Schalalala. Spiel mir was vor, noch ein Tor! Bitte? von Moritz Reichardt
Morgen ist es soweit: Endlich startet die Europameisterschaft!
Hier! In Deutschland!
Endlich dürfen die Fahnen wieder geschwenkt werden!
Endlich wieder Grillparties mit Fernseher im Garten!
Endlich wieder zusammen singen!
Endlich wieder Laola-Welle in der Bahn!
Endlich scheint die Sonne wieder!
Endlich fühlen wir wieder etwas! Endlich fühlen wir uns wieder!
Endlich dürfen wir wieder weinen! Also, natürlich nur, wenn wir gegen die Italiener rausfliegen, weil die sind unfair!
Endlich sind wir wieder Wir! Endlich sind wir wieder wer! Und dann auch noch das: Die beiden Herren von Real Madrid sind hier! Einen Tag vor dem Eröffnungsspiel in München! Das muss Fanliebe sein.
Deutschlandtrikots vom Lidl
Ein ganzes Theater haben sie gemietet. Wow. Unser Deutsches Theater! Das können nur unsere Galaktischen! Unsere Tonis! Unsere Gewinnerligagewinner! Das können nur unser Rüdiger Toni und der Kroos Toni sein, der auch unserer ist, unser Wiederauferstandener!
Natürlich lasse ich mir das nicht entgehen. Die Karte habe ich mir schon vor Tagen geholt, ein Schnäppchen im Vergleich zu den Tickets für die Spiele. Außerdem habe ich mir bei Lidl schnell noch ein 10er-Pack Deutschlandtrikots besorgt und eine Ausrede überlegt, warum ich zehn signierte Trikots brauche (bin aus Hamburg hergefahren und habe meinen Kumpels im ICE gegen zehn Dosenbier, zehn Unterschriften versprochen – ich verkaufe die nicht und werde nicht reich damit, versprochen!). Das ist ja ein Theater, da darf man ja lügen.
Voll Vorfreude fahre ich los, verlaufe mich in den Friedrichstadtpalast, auch schön, der leuchtet so, und entdecke dann hinter einem Bunker versteckt die Eventlocation für den Fantreff: das Deutsche Theater.
Freudentränen im Spiegelfoyer
Draußen gibt es Bier und Wurst, wie sich das gehört. Seltsam gelassen sind die Leute hier, und niemand trägt ein Trikot. Das ganze kommt mir Spanisch vor. Anscheinend hat außer mir kaum jemand von diesem geheimen Meet and Greet erfahren.
Leicht angesäuselt wanke ich auf das herrschaftliche Gebäude, das mich ehrlich gesagt etwas einschüchtert, zu, falle fast über die Stufen, vor denen nicht gewarnt wird, kann mich aber gerade noch rechtzeitig mit einer Pirouette auffangen. Hat niemand gesehen, glaube ich.
Zwei Securities in dunkler Kleidung scannen meine Karte. Dahinter eröffnet sich mir ein Saal voller Spiegel. Ich betrachte meine rote Nase, meine Augen sind feucht, sie spiegeln sich – also sie spiegeln sich selbst in sich und dann über den Spiegel wieder bis in die Unendlichkeit und so weiter. Wow. Eine Träne läuft über meine Wange.
Höfliche Helden
Eine Klingel läutet, ich renne auf meinen Platz, dribble den Rest des Publikums in Gedanken aus. Dann geht es los. Endlich! Es wird dunkel. Wow. Eine richtige Show!
Lärm ertönt. Das Licht geht wieder an und sie sitzen da, Toni und Toni. Hinter ihnen raucht eine Eistonne. Sie sehen irgendwie anders aus als im Fernseher. Irgendetwas ist anders heute. Etwas Unglaubliches geschieht: Die beiden Galaktischen, die beiden Helden mit der Welt am Fuß, die beiden Championsleaguechampions, die beiden Superstars, sie siezen sich. Wow! Eine beeindruckende Höflichkeit. Trotzdem bleiben sie nahbar, persönlich, Menschen wie du und ich.
Toni und Toni nehmen uns mit in ihre Geschichte und erzählen von ihrem ersten Kennenlernen – in einem Wald war das. Mich beschleicht das Gefühl, dass die beiden sich auch abseits des Platzes schon immer blind verstanden haben müssen, wie zwei Seelenverwandte, die sich jeden Wunsch von den Lippen ablesen können. Zärtlich sind sie – miteinander und mit der Welt, wie mit dem Ball am Fuß. Beide eint die Sehnsucht nach Ruhe, nach ruhigem Gehen, nach der Stille, sagen sie, beide haben den Blick für das Schöne. Die Schönheit des anderen, wie schön es ist, dass die Eltern immer viel zu nah sind bei dem einen, oder wie schön Weihnachten alleine ist, auch wenn die Eltern tot sind, bei dem anderen Toni. Die Schönheit darin stolz zu sein auf seine Erfolge, die Schönheit des Tores, das einer gestern geschossen hat, die Schönheit des Drachen des anderen.
Oh, wie schön!
Sie tasten sich ab, wärmen sich die Ohren, berühren sich, öffnen sich zaghaft dem Gegenüber und dem Publikum, uns Fans.
„Ich wollte Ihnen noch ein Kompliment machen.“
„Sie haben so schöne Augen. Vor allem wenn Sie mich sehen.“
„Sie haben Recht, ich sehe Sie.“
Wow.
Sie verbringen Weihnachten zusammen, achten aufeinander, zeigen, dass sie Menschen sind, voll Liebe, mit Familien und der Mutter, die immer etwas zu viel ist, bis sie stirbt. Eine Mutter, von der der andere immer nur Positives gehört hat, natürlich immer nur Positives.
Ich lasse mich treiben von der Positivity, von dem sexy Drag-Bananenbrot, den wunderschönen Trainingsanzügen und schmelze dahin in Freundlichkeit: „Entschuldigung, ich wollte sie wirklich nicht unter Druck setzen“. Oh wie ist das schön, sowas hat man lange nicht gesehen, so schön.
Dahinter lauert der Abgrund
Ich wundere mich nicht, dass kaum über Fußball gesprochen wird. Auch Sergio Ramos kommt zur Show, hilft den Alltag der beiden zu illustrieren. Er sagt wenig. Erst später am Abend, bei der Pressekonferenz, erzählt er von seinem Urlaub in Griechenland. Er war an der Akropolis. Irgendwie mag ich selbst ihn an diesem Abend.
Dann geht das Licht aus. Ich gehe nachhause. Auf dem Hof des Deutschen Theaters schnappe ich noch ein paar Expertenfakten zu dem Werdegang Götzes und Moukokos sowie deren Umgang mit Druck auf, dann setze ich mich in die U-Bahn.
Zwei bettelnde Menschen grüßen sich auf dem Gang. „Kopf hoch, Mann!“.
Schön.
Ich reiche beiden ein Lidl-Deutschlandtrikot. Sie wundern sich und stecken es wortlos ein.
Ich schlendere heim. Die Straße ist dunkel und leer. Kurz beschleicht mich die Ahnung, dass hinter allem ein Abgrund steckt, selbst hinter der schönsten Liebesgeschichte der besten Fußballer.
Träume von schwitzenden Männern
Ich renne, in Gedanken dribbelnd, in meine Wohnung, lege die acht unsignierten Trikots unter mein Kopfkissen und schließe die Augen. In meinem Kopf hallen die Tonis:
„Was treibt dich an?“
„Die ewige Angst vorm Tod… und Pokale!“
Und Sergio Ramos weint am Fuße der Akropolis: „Wusstet ihr, dass wir alle sterben?“
„Manchmal gibt es auch einfach nicht die richtigen Worte. Wir suchen sie und suchen sie und können sie nicht finden.“
Um mich zu beruhigen denke ich an Fußball. Ich denke daran, wie sehr ich ihn liebe. Wie ich spielend mit anderen Männern schweigen kann und es sich besser als reden anfühlt, ohne Worte zusammen zu sein, die Vergänglichkeit von allem zu vergessen, weil die Bewegung für uns spricht und wir in ihr sind. Ich weine mich in den Schlaf. Ganz ohne Italien. Träume von schwitzenden Männern, die sich küssen. Es tut gut.
Morgen gibt’s dann wirklich Fußball!
Endlich!