
4.48 Psychose
von Sarah Kane
Deutsch von Durs Grünbein
um 4 Uhr 48
der Glücksmoment
wenn die Klarheit vorbeischaut
warme Dunkelheit
die mir die Augen tränkt
"Wem ich nie begegnete, das bin ich", schreibt Sarah Kane in ihrem fünften und letzten Stück, diesem finalen Blick auf das Leben als Ganzes. Sie komponiert ein gleichermaßen assoziatives wie dissoziatives Poem – ein feinfühliges Geflecht aus Gedanken, Stimmen, Zahlen und Dialogen. Es ist ein wütender Zustand zwischen Bei-Sich- und Außer-Sich-Sein, zwischen Norm und Krankheit, Form und Freiheit, Licht und Schmerz. Der Titel verweist dabei auf jene Uhrzeit, in der beide Pole ineinander fallen. In seiner ersten Arbeit für das Deutsche Theater Berlin begibt sich Regisseur Ulrich Rasche mit diesem schonungslos offenen Text in die Grenzregionen von Psyche und Physis. Auf der Grundlage der Frage nach dem, was das Bewusstsein ist, geht er dem vergeblichen Versuch des Menschen nach, sein komplettes Ich zu finden und sein "echtes Selbst zu berühren".
Luke öffnet sich
Starres Licht
die Zerreißung beginnt
Ich weiß nicht wo ich noch suchen soll
um 4 Uhr 48
der Glücksmoment
wenn die Klarheit vorbeischaut
warme Dunkelheit
die mir die Augen tränkt
"Wem ich nie begegnete, das bin ich", schreibt Sarah Kane in ihrem fünften und letzten Stück, diesem finalen Blick auf das Leben als Ganzes. Sie komponiert ein gleichermaßen assoziatives wie dissoziatives Poem – ein feinfühliges Geflecht aus Gedanken, Stimmen, Zahlen und Dialogen. Es ist ein wütender Zustand zwischen Bei-Sich- und Außer-Sich-Sein, zwischen Norm und Krankheit, Form und Freiheit, Licht und Schmerz. Der Titel verweist dabei auf jene Uhrzeit, in der beide Pole ineinander fallen. In seiner ersten Arbeit für das Deutsche Theater Berlin begibt sich Regisseur Ulrich Rasche mit diesem schonungslos offenen Text in die Grenzregionen von Psyche und Physis. Auf der Grundlage der Frage nach dem, was das Bewusstsein ist, geht er dem vergeblichen Versuch des Menschen nach, sein komplettes Ich zu finden und sein "echtes Selbst zu berühren".
Luke öffnet sich
Starres Licht
die Zerreißung beginnt
Ich weiß nicht wo ich noch suchen soll
Hinweis: 4.48 Psychose war das letzte Stück der Dramatikerin Sarah Kane, die sich mit nur 28 Jahren das Leben nahm. In dem Stück verarbeitet sie schonungslos ihre eigene Depression sowie ihre Klinikerlebnisse. Wenn Sie selbst oder eine Ihnen nahestehende Person von Depressionen oder Suizidgedanken betroffen sind, kontaktieren Sie bitte die Telefon-Seelsorge: 0800 111 0 111. Beim Berliner Krisendienst wird an neun Berliner Standorten kostenlos geholfen – 24 Stunden täglich, auf Wunsch anonym: www.berliner-krisendienst.de. Hilfe bekommt man auch bei der Deutschen Depressionshilfe oder beim Netzwerk Suizidprävention Berlin.
Regie / Bühne Ulrich Rasche
Bühne Franz Dittrich
Komposition und Musikalische Leitung Nico van Wersch
Chorleitung Toni Jessen
Kostüme Clemens Leander
Video und Live-Kamera Florian Seufert
Licht Cornelia Gloth
Ton Marcel Braun, Martin Person
Dramaturgie David Heiligers
Premiere
17. Januar 2020
Deutsches Theater
17. Januar 2020
Deutsches Theater
Elias Arens

Katja Bürkle

Thorsten Hierse

Toni Jessen

Jürgen Lehmann

Kathleen Morgeneyer

Justus Pfankuch

Linda Pöppel

Yannik Stöbener
Carsten BrockerLive-Musik

Katelyn Rose KingLive-Musik

Špela Mastnak (Schlagwerk)Live-Musik
Thomsen MerkelLive-Musik

Elias Arens, Katja Bürkle, Thorsten Hierse, Toni Jessen, Jürgen Lehmann, Kathleen Morgeneyer, Justus Pfankuch, Linda Pöppel, Yannik Stöbener
Live-Musik
Außerdem im Spielplan
PREMIERE
Künstlerische Leitung: Sofie Hüsler, Kristina Stang
Im Anschluss Nachgespräch mit Nils Mohl, Autor von Henny & Ponger. Moderation: Annette Wostrak von LesArt
Anschließend: Premierenparty in der Bar
Anschließend: Premierenparty in der Bar
Box
19.00
Ausverkauft
Evtl. Restkarten an der Abendkasse
Evtl. Restkarten an der Abendkasse
VORSTELLUNGSÄNDERUNG
Regie: Hanna Rudolph
Aufgrund eines Krankheitsfalls im Ensemble muss die heutige Vorstellung von Liebe, einfach außerirdisch von René Pollesch (Regie: René Pollesch) leider entfallen. Stattdessen zeigen wir Tagebuch eines Wahnsinnigen von Nikolai Gogol (Regie: Hanna Rudolph). Bereits gekaufte Karten für Liebe, einfach außerirdischkönnen Sie ab sofort umbuchen oder innerhalb von 14 Tagen an der Theaterkasse zurückgeben.
DT Bühne.
20:00 - 21.15
"4.48 Psychose" klingt im Deutschen Theater nicht nur überraschend zeitgenössisch, ja geradezu zeitdiagnostisch.
Der Regisseur verteilt den Text auf drei Schauspielerinnen und sechs Schauspieler, die jeweils überdurchschnittlich viele singuläre Sprechanteile haben, von denen man einige noch nie so großartig gesehen hat wie hier.
Es sind die kürzesten 170 Minuten seit langem im Theater, was über das Schauspiel hinaus vor allem den Kompositionen Nico van Werschs und den außergewöhnlichen Live-Musikern zu verdanken ist.
Ein wirklich großer, maßstabsetzender Abend!
Und herausgekommen ist schließlich – das lässt sich ohne Wenn und Aber sagen – auch einer der größten Abende seit langem. Möglicherweise der klügste und genaueste, den Ulrich Rasche bis dato inszeniert hat [...]
"4.48 Psychose" klingt im Deutschen Theater nicht nur überraschend zeitgenössisch, ja geradezu zeitdiagnostisch.
Der Regisseur verteilt den Text auf drei Schauspielerinnen und sechs Schauspieler, die jeweils überdurchschnittlich viele singuläre Sprechanteile haben, von denen man einige noch nie so großartig gesehen hat wie hier.
Es sind die kürzesten 170 Minuten seit langem im Theater, was über das Schauspiel hinaus vor allem den Kompositionen Nico van Werschs und den außergewöhnlichen Live-Musikern zu verdanken ist.
Ein wirklich großer, maßstabsetzender Abend!
Wieder einmal marschieren die Spieler auf mehreren Laufbändern auf der Stelle - ein starkes Bild für den rasenden Stillstand, die in endlosen Wiederholungsschleifen tobenden Gedankenketten der Kranken (die Bühne hat der Regisseur gemeinsam mit Franz Dittrich entworfen). Rasche unterlegt die gesamte Aufführung mit einem lauten Soundtrack, der starke Sogkraft entwickelt […]
Die elektronisch verfremdeten Schlaginstrument-Patterns und der düster flirrende Ambient-Sound der herausragenden Livemusiker (Carsten Brocker, Katelyn King, Spela Mastnak, Thomsen Merkel) machen die Aufführung zu einer Sprechoper.
Die Inszenierung splittet Kanes Verzweiflungsprotokoll in Monologe, Dialoge, Quartette, wechselnde Chorformationen auf. Rasche gelingt damit nicht weniger, als den Text von der Pathologisierung, der verkürzenden Parallelisierung mit dem schrecklichen Tod seiner Autorin zu befreien.
Bei Rasche sind wir nicht im spätbürgerlichen Befindlichkeitstheater, sondern in den Regionen der antiken Tragödie. Ulrich Rasche inszeniert Sarah Kanes "4.48 Psychose" am Deutschen Theater Berlin chorstark auf Laufbändern. Ein erschütterndes Exerzitium.
Wieder einmal marschieren die Spieler auf mehreren Laufbändern auf der Stelle - ein starkes Bild für den rasenden Stillstand, die in endlosen Wiederholungsschleifen tobenden Gedankenketten der Kranken (die Bühne hat der Regisseur gemeinsam mit Franz Dittrich entworfen). Rasche unterlegt die gesamte Aufführung mit einem lauten Soundtrack, der starke Sogkraft entwickelt […]
Die elektronisch verfremdeten Schlaginstrument-Patterns und der düster flirrende Ambient-Sound der herausragenden Livemusiker (Carsten Brocker, Katelyn King, Spela Mastnak, Thomsen Merkel) machen die Aufführung zu einer Sprechoper.
Die Inszenierung splittet Kanes Verzweiflungsprotokoll in Monologe, Dialoge, Quartette, wechselnde Chorformationen auf. Rasche gelingt damit nicht weniger, als den Text von der Pathologisierung, der verkürzenden Parallelisierung mit dem schrecklichen Tod seiner Autorin zu befreien.
Bei Rasche sind wir nicht im spätbürgerlichen Befindlichkeitstheater, sondern in den Regionen der antiken Tragödie.
Auf vier ununterbrochen arbeitenden Laufbändern, die dazu von der Drehbühne bewegt werden und selbst fahrbar sind, halten sich die Sprechenden auf der Stelle schreitend im minutiös gesetzten Licht, lassen sich wieder ins Dunkle bewegen, wechseln Positionen, halten den Rhythmus in chorischen Passagen und ringen sich aus tiefsten Seelenschlingen den Text ab. Wort für Wort. Auch das ist ein gar nicht genug zu würdigender Akt künstlerischer Anstrengung, die keinen Zweifel am eigenen Tun und keinen Rückzug zulässt. [...]
So nah kann man dem Begreifen dieses Schmerzes - ohne selbst von ihm ergriffen und vernichtet zu werden - wohl nur im Theater kommen.
Was für ein Heldenmut ist für diese Seelenausreißung bei lebendigem Leib, für einen solchen Opfergang nötig. Aber auch was für eine finstere Sicherheit [...] Und mit ebensolcher Sicherheit ästhetisiert Rasche diesen Schrei. [...]
Auf vier ununterbrochen arbeitenden Laufbändern, die dazu von der Drehbühne bewegt werden und selbst fahrbar sind, halten sich die Sprechenden auf der Stelle schreitend im minutiös gesetzten Licht, lassen sich wieder ins Dunkle bewegen, wechseln Positionen, halten den Rhythmus in chorischen Passagen und ringen sich aus tiefsten Seelenschlingen den Text ab. Wort für Wort. Auch das ist ein gar nicht genug zu würdigender Akt künstlerischer Anstrengung, die keinen Zweifel am eigenen Tun und keinen Rückzug zulässt. [...]
So nah kann man dem Begreifen dieses Schmerzes - ohne selbst von ihm ergriffen und vernichtet zu werden - wohl nur im Theater kommen.
Schön und schrecklich, unentwegt zerrend und ziehend an den Nerven, am Herz, am Hirn. [...]
Das einfach Raffinierte dieser mit heilignüchternem Ernst, mit unendlicher Empathie und Liebe gemachten Inszenierung, diesem Hohelied auf die Humanitas, ist Rasches Erfindung einer Art Partitur für die Sätze, Worte, Silben, Punkte. Kanes Extremismus der einen Liebe, der reinen Wahrheit in Kollision mit der rohen Wirklichkeit des stets schwer Getrübten – dieser Höllenqualen und heillose Verlassenheit auslösende Riss durchs Universum, dem die Autorin nicht gewachsen war, hier wird er zum bitteren, schockierenden, provozierenden Erlebnis.
Ein quälender, ein faszinierender Abend. [...] Diese geradezu körperlich das Publikum packende Tonsetzung ist ein Meisterwerk. Es entspricht dem so schmerzlichen Hin und Her, Auf und Ab zwischen Bei-sich- und Außer-sich-Sein der Kaneschen Selbstanalyse. Es gleicht einem Gefühlskraftwerk. [...]
Schön und schrecklich, unentwegt zerrend und ziehend an den Nerven, am Herz, am Hirn. [...]
Das einfach Raffinierte dieser mit heilignüchternem Ernst, mit unendlicher Empathie und Liebe gemachten Inszenierung, diesem Hohelied auf die Humanitas, ist Rasches Erfindung einer Art Partitur für die Sätze, Worte, Silben, Punkte. Kanes Extremismus der einen Liebe, der reinen Wahrheit in Kollision mit der rohen Wirklichkeit des stets schwer Getrübten – dieser Höllenqualen und heillose Verlassenheit auslösende Riss durchs Universum, dem die Autorin nicht gewachsen war, hier wird er zum bitteren, schockierenden, provozierenden Erlebnis.
Rasches Zugriff ist darin so nah an Kanes weit über alles Individualpathologische hinausgehendem Text, wie man es sich klüger und genauer kaum vorstellen könnte. [...]
Federnd und dabei schmerzekstatisch wie Kathleen Morgeneyer, stolz und widerständig wie Linda Pöppel, mit letzter Lebensgalligkeit wie Katja Bürkle. Wo sonst kann man diese Ausnahmespielerinnen gerade auch durch das, was sie alles nicht tun, so eingehend beobachten, ja studieren wie hier? Rasches Theater lädt stets zur Sinnesschärfung durch Auslassung. [...]
Fast gewohnheitsmäßig bewundert man da die zu irrer Aggressivität geballten Chöre (vor allem ein präzise achttaktig gebauter Ärzte-Männerchor über die Symptome und Medikation der Patientin lässt das Blut in den Adern gefrieren) und die makellose Maschinerie mit ihren gleitenden Szenenübergängen. [...]
"Wie kann ich zur Form zurückkehren", heißt es so einmal bei Sarah Kane, "seit alles formstrenge Denken mir abgeht?" Dieser Abend kann ihr darauf keine Antwort geben. Uns aber schon.
[...] schnell wird klar, dass es ausgerechnet ein Stück ohne definierte Figuren, ohne Ort und Zeit ist, das dem Klassiker-Chirurgen Rasche die Grundlage einer seiner bisher dichtesten Theaterarbeiten bereitet. [...]
Rasches Zugriff ist darin so nah an Kanes weit über alles Individualpathologische hinausgehendem Text, wie man es sich klüger und genauer kaum vorstellen könnte. [...]
Federnd und dabei schmerzekstatisch wie Kathleen Morgeneyer, stolz und widerständig wie Linda Pöppel, mit letzter Lebensgalligkeit wie Katja Bürkle. Wo sonst kann man diese Ausnahmespielerinnen gerade auch durch das, was sie alles nicht tun, so eingehend beobachten, ja studieren wie hier? Rasches Theater lädt stets zur Sinnesschärfung durch Auslassung. [...]
Fast gewohnheitsmäßig bewundert man da die zu irrer Aggressivität geballten Chöre (vor allem ein präzise achttaktig gebauter Ärzte-Männerchor über die Symptome und Medikation der Patientin lässt das Blut in den Adern gefrieren) und die makellose Maschinerie mit ihren gleitenden Szenenübergängen. [...]
"Wie kann ich zur Form zurückkehren", heißt es so einmal bei Sarah Kane, "seit alles formstrenge Denken mir abgeht?" Dieser Abend kann ihr darauf keine Antwort geben. Uns aber schon.
In Rasches Inszenierung wird das Stück zu einer Sprechoper.
Man kann nicht mehr unterscheiden zwischen Jäger und Gejagter. Den Zuschauer in einen solchen Zwiespalt zu drängen, gehört zu den Stärken von
Rasches Inszenierung.
Das Verschwinden, die Auslöschung, um die Sarah Kanes Text "4.48 Psychose" kreist, ist hier sehr ästhetisch gefasst.
In Rasches Inszenierung wird das Stück zu einer Sprechoper.
Man kann nicht mehr unterscheiden zwischen Jäger und Gejagter. Den Zuschauer in einen solchen Zwiespalt zu drängen, gehört zu den Stärken von
Rasches Inszenierung.
Die gut zehn Minuten, in denen Bürkle sich Kanes Text so nah heranholt, dass sie sich aufreibt an ihm und fressen lässt von seinem Wahn, drehen einem das Herz um. Meisterhaft beschwört sie das Gefühl herauf, dass ihr auf dieser Welt nicht mehr zu helfen ist, kein Mittel gefunden werden kann, um ihre Wunde zu schließen
Stand bei Rasches Arbeiten bisher neben die Maschine vor allem das arbeitende Kollektiv im Zentrum, lässt er hier größeren Raum für das Spiel des Individuums. Das mag an der Stoffvorlage liegen, könnte aber auch eine grundlegende Weiterentwicklung dieses Regisseurs andeuten […]
An diesem Abend jedenfalls behauptet sich Rasche gegen das Vorurteil eines textentfremdenden Formalismus: Die Geläufigkeit des Effekts wird hier vom Scheitern der Existenz tief in den Schatten gestellt. Seine [Rasches] inzwischen verbraucht geglaubte Monumentalmetapher auf die mechanische Grausamkeit unserer Gesellschaft erlangt hier, in seiner ersten Arbeit am Deutschen Theater, noch einmal eine neue Wirkungsebene.
Die gut zehn Minuten, in denen Bürkle sich Kanes Text so nah heranholt, dass sie sich aufreibt an ihm und fressen lässt von seinem Wahn, drehen einem das Herz um. Meisterhaft beschwört sie das Gefühl herauf, dass ihr auf dieser Welt nicht mehr zu helfen ist, kein Mittel gefunden werden kann, um ihre Wunde zu schließen
Stand bei Rasches Arbeiten bisher neben die Maschine vor allem das arbeitende Kollektiv im Zentrum, lässt er hier größeren Raum für das Spiel des Individuums. Das mag an der Stoffvorlage liegen, könnte aber auch eine grundlegende Weiterentwicklung dieses Regisseurs andeuten […]
An diesem Abend jedenfalls behauptet sich Rasche gegen das Vorurteil eines textentfremdenden Formalismus: Die Geläufigkeit des Effekts wird hier vom Scheitern der Existenz tief in den Schatten gestellt.