
In Stanniolpapier
Eine verwahrloste Kindheit, der Vater ein Trinker, die Mutter abwesend, der Missbrauch durch den Freund der Familie, folgenlos, dann, irgendwann, die große Liebe mit Verbindungen ins Milieu, die nächtliche Arbeit auf der Straße, gewalttätige Freier: Es sind, beim ersten Lesen, fast klassische Stationen einer Prostituierten-Karriere, die Björn SC Deigner mit seinem Theatertext aufruft. Ein verfehltes Leben, so denkt man zunächst. Doch zugleich ist da der Ton, in dem Maria, die Protagonistin, teils erzählend, teils in szenischen Rückblenden, von ihren Erlebnissen und Erfahrungen berichtet: kühl, mitleidlos gegenüber sich selbst, sehr präzise, vollkommen unsentimental und mit einem höchst lakonischen Witz. Hier ergreift eine Frauenfigur das Wort, die ihr Leben anders beschreibt als bürgerliche Konventionen es ihr zugestehen. Und dass sich hinter dem Ausgangsmaterial von Deigners Text die tatsächlichen Erfahrungen einer realen Frau verbergen, bewahrt ihn vor dem möglichen Vorwurf, Prostitution (aus männlicher Perspektive) zu romantisieren.
In Deigners Text kehrt Maria nicht ihr Innerstes nach außen, sondern es verhält sich gewissermaßen umgekehrt: Sie betrachtet sich selbst, aus großer Distanz. Mit seiner Inszenierung sucht Sebastian Hartmann nach genau diesem Verdrängten: nach dem, was hinter einer Oberfläche bebt, was unter einer Schädeldecke verborgen ist.
Den Bewusstseinsstrom in Marias Hirn freizulegen, erfahr- und sichtbar zu machen und dabei auch eine Täterperspektive nicht aus den Augen zu verlieren, daran arbeiten die Bilder und Situationen der Inszenierung. Im Verlauf der Probenarbeit hat sich nun die Gestalt des Textes in einer Weise gewandelt, bei der es nicht mehr angemessen ist, von einer Uraufführung des Stücks In Stanniolpapier zu sprechen. Autor, Verlag, Regie und Theater haben sich so geeinigt, da die Inszenierung Erzählform und große Teile des Textes verlässt.
Hinweis: In der Inszenierung In Stanniolpapier von Sebastian Hartmann kommt es zu szenischen Darstellungen von sexualisierter Gewalt. Für Jugendliche unter 18 Jahren ist die Vorstellung daher nicht geeignet.
In Deigners Text kehrt Maria nicht ihr Innerstes nach außen, sondern es verhält sich gewissermaßen umgekehrt: Sie betrachtet sich selbst, aus großer Distanz. Mit seiner Inszenierung sucht Sebastian Hartmann nach genau diesem Verdrängten: nach dem, was hinter einer Oberfläche bebt, was unter einer Schädeldecke verborgen ist.
Den Bewusstseinsstrom in Marias Hirn freizulegen, erfahr- und sichtbar zu machen und dabei auch eine Täterperspektive nicht aus den Augen zu verlieren, daran arbeiten die Bilder und Situationen der Inszenierung. Im Verlauf der Probenarbeit hat sich nun die Gestalt des Textes in einer Weise gewandelt, bei der es nicht mehr angemessen ist, von einer Uraufführung des Stücks In Stanniolpapier zu sprechen. Autor, Verlag, Regie und Theater haben sich so geeinigt, da die Inszenierung Erzählform und große Teile des Textes verlässt.
Hinweis: In der Inszenierung In Stanniolpapier von Sebastian Hartmann kommt es zu szenischen Darstellungen von sexualisierter Gewalt. Für Jugendliche unter 18 Jahren ist die Vorstellung daher nicht geeignet.
Premiere
22. Juni 2018, Kammerspiele
22. Juni 2018, Kammerspiele
Frank Büttner

Manuel Harder

Linda Pöppel

Hartmann kehrt die Sachlichkeit der Vorlage radikal um, weil sich für ihn diese Dinge nicht anders beschreiben lassen als im Sinne einer Gesamtvernichtung von Körper und Geist, bis die äußeren Misshandlungen geradezu in die Aphasie führen. Alptraumbilder im Hartmann-typischen Industrial-Look aus Rot und Schwarz, Haut und Beton. Dafür baut er eine unentrinnbare Performance-Folterkammer mit doppelter Leinwand auf, die in ihrer Transmedialität aus Theater, Installation, Musik, Animations- und Spielfilm schwer erträglich [...] aber zu jedem Zeitpunkt faszinierend konsequent ist. Tatsächlich hat Hartmanns Version von Deigners "In Stanniolpapier" herzlich wenig mit der Vorlage zu tun – und ist dennoch (oder gerade deshalb?) ein ziemliches Ereignis. Eine krassere, zugleich produktivere Zumutung dürfte jedenfalls auf Berliner Bühnen seit dem Reinickendorf-Ausflug von Vegard Vinge und Ida Müller nicht zu sehen gewesen sein. [...]
Hartmann kehrt die Sachlichkeit der Vorlage radikal um, weil sich für ihn diese Dinge nicht anders beschreiben lassen als im Sinne einer Gesamtvernichtung von Körper und Geist, bis die äußeren Misshandlungen geradezu in die Aphasie führen. Alptraumbilder im Hartmann-typischen Industrial-Look aus Rot und Schwarz, Haut und Beton. Dafür baut er eine unentrinnbare Performance-Folterkammer mit doppelter Leinwand auf, die in ihrer Transmedialität aus Theater, Installation, Musik, Animations- und Spielfilm schwer erträglich [...] aber zu jedem Zeitpunkt faszinierend konsequent ist.
In seiner sehr konzentrierten „In Stanniolpapier“-Fassung setzt Hartmann [...] seine bekannten Stilmittel so radikal ein, wie es am DT Berlin von ihm bisher nicht zu erleben war. Bemerkenswert ist dieses Stück, das auch ins Repertoire des DT übernommen wird, vor allem, weil es in seiner brachial gegen die Wand rennenden Ästhetik Mut und Experimentierfreude beweist. In den 100 Minuten zeigt Sebastian Hartmann sein Gespür für rhythmisches, stark verdichtetes, in seiner Drastik provozierendes und herausforderndes Theater. [...]
In seiner sehr konzentrierten „In Stanniolpapier“-Fassung setzt Hartmann [...] seine bekannten Stilmittel so radikal ein, wie es am DT Berlin von ihm bisher nicht zu erleben war. Bemerkenswert ist dieses Stück, das auch ins Repertoire des DT übernommen wird, vor allem, weil es in seiner brachial gegen die Wand rennenden Ästhetik Mut und Experimentierfreude beweist.
Eine Kamera überträgt ununterbrochen von drinnen auf die Leinwand nach draußen: Schweiß, Sex, Tränen, nackte Körper, Gewalt. Anderthalb Stunden lang, dazu rhythmisches Elektro-Gewummer. Das ist bildmächtig, aber oft auch schwer zu ertragen in seiner fast pornografischen Explizitheit. Am Deutschen Theater in Berlin bleibt "In Stanniolpapier". Es geht darin um Maria, die auf ihr Leben als Prostituierte blickt. Es geht um Missbrauch, zerrüttete Familienverhältnisse, Kränkung, Gewalt. Der Text beruht auf Dokumenten einer wahren Biografie. Besonders ist daran, dass diese Frau sich nicht zuvörderst als Opfer darstellt, dass sie mit lakonischer Distanz auf ihr Leben blickt. Sebastian Hartmann scheint pure Verdrängung dahinter zu vermuten und schürft tief im vermeintlichen Unbewussten der Figur. [...]
Eine Kamera überträgt ununterbrochen von drinnen auf die Leinwand nach draußen: Schweiß, Sex, Tränen, nackte Körper, Gewalt. Anderthalb Stunden lang, dazu rhythmisches Elektro-Gewummer. Das ist bildmächtig, aber oft auch schwer zu ertragen in seiner fast pornografischen Explizitheit.
Schwarz lauern die Abgründe in den Ecken, mehr noch in den Augen. Ein Höllentrip durch die Innenwelt der Prostituierten Maria – wie durch ein Brennglas direkt auf die Schmerzpunkte konzentriert, unerträglich gewalttätig intensiv. Gespielt wird die Maria von Linda Pöppel, die sich in einen atemlos-schmerzhaften Zustand katapultiert und den über eine Stunde vierzig auf gleichbleibenden Energie-Level durchhält. Wobei gespielt hier die falsche Vokabel zu sein scheint. Das ist keine Rolle, das ist Performance, das ist Zustand, das ist schmerzhaftes Sein. Ein sich Ausliefern mit Haut und Haar. [...]
Nicht die Frau selbst, sondern ein Mann, Manuel Harder, schildert den Anfang von Marias Geschichte. Zart fast, in Täter-Opfer-Ambivalenz gefährlich uneindeutig, in Großaufnahme vor der allgegenwärtigen Kamera. [...]
Die Kamera folgt den Spielern – neben Linda Pöppel und Manuel Harder ist das noch Frank Büttner – durch das verwinkelte Innere des Bühnenkubus wie durch ein Tunnelsystem ohne Notausgänge und ohne Licht am Ende und projiziert ihre Bilder mehrfach, wiederholt, gebrochen auf die Bühnen-Haut. Wir sehen beides: die Bildermacher und die Bilder selbst und das sind oft welche, die man lieber nicht sehen möchte. [...]
Aber auch solche von geradezu erschreckender Schönheit, Momente, die sich verstörend in die Zuschauerseele fressen. Und das sind gerade nicht die Eindeutigen. Da ist der erste Tanz, ein Kampf vor der Kamera, in dem der Täter schon Täter ist, sein Opfer aber unsichtbar bleibt. [...]
Die Schemen hinter der Leinwand, Körper, die durchleuchtet vom roten Licht wie unter Röntgenstrahlen tanzen, zerfallen, sich wieder sortieren – auseinander, zueinander. Der Moment, in dem aus den rot überstrahlten, verfremdeten Bildern durch abrupten Lichtwechsel plötzlich zu realen Körper werden. [...]
Und nur eine Rolle für die Frau. Dabei hat Linda Pöppel eine so immense Kraft, eine Tiefe und eine schier wahnsinnige Energie, eine so berührende Widerständigkeit. [...]
Schonungslose Härte, letzte Konsequenz, Zumutung? Alles. Auch die Frage: Kann man eine solche Geschichte vielleicht nur genau so und nicht anders erzählen? Performance des Unsagbaren. Sebastian Hartmann macht die Autorentheatertage-Uraufführung zum fast sprachlosen Höllentrip durch eine zerstörte (Frauen)Seele – mit schonungsloser Härte, radikaler Konsequenz. [...]
Schwarz lauern die Abgründe in den Ecken, mehr noch in den Augen. Ein Höllentrip durch die Innenwelt der Prostituierten Maria – wie durch ein Brennglas direkt auf die Schmerzpunkte konzentriert, unerträglich gewalttätig intensiv. Gespielt wird die Maria von Linda Pöppel, die sich in einen atemlos-schmerzhaften Zustand katapultiert und den über eine Stunde vierzig auf gleichbleibenden Energie-Level durchhält. Wobei gespielt hier die falsche Vokabel zu sein scheint. Das ist keine Rolle, das ist Performance, das ist Zustand, das ist schmerzhaftes Sein. Ein sich Ausliefern mit Haut und Haar. [...]
Nicht die Frau selbst, sondern ein Mann, Manuel Harder, schildert den Anfang von Marias Geschichte. Zart fast, in Täter-Opfer-Ambivalenz gefährlich uneindeutig, in Großaufnahme vor der allgegenwärtigen Kamera. [...]
Die Kamera folgt den Spielern – neben Linda Pöppel und Manuel Harder ist das noch Frank Büttner – durch das verwinkelte Innere des Bühnenkubus wie durch ein Tunnelsystem ohne Notausgänge und ohne Licht am Ende und projiziert ihre Bilder mehrfach, wiederholt, gebrochen auf die Bühnen-Haut. Wir sehen beides: die Bildermacher und die Bilder selbst und das sind oft welche, die man lieber nicht sehen möchte. [...]
Aber auch solche von geradezu erschreckender Schönheit, Momente, die sich verstörend in die Zuschauerseele fressen. Und das sind gerade nicht die Eindeutigen. Da ist der erste Tanz, ein Kampf vor der Kamera, in dem der Täter schon Täter ist, sein Opfer aber unsichtbar bleibt. [...]
Die Schemen hinter der Leinwand, Körper, die durchleuchtet vom roten Licht wie unter Röntgenstrahlen tanzen, zerfallen, sich wieder sortieren – auseinander, zueinander. Der Moment, in dem aus den rot überstrahlten, verfremdeten Bildern durch abrupten Lichtwechsel plötzlich zu realen Körper werden. [...]
Und nur eine Rolle für die Frau. Dabei hat Linda Pöppel eine so immense Kraft, eine Tiefe und eine schier wahnsinnige Energie, eine so berührende Widerständigkeit. [...]
Schonungslose Härte, letzte Konsequenz, Zumutung? Alles. Auch die Frage: Kann man eine solche Geschichte vielleicht nur genau so und nicht anders erzählen?
Die Frau heißt Maria, wird hier gespielt von der starken Linda Pöppel und ist die (vermeintliche) Hauptfigur des Stücks „In Stanniolpapier“, das der Neudramatiker Björn SC Deigner aus Interviews mit einer vielfach missbrauchten, aber nach eigener Auskunft auch glücklichen Prostituierten über ihr Leben komponierte. [...]
Hat man „In Stanniolpapier“ sowohl gelesen als auch gesehen, können sich beide Arbeiten in ihrem je eigenen, radikalen Zugriff auf den Maria-Stoff behaupten. Und beide verhelfen der Stadt in genau diesem Auseinanderdriften zu einem belangvollen Theaterereignis. [...]
Hartmann besteht zu Recht auf seinem ganz anderen Maria-Verständnis, das zweifellos dicht unter der Textoberfläche steckt. Es stöhnt und schreit, bibbert und ächzt aus dem Betonbungalow auf der Kammerspielbühne [...]. Langsam dreht sich das Bühnenhaus im rot-schwarzen Dampf zu melancholisch sanften Klavierakkorden und macht in Großprojektionen an der Außenwand sichtbar, was im Innern vor sich geht. Körnig, dunkel, schemenhaft zeigen die Bilder drei Körper, die sich in einer Orgie aus Lust und Gewalt ineinander winden und abstoßen. [...]
Die Frau heißt Maria, wird hier gespielt von der starken Linda Pöppel und ist die (vermeintliche) Hauptfigur des Stücks „In Stanniolpapier“, das der Neudramatiker Björn SC Deigner aus Interviews mit einer vielfach missbrauchten, aber nach eigener Auskunft auch glücklichen Prostituierten über ihr Leben komponierte. [...]
Hat man „In Stanniolpapier“ sowohl gelesen als auch gesehen, können sich beide Arbeiten in ihrem je eigenen, radikalen Zugriff auf den Maria-Stoff behaupten. Und beide verhelfen der Stadt in genau diesem Auseinanderdriften zu einem belangvollen Theaterereignis. [...]
Hartmann besteht zu Recht auf seinem ganz anderen Maria-Verständnis, das zweifellos dicht unter der Textoberfläche steckt.
Gemessen an diesem wohltemperierten Normalzustand war in diesem Jahr richtig was los. Einer der drei zur Uraufführung ausgewählten Beiträge, Björn SC Deigners "In Stanniolpapier" entwickelte [...] ungeahnte Zankapfel-Qualitäten. [...]
Gleichermaßen steht außer Frage, dass diese Außerordentlichkeit nicht einfach textimmanent ist, sondern das Ergebnis einer hypergenauen, intelligent-radikalen Lektüre durch den Regisseur und das weit über (DT-)Durchschnitt agierende Schauspieler-Trio Linda Pöppel, Frank Büttner und Manuel Harder: im Grunde der idealtypische Fall gelingenden Theaters. [...]
Sebastian Hartmann interessiert sich nun - was sein gutes (interpretatorisch-inszenatorisches) Recht ist - für genau diesen Zusammenhang und denkt dort, wo Deigner Leerstellen und/oder seiner literarischen Figur Romantisierungsanflüge durchgehen lässt, konsequent und dialektisch zu Ende. Kurzum: Er bringt die Ambivalenzen radikal auf den Punkt, indem er sie - entromantisiert und im besten Sinne entklärt - zusammendenkt statt nebeneinander. Dass man bei dieser Weltbetrachtungsweise in Regionen vorstößt, die leider nicht kuschelig clean, dafür aber vermutlich umso zutreffender sind, liegt in der Natur der Tiefengrabung. [...]
Hartmann hat als sein eigener Bühnenbildner eine Box auf die Szene gestellt, in der sich Maria und zwei Männer - gepusht von erbarmungsfreien Techno-Beats - mit-, gegen- und aneinander in einem einzigartigen Gewaltzusammenhang abkämpfen: Man ringt, vögelt, stößt, schubst und sabbert - häufig kollektiv nackt - um Dominanz, Macht und Selbstbehauptung. Mit individuell wechselndem Erfolg und nicht ohne gelegentlich auch Erniedrigung zu genießen, um mal ein früheres Spielzeit-Motto der einstigen Castorf-Volksbühne zu zitieren. Aber ohne Ausweg. Es gibt in diesem Kasten, dessen Binnengeschehen live gefilmt und häufig auf die Außenwände projiziert wird, praktisch alles - außer Fluchtmöglichkeiten. Die einfach optimistischen Exit-Strategien, die an Deigners Texthorizont aufleuchten - zum einen die romantische Variante der Selbstermächtigung qua Jobliebe und zum anderen die aufklärerische Version durch theoretisch immer mögliche Sozial-, sprich: Familienverhältnisoptimierung -, verstellen Regisseur und Schauspieler dem Textpersonal jedenfalls nachhaltig. Sie nehmen das Prostitutionsmilieu gleichermaßen als realistisches Szenario wie als Metapher für gesellschaftliche Macht- und Ausbeutungskämpfe schlechthin. Und sind tatsächlich in der Lage, diese Kämpfe in einer Komplexität und Radikalität anzufechten, die im Theater selten sind. Das fängt bei Manuel Harder an, der in einem Intro, dass alle Schmerzgrenzen überschreitet, als "Freund der Familie" von einer Zehntelsekunde zur nächsten aus der Sugar-Daddy-Rolle in die kindlich-naive Perspektive der minderjährigen Maria fällt - und von dort zum triebgesteuerten Pädophilie-Komplex switcht. Und es hört bei Frank Büttner nicht auf, der sämtliche im Text steckenden Maskulinitätsnuancen vom penetrationswütigen Freier über den postkoital jammerläppisch vor sich hin greinenden Eckenhocker bis zu Marias zwar dominant auftretendem, letztlich aber ignorant einknickendem (Kinder-)Arzt ausreizt. Vor allem aber ist "In Stanniolpapier" natürlich der Abend Linda Pöppels. Getreu der Deigner-Textzeile "alles, was ich sagen will, eingesperrt in mir" kann man Hartmanns Inszenierung und Pöppels Spiel als eine Art Maria-stream-of-conciousness lesen, weshalb sämtliche Figuren quasi ineinander verschwimmen und Identitäten zugunsten von Strukturen herzlich sekundär bleiben. Mit "Mutter Arbeit, Vater Flasche" rängen sich vielmehr unbewältigte Kindheitsmuster in den Bewusstseinsvordergrund der Protagonistin. Schlaglichtartig, ohne vorschnelle Verarbeitungsbehauptung: unglaublich, wie Pöppel das spielt. Und im Übrigen buchstäblich atemberaubend, weil die Schauspielerin in äußerst ungemütlicher Gnadenlosigkeit Subjekt- und Objektgrenze sowie Täter/innen- und Opferperspektive verschiebt und allzu schematische Trennlinien zwischen Macht-, Selbstbehauptungs- und punktueller subkutaner Auslieferungslust aushebelt. [...] Die Lange Nacht der Autoren am Deutschen Theater Berlin trumpfte ausgerechnet mit einem Regieskandal auf [...]
Gemessen an diesem wohltemperierten Normalzustand war in diesem Jahr richtig was los. Einer der drei zur Uraufführung ausgewählten Beiträge, Björn SC Deigners "In Stanniolpapier" entwickelte [...] ungeahnte Zankapfel-Qualitäten. [...]
Gleichermaßen steht außer Frage, dass diese Außerordentlichkeit nicht einfach textimmanent ist, sondern das Ergebnis einer hypergenauen, intelligent-radikalen Lektüre durch den Regisseur und das weit über (DT-)Durchschnitt agierende Schauspieler-Trio Linda Pöppel, Frank Büttner und Manuel Harder: im Grunde der idealtypische Fall gelingenden Theaters. [...]
Sebastian Hartmann interessiert sich nun - was sein gutes (interpretatorisch-inszenatorisches) Recht ist - für genau diesen Zusammenhang und denkt dort, wo Deigner Leerstellen und/oder seiner literarischen Figur Romantisierungsanflüge durchgehen lässt, konsequent und dialektisch zu Ende. Kurzum: Er bringt die Ambivalenzen radikal auf den Punkt, indem er sie - entromantisiert und im besten Sinne entklärt - zusammendenkt statt nebeneinander. Dass man bei dieser Weltbetrachtungsweise in Regionen vorstößt, die leider nicht kuschelig clean, dafür aber vermutlich umso zutreffender sind, liegt in der Natur der Tiefengrabung. [...]
Hartmann hat als sein eigener Bühnenbildner eine Box auf die Szene gestellt, in der sich Maria und zwei Männer - gepusht von erbarmungsfreien Techno-Beats - mit-, gegen- und aneinander in einem einzigartigen Gewaltzusammenhang abkämpfen: Man ringt, vögelt, stößt, schubst und sabbert - häufig kollektiv nackt - um Dominanz, Macht und Selbstbehauptung. Mit individuell wechselndem Erfolg und nicht ohne gelegentlich auch Erniedrigung zu genießen, um mal ein früheres Spielzeit-Motto der einstigen Castorf-Volksbühne zu zitieren. Aber ohne Ausweg. Es gibt in diesem Kasten, dessen Binnengeschehen live gefilmt und häufig auf die Außenwände projiziert wird, praktisch alles - außer Fluchtmöglichkeiten. Die einfach optimistischen Exit-Strategien, die an Deigners Texthorizont aufleuchten - zum einen die romantische Variante der Selbstermächtigung qua Jobliebe und zum anderen die aufklärerische Version durch theoretisch immer mögliche Sozial-, sprich: Familienverhältnisoptimierung -, verstellen Regisseur und Schauspieler dem Textpersonal jedenfalls nachhaltig. Sie nehmen das Prostitutionsmilieu gleichermaßen als realistisches Szenario wie als Metapher für gesellschaftliche Macht- und Ausbeutungskämpfe schlechthin. Und sind tatsächlich in der Lage, diese Kämpfe in einer Komplexität und Radikalität anzufechten, die im Theater selten sind. Das fängt bei Manuel Harder an, der in einem Intro, dass alle Schmerzgrenzen überschreitet, als "Freund der Familie" von einer Zehntelsekunde zur nächsten aus der Sugar-Daddy-Rolle in die kindlich-naive Perspektive der minderjährigen Maria fällt - und von dort zum triebgesteuerten Pädophilie-Komplex switcht. Und es hört bei Frank Büttner nicht auf, der sämtliche im Text steckenden Maskulinitätsnuancen vom penetrationswütigen Freier über den postkoital jammerläppisch vor sich hin greinenden Eckenhocker bis zu Marias zwar dominant auftretendem, letztlich aber ignorant einknickendem (Kinder-)Arzt ausreizt. Vor allem aber ist "In Stanniolpapier" natürlich der Abend Linda Pöppels. Getreu der Deigner-Textzeile "alles, was ich sagen will, eingesperrt in mir" kann man Hartmanns Inszenierung und Pöppels Spiel als eine Art Maria-stream-of-conciousness lesen, weshalb sämtliche Figuren quasi ineinander verschwimmen und Identitäten zugunsten von Strukturen herzlich sekundär bleiben. Mit "Mutter Arbeit, Vater Flasche" rängen sich vielmehr unbewältigte Kindheitsmuster in den Bewusstseinsvordergrund der Protagonistin. Schlaglichtartig, ohne vorschnelle Verarbeitungsbehauptung: unglaublich, wie Pöppel das spielt. Und im Übrigen buchstäblich atemberaubend, weil die Schauspielerin in äußerst ungemütlicher Gnadenlosigkeit Subjekt- und Objektgrenze sowie Täter/innen- und Opferperspektive verschiebt und allzu schematische Trennlinien zwischen Macht-, Selbstbehauptungs- und punktueller subkutaner Auslieferungslust aushebelt. [...]