Die größte Kraft ist die Neugier von Violetta Zwick

„Welche Geschichten erzählen wir über unsere Welt, und über uns, die wir sie bewohnen? Wie können Geschichten dabei helfen, die Risse zu begreifen, die sich durch unsere Gegenwart ziehen?“ Mit diesen Fragen beginnt das Editorial von Intendantin Iris Laufenberg, im Festivalguide der Autor:innen-Theatertage 2024.

Welche Geschichten wurden also erzählt, welche Risse geflickt – und wo sind Zusammenhänge zu erkennen?

Stimmen, die gehört werden müssen

Alle Stücke, die ich auf diesem Festival genießen durfte, haben vor allem Eines gemeinsam: Sie zeigen gesellschaftliche Missstände auf. Sie geben Menschen eine Stimme, die gehört werden muss. Sie gucken dahin, wo das Theaterpublikum meist kaum Einblick hat. Oder wie es in Société Anonyme heißt: „Theater als Abbild um Probleme anzusprechen, die nirgendwo anders Raum finden“. Sei es die Tesla-Mitarbeiterin und der Paketbote in Als die Götter Menschen waren, die Bewohnerinnen des Frauenhauses in Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt, die Geister der Vergangenheit in Wir werden diese Nacht nicht sterben, die Großmeere (schweizerdeutsch für Großmütter) in Blutstück oder die neun anonymen Stimmen in Société Anonyme.

Theater fungiert bei diesem Festival als Sprachrohr, als Vermittler, als Scheinwerfer. Immer wieder merke ich bei meinen Publikumsumfragen nach den Vorstellungen, wie Menschen mit etwas in Berührung gekommen sind, was sie vorher nicht oder kaum kannten, was sie nicht wussten, was sie berührt und verunsichert, erschreckt oder beeindruckt hat. Und immer versuchen sie sich selbst damit in ein Verhältnis zu setzen, suchen ihre Meinung, ihre Berührung damit. „Die größte Kraft ist die Neugier“, heißt es in Blutstück. Sie lockt die Menschen ins Theater und ermöglicht den Stücken Denkprozesse anzustoßen und Selbstreflektion zu provozieren.

Zuhören, berührt werden – und dann?

Und dann? Was bewirkt das alles? Das Einander-Zuhören?

Verständnis vor allem. Vielleicht begegnen wir unserem:unserer Amazon-Lieferant:in jetzt anders (oder gar nicht mehr!). Vielleicht fragen wir nach, wenn unsere Kollegin blaue Flecken hat. Vielleicht besuchen wir den jüdischen Friedhof und versuchen unseren Ahnen zuzuhören. Als Kim de l’Horizon in Blutstück Zuschauer Achim fragt ob er aufstehen würde, wenn Kim angegriffen werden würde, antwortet Achim zumindest mit einem entschiedenen JA!

Die Autor:innenTheaterTage 2024 gingen in den Dialog, präsentierten einen „aktivistische[n] Jahrgang mit dokumentarischer Tendenz“ (Iris Laufenberg), der einen Austausch zwischen Autor:innen und Publikum, zwischen Bühne und Gesellschaft und auch zwischen den Theaterhäusern geschaffen hat.

Eine ältere Dame sagt mir nach der Vorstellung: „Wir wollen ja nicht immer nur ferne Geschichten, sondern etwas, wo wir unsere eigenen Haltung auch überprüfen können. Und das macht das Deutsche Theater sehr innovativ!“