler:innen, neue Regisseur:innen, Stagedesigner:innen, Kostümbildner:innen usw. Wie viele Premieren wird es geben? Wie viele Lichter werden ein- und ausgeschaltet? Wie viele Monologe werden gesprochen? Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Wofür das alles noch einmal wiederholen?
Gerade versuche ich zu überlegen, wie es weitergehen soll, ich schreibe Stunden lang und verwerfe 90% von dem, was ich schreibe. Ich möchte, dass die Arbeit, die mit dem Schreibatelier in Auftrag gegeben wird, ein Manifest ist. Oder eher eine Einladung, damit dieses Theater ab sofort für ein neues Publikum offen ist, damit es in anderen Sprachen -kein Hoch, kein Deutsch- geschrieben wird, damit neue Strategien eingeführt werden, damit es als gemeinsames Haus gedacht wird, damit niemand Angst davor haben muss, diese Ruine voller Geister zu betreten, damit dieses Theater zumindest für eine Nacht zu einem Garten wird.
Guido Wertheimer ist seit Beginn der laufenden Spielzeit gemeinsam mit Josephine Witt und Miku Sophie Kühmel Atelierautor am Deutschen Theater.