Gretchen deconstructed von Marie Eisenmann
Der Pudel fehlt, denke ich mir bei Mephistos erstem Auftritt.
Ein paar Tage vor der Berlin-Premiere des Stücks Doktormutter Faust von Fatma Aydemir war auf dem Innenhof des Deutschen Theaters ein schwarzer Pudel herumstolziert. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeilief, stellte ich mir vor, dass er sich auf seinen Auftritt am Samstag vorbereitete. Und dann war gar kein Pudel auf der Bühne.
Auch sonst ist das Bühnenpersonal ein anderes, als man es aus Goethes Faust kennt – Klassiker der Klassiker und Schullektüre der Schullektüren. Dr. Heinrich Faust wird zu Dr. Margarete Faust, Professorin für Gender Studies; unter der neuen rechten Regierung jedoch keine angesehene Gelehrte mehr, sondern Schwurblerin, Ideologin, die Studentinnen Abtreibungen im Ausland finanziert, weil sie in Deutschland verboten wurden. Mephisto, genderfluid, ist eher Hedonist:in als Vertreter des Bösen, denn Gott ist tot und das Böse damit überall. Aber wer ist eigentlich Gretchen?
Ist Abschaffen die Lösung?
„Gretchen ist kein Mensch, den ich retten muss, Gretchen ist eine Figur, die ich abschaffen muss, damit wir alle frei sind“, sagt die Dichterin in der ersten Szene des Stücks. Eine Metaszene, in der verhandelt wird, wie man den 200 Jahre alten Faust zeitgemäß auf die Bühne bekommen soll. Denn ist Faust aus heutiger Sicht nicht einfach Vergewaltiger und das Gretchen – überhaupt dieser neutrale Artikel – gefangen in seiner Opferrolle? Aber Gretchen einfach abzuschaffen, geht aus Sicht der Theaterdirektorin wirklich gar nicht.
Im Nachgespräch erzählen Fatma Aydemir und Selen Kara, die Regisseurin des Stücks und Intendantin des Theater Essen, dass die erste Szene angelehnt sei an ihre Gespräche über eine Neuschreibung des Fauststoffes. Fatma Aydemir ist von Selen Kara gefragt worden, ob sie für den Spielzeitauftakt des Theater Essen mit dem Motto „Neues Deutsches Theater – Under Construction“ einen deutschen Klassiker ihrer Wahl überschreiben wolle. Und Aydemir wählt Faust. Wie sie sagt, ganz ohne Ehrfurcht vor Nationaldichter und Universalgenie Goethe.
Uneindeutige Machtstrukturen
Beeindruckend ist dabei, dass es ihr gelingt, ein feministisches Stück zu schreiben, das sich nicht an der Frauenfeindlichkeit des Originalstoffes abarbeitet, sondern die Machtdynamik zwischen Faust und Gretchen herauskristallisiert und sie in die Gegenwart übersetzt. Denn Fausts Verführung von Gretchen heute als Machtmissbrauch einzuordnen, wäre offensichtlich. Wie also lässt sich die Uneindeutigkeit von Macht, die sich nicht immer über eine binäre Täter-Opfer-Struktur darstellt, ins Heute übertragen?
Bis kurz vor Ende des Stücks meine ich in der Figur des Karims das Gretchen zu erkennen. Karim ist Student und Bewunderer von Margarete Faust. Er will bei ihr promovieren, muss aber auch eine Promotionsstelle finden, um seinen Aufenthaltstitel in Deutschland nicht zu gefährden. Und Faust verliebt sich in den viel jüngeren Karim. Einerseits weiß sie als Feministin, dass sie sich Karim gegenüber in einer Machtsituation befindet, andererseits gibt sie sich – angestachelt von Mephisto – ihrem Begehren hin.
Und irgendwann wird mir klar, dass es gar nicht so einfach ist, die Grenze zwischen Täter:in und Opfer zu ziehen. Denn auch Karim bewegt sich auf seine Doktormutter zu, lässt sich auf sie ein. Gretchen, deconstructed, steckt in allen Figuren. Fatma Aydemir bringt die Grauzone auf die blau gestrichene Bühne. „Macht ist komplizierter“, sagt schon die Dichterin in der Eingangsszene des Stückes.
Kluge Neufassung
Fatma Aydemirs Doktormutter Faust ist trotz schwerer Themen, Machtkritik, Dekonstruktion und, naja, der Vorlage leichtfüßig und lustig. Etwa wenn die Gretchenfrage „Wie hast du’s mit der Religion“ unpassend übergriffig von Margarete Faust gestellt wird, als sie sich mit Karim spät nachts in ihrem Büro betrinken will. Und dieser aber sagt, er habe noch nie Alkohol probiert. In solchen Momenten wird Fatma Aydemirs fehlende Ehrfurcht deutlich, der so eine mutige und kluge Neufassung gelingt, die dennoch Goethes Sprachgewalt durchblitzen lässt.
Faust feministisch erzählt, fehlte in meiner Schulzeit noch. Aber vielleicht wandert Fatma Aydemirs Stück irgendwann als gelbes Reclamheft von der Bühne in die Schulranzen der Nation.