Von Großmeeren, Körpern und Zärtlichkeit von Marie Eisenmann

Ich liege auf dem Boden der Probebühne, auf der das Warm-Up zur Inszenierung von Blutstück stattfindet.

Ich liege hier mit meinem Schreibkörper. Er weiß, dass er heute über das Stück schreiben muss. Es ist ein freudig-aufgeregter Körper, aber auch ein nervöser Körper. Um mich herum liegen Gartenkörper, Wohlfühlkörper, Feierabendkörper, angeschlagene Körper und müde Körper. Wir alle hatten uns zu Beginn des Warm-Ups in einen Kreis gesetzt und uns mit Namen und Pronomen und dem Zustand unseres Körpers vorgestellt. Manche der Körper wussten nicht, was es mit diesen Pronomen auf sich hatte. Ein wenig irritiert, ließen sie sich auf die für sie ein wenig unverständliche Gepflogenheit ein. Auf dem Boden liegend spüre ich, dass ich mich in meinem Schreibkörper geschützt fühle. Weil ich zwischen mir und den Blicken der anderen eine Distanz herstelle, in die ich nachher meinen Text schreiben kann. Und hinter diesem Text verschwinde ich.

Im Hintergrund läuft das immer gleiche Stück im Loop. Ich spüre in meine Füße, meine Kniekehlen, meine Oberschenkel und denke an den Instagrampost des Deutschen Theaters, in dem wir Festivalblogger:innen uns in einem Video vorstellen. Mein Internetkörper. Er fühlt sich weniger geschützt an als der Schreibkörper. Ganz ungewohnt, ihn von außen zu betrachten. Wie er dort mit fremder Stimme spricht und seine Worte anders klingen, wenn ich sie nicht ausspreche, sondern ihnen zuhöre.

„Die Körperlichkeit einer Figur definiert sich über das Schuhwerk.“

Dieser Satz soll uns dazu anleiten mit einem anderen Körper ins Gespräch zu kommen und uns eine Bewegung zu überlegen, die sein Schuhwerk ausdrücken könnte. Alle Körper bewegen sich in ihrer Schuhbewegung durch den Raum, hüpfend, rennend, die Beine in die Luft werfend, weich oder kantig, bis sich alle Bewegungen synchronisieren und alle Körper stehen bleiben. Als wäre zwischen den Körpern ein dünnes Netz gespannt. Ich spüre, wie es auseinandergezogen wird, wenn sich die Körper von mir wegbewegen. Wie es schlaff wird, wenn alle stehen bleiben. Als wären alle Körper mit meinem verbunden, ganz nah an mir dran.

Über dieses Netz zwischen den Körpern spricht Kim de l’Horizon im Prolog zu Blutstück. Kim ist allein auf der Bühne, es ist dunkel, in Kims Hand eine elektrische Kerze, die flackert. Kim singt Feel von Robbie Williams. Kim erklärt, dass das, was wir heute sehen werden, nicht mehr viel mit dem Buch zu tun hat, das Kim geschrieben hat. Stattdessen soll während des Stücks eine Gemeinschaft von allen im Raum entstehen. Kim erinnert aber auch an die Körper, die durch die Maschen fallen, die nie in der „Bildungsbürgerkathedrale“, wie Kim das Theater nennt, sitzen. „Wir wollen das Fehlende einladen“, sagt Kim.

Die Grenzen zerfließen

Ich frage mich, ob das wirklich geht. In all den Stücken, die ich bisher während der Autor:innentheatertage gesehen habe, wurden Körper auf die Bühne gebracht, die für lange Zeit in der Theaterwelt durch die Maschen gefallen sind: nicht-weiße Körper, Arbeiter:innenkörper, genderfluide Körper. Bisher habe ich den Eindruck, dass von diesen Körpern trotzdem nur wenige im Zuschauer:innenraum sitzen. Und dass eine einfache Einladung vielleicht nicht reicht, wenn sich die materiellen Bedingungen des Theaters nicht ändern.  

Während ich noch darüber nachdenke, treten die anderen Schauspieler:innen auf die Bühne. Das Stück beginnt, ganz anders als erwartet, als partizipatives Musical. Die Schauspieler:innen, die alle Großmeere (Kims Wortneuschöpfung für die Großmütter) verkörpern, sprechen direkt einzelne Zuschauer:innen an. Sie leihen sich ihre Körper für ihre Improvisationen. Und manchmal müssen sie selbst über die Interaktionen mit dem Publikum so sehr lachen, dass die Grenzen zwischen Bühne und Publikum zerfließen. Genau wie auf der Probebühne merke ich, wie im Raum ein dünnes Netz entsteht, dass mich mit den Personen um mich herum verbindet. Wenn ich lache, lache ich nie allein. Und selbst mein Stillsein und mein Zuhören und -schauen fühlt sich nicht einsam an.

Ich stelle mich langsam darauf ein, dass das Stück eher ein gemeinsames Reflektieren über das Körpersein ist als eine Geschichte, der ich einfach passiv folgen kann. Es sind einige im Raum, die dachten, eine Adaption von Blutbuch auf der Bühne zu sehen. Auch sie verabschieden sich vielleicht gerade von dem Gedanken.

Körper wie Schatullen

Und dann setzen die Großmeere dazu an, einen Ursprungsmythos der weiblichen Körperwerdung zu erzählen. Wie sie zunächst ununterscheidbar in der Ursuppe schwimmen, Körper werden wollen und als solche an Land gehen. Nach kurzem, aufgeregtem und freudigem Erforschen dieses Körpers setzt die Begegnung mit einem Ritter dieser Freiheit jedoch ein Ende. Der einst unbeschriebene Körper wird angesichts der binären Norm zugerichtet, unterdrückt, eingeschränkt. Die Großmeere werden als Hexen verbrannt – und vermehren sich dennoch unendlich weiter. Ihre Körper werden zu Schatullen der Wut, der Gewalt, des Traumas und der Scham. Und dieses Erbe schreibt sich in jedem neuen Körper fort. Aber die Großmeere entwickelten auch Strategien, um mit der Welt umzugehen, die sich nicht um sie kümmert: Sie weben Netze zwischen sich, um einander zu halten.

Die Angst nach der Europawahl

Besonders eindrucksvoll wird das Stück, als die Großmeere von den Gefühlen erzählen, die sie in unsere Körper eingeschrieben haben: Überforderungen im Alltag, das peinliche Berührtsein, die Verletzlichkeit. Eine der Großmeere, die von Kim gespielt wird, verlässt die Bühne, drängt sich an den sitzenden Zuschauer:innen vobei und stellt sich mitten ins Publikum, um von der Angst vor Angriffen zu erzählen, die sie jedes Mal spürt, wenn sie rausgeht. Vor allem jetzt, wenige Tage nach der Europawahl.

Und sie fragt ganz direkt einen Zuschauer, ob er ihr helfen würde, wenn er sähe, dass sie angegriffen wird. Er bejaht. Und irgendwie fühlt sich die Begegnung der beiden – der mein Körper erst angespannt folgt, als wäre er selbst der Frage ausgesetzt – sehr menschlich an. Die Großmeer will sich mit einem Kuss bedanken, der von Hand zu Hand durch die Reihen wandert. Und als der Zuschauer sagt: „Du hättest auch herkommen können“, steigt sie kurzerhand über die Sitze und die beiden umarmen sich. Die Großmeere bringen neben der Scham und der unterdrückten Wut auch die Zartheit in die Welt, hatte eine von ihnen kurz zuvor auf der Bühne gesagt.

An diesem Abend fühle ich mich, als wäre auch ein Teil von mir auf der Bühne, der zwischen den Großmeeren in ihren bunten und glitzernden Kostümen hin- und hergereicht wird und sich plötzlich als Teil des Ganzen fühlt.

Den Schreibkörper, der vorhin noch auf der Probebühne gelegen und sich dann in die achte Reihe auf Platz 23 gesetzt hatte, habe ich abgestreift.

Und mit ihm die schützende Distanz.