Ein Theatererlebnis mit fast allen Sinnen von Violetta Zwick

Dieser Theaterabend ist anders als alle, die ich bisher erlebt habe.

Wenn bei jedem anderen Abend das Licht im Zuschauerraum langsam aus- und das auf der Bühne angeht, hüllt sich hier der ganze Raum der Probebühne, in dem wir auf einzelnen, im Kreis angeordneten Stühlen sitzen, in schwarze Dunkelheit. Solche Dunkelheit, an die sich die Augen nicht gewöhnen, in der man keine Umrisse der Zuschauer:innen sieht, kein Lichtstrahl einfällt, kein Notausgangsschild leuchtet, kein Technikpult blinkt – nichts. Absolutes Nichts. Nur ein einziges Gesicht sehen wir am Anfang und am Ende der Vorstellung: Gül Pridat. Sie führt uns musikalisch durch die gesamte Vorstellung von Société Anonyme und beruhigt uns direkt: „Ihr braucht keine Angst zu haben, ich passe auf euch auf. Ich kenne mich aus in der Dunkelheit“. Gül ist seit ihrer Geburt blind. Grund dafür ist ein Gendefekt – aufgrund von Inzest, erzählt sie uns. Die nächsten zwei Stunden nimmt sie uns – mit in ihre Wahrnehmungs-Welt.

Nur sicher in der Anonymität

Die neun Menschen, die nun im geschützten Raum über die Lautsprecher ihre Geschichten mit uns teilen, brauchen die Anonymität der Dunkelheit, um über Themen zu sprechen, die nicht ans Licht kommen dürfen. Stimme 1 erzählt uns von den Stimmen in ihrem Kopf, ihrer Schizophrenie und der Angst, dass sie durch diese ihren Job als Anwältin verlieren könnte. Stimme 2 erzählt uns von seiner Schwarzarbeit am Hamburger Hafen, sein Leben in Deutschland ohne Papiere, Pass oder Aufenthaltsgenehmigung. Stimme 3 erzählt uns von dem sexuellen Missbrauch, den er als fünfjähriges Kind erfuhr, dass er danach nie mehr gesehen werden wollte und dass seine Familie immer noch nichts davon weiß. Stimme 4 gibt uns einen kleinen Crashkurs in Steuerrecht. Stimme 5 erzählt von ihrem großen Gerechtigkeitssinn, von der Antifa, vom schwarzen Block und wie sie im letzten Jahr das erste Mal verhaftet wurde. Stimme 6 erzählt uns von ihrer Arbeit bei der Samenspende, wie sie bei der Zeugung von 500 Kindern geholfen hat. Stimme 7 erzählt uns von der Entdeckung seiner Sexualität in Darkrooms, von den Körpern, die in der Dunkelheit zu einem werden. Stimme 8 erzählt uns von seiner Arbeit als Priester und wie es ist, jemandem die Beichte abzunehmen. Stimme 9 erzählt uns von seiner Religion Scientology, von den Drohungen gegenüber seiner Familie, von seiner ständigen Angst.

Das sind also die Tabu-Themen, die im Dunkeln bleiben müssen: psychische Erkrankungen, Migration, Missbrauch, Finanzen, politischer Aktivismus, Kinderwunsch, Sexualität und Religion – Themen, bei denen sich Menschen nicht sicher fühlen, nicht sicher sind, wenn sie ihre Geschichte erzählen. Ob sich das jemals ändert, frage ich mich. Ob diese Menschen einmal auf der Bühne stehen könnten und dort ihre tiefsten Geheimnisse mit uns teilen?

Fragile Art der Einsamkeit

Noch muss uns für dieses Erlebnis ein Sinn geraubt werden. Und doch ist es das sensorischste Theatererlebnis, das ich je hatte. Denn wir hören, fühlen und riechen umso mehr. Immer wieder werden alle verbleibenden Sinne angesprochen. Stimme 1 summt mit uns eine Melodie, Stimme 2 hat für uns eine Süßigkeit aus Marokko mitgebracht, Stimme 3 bittet uns, mit Fächern die Luft in Bewegung zu bringen, Stimme 4 zeigt uns mit einem kleinen Spiel, was soziale Ungleichheit bedeutet, bei Stimme 5 wird die Demo-Atmosphäre durch Tränengas-Geruch greifbar, Stimme 6 bittet uns, Luftballons aufzublasen und durch den Raum zu bewegen, Stimme 7 ermuntert uns, unseren Körper zu ertasten und die Schuhe auszuziehen, Stimme 8 bietet uns an, uns ganz in Beichte-Manier hinzuknien, und Stimme 9 lässt sein Parfüm verteilen, damit wir ihn zumindest riechen können.

Trotz der vielen Bewegungen und der Aufgaben, die wir bekommen, ist die Ruhe im Publikum außergewöhnlich. Ich selbst ertappe mich dabei, wie ich versuche, ganz still zu sitzen, kein Geräusch von mir zu geben. Die Dunkelheit und die Illusion der Einsamkeit nicht zu zerstören. Es herrscht eine enorme Spannung im Raum, eine Aufregung, eine Erwartungshaltung, weil niemand weiß, was um einen herum passiert, und eine absolute Aufmerksamkeit. Man hört den Stimmen bedingungslos zu, da es keine visuellen Ablenkungen gibt.

Die Dunkelheit, die zuerst verunsichernd, ja sogar beängstigend wirkt, wird immer mehr zu einem Schutzraum, in dem ich mich wohl und auf eine gute Art allein fühle. So sicher, dass ich selbst meine Stimme erheben würde, um etwas zu teilen, fühle ich mich aber nicht – und da scheint es den anderen Zuschauer:innen ähnlich zu gehen. Als Stimme 8 uns fragt, ob auch wir diesen Raum für eine Beichte nutzen wollen, bleibt es still. Als das Licht langsam wieder angeht, bin ich fast überrascht, dass um mich herum Menschen sitzen, mit denen ich dieses Erlebnis geteilt habe. Es fühlt sich so persönlich an, so fragil, als hätte ich allein in diesem Raum gesessen.