
Programmzettel Vertikale Wale
Der Schlaf ist von zahlreichen Normen durchzogen, die das Zwischenmenschliche organisieren. Wann, wie und wo geschlafen wird, ist keine individuelle Entscheidung und doch ist jede Schlafende in ihrem Schlaf ganz eigentümlich und besonders. Wie geht das? Und warum soll die Nacht nur dazu verwendet werden, sich für den Tag zu regenerieren?
In diesem Schlafraum treffen sich Leute, die einander Freundin, Chefin, Papa, Crush oder Mieter sind. Leute, die schlafen wollen, zur Erneuerung der Zellen und für frische Entscheidungsenergie. Oder die lieber wach bleiben, noch ein was zu Ende erzählen, und bloß nichts verpassen. Versunken in die Nacht begrübeln sie die Welt und einander. Schwärmen sich zu heimlichen Vergnügen oder schmieden widerständige Pläne. Es gibt Gespräche, die ergeben sich nur nachts. Na dann. Gutnacht!
Die Theaterautorin und Regisseurin Milena Michalek erarbeitet ihre Stücke stets im kollektiven Denken und engen Zusammenspiel mit ihrem Ensemble. Die Stückentwicklung Vertikale Wale erkundet in vielzähligen Alltagszenen und Beziehungskonstellationen das Phänomen und Grundbedürfnis Schlaf. Was bringt und was raubt uns den Schlaf, diese so allnächtliche wie profunde Angelegenheit
Nicht schlafen wollen
Schlafen müssen
Nicht schlafen können
Schlafen sollen
Schlafen wollen
Aber nicht schlafen
Waiting for a sleepy feeling von Lilly Busch
Alle Menschen müssen schlafen, durchschnittlich tun wir das ein Drittel unseres Lebens. Wenn wir schlafen, sind wir da, aber gleichzeitig auch nicht. Das, was unser Leben sonst bedingt, erliegt für die Dauer der Nacht ruhe: etwas wollen, leisten, schaffen. Im Schlaf erneuern sich die Zellen, wird neues Wissen und Erfahrung einsortiert. Selbst der stärkste Mensch wird im Schlaf verletzlich: Jemand muss die Nachtwache übernehmen, damit andere schlafen können. Als Schläfer:innen sind wir auf Gemeinschaft angewiesen.
Unsere Gesellschaft geht in vielen Bereichen, etwa in der Schule, von einer Normierung des Schlafs aus: Acht Stunden Schlaf sind gesund, morgens um acht sind alle topfit. Tatsächlich aber sind die Einschlafzeit und der Schlafbedarf des Menschen genetisch bedingt und ziemlich verschieden. 90 Prozent der Menschen benötigen zwischen sechs und acht Stunden Schlaf, aber es gibt auch einige gesunde Vier- oder Zehnstundenschläfer:in nen. Menschen, die Frühaufsteher:innen sind, und solche, die bevorzugt spät ins Bett gehen, sind zwei verschiedene Chronotypen, die oft auch als Lerche und Eule kategorisiert werden. Strukturell ist vieles auf Lerchen ausgerichtet, in manchen Berufen, wie dem Theater, wo die – Arbeitszeit sich oft in die Abende erstreckt, sind wieder um eindeutig Eulenfähigkeiten gefragt.
Im Rhytmus des Schlafes
In Europa war dem Historiker Roger Ekirch zufolge im Mittelalter noch ein zweiphasiger Nachtschlaf üblich: Das heißt, zwischen zwei längeren Schlafeinheiten gab es in der Mitte der Nacht gesellige Stunden, in denen Versammlung, Vergnügen oder Hausarbeit stattfand. Als Grund für das frühe Zubettgehen macht er aus, dass es noch kein elektrisches Licht gab. Eine nicht unumstrittene, aber ziemlich schöne Vorstellung von einem Schlafrhythmus.
Ruhe zu finden ist in der niemals stillstehenden und immer beleuchteten Welt nicht immer so einfach. Ungefähr sechs Millionen Menschen leiden laut der BARMER in Deutschland an Schlafstörungen, um die 32 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Einen besonderen Anstieg gibt es bei jungen Erwachsenen. Eine Sorge, eine Angst, ein unlösbarer Gedanke, das ewig erreichbare Telefon, das schlechte Gewissen, das einen unter der Bettdecke erwartet. Oder schnarchende Bettgefährt:innen, die einem rauben, was sie selbst haben. Je mehr man es will, desto weniger klappt es oft mit dem Einschlafen. Baldriantropfen, Atemübungen oder Hörbücher können helfen, auch Apps, Ratgeber und teure Kissen versprechen den optimalen Schlaf, wollen aber erst gekauft werden.
Kurz vor dem Einschlafen, im Übergangsbereich zwischen Wachheit und Schlaf, wird aber auch ein anderes Sprechen miteinander möglich als bei Tag. Ein intensiveres Fühlen und Denken, vielleicht auch eine Verschiebung der Scham.
Gut gebettet
Mit wem Leute sich Schlafräume und Betten teilen, hat eine eigene Kulturgeschichte. So wurden Bettrahmen und Lattenrost um das 12. Jahrhundert erfunden. Die meisten Menschen schliefen jedoch eher in geteilten Strohlagern, abschließbare Schlafzimmer blieben Adeligen vorbehalten – je reicher, desto prächtiger waren die Schlafmöbel. Im 15. Jahrhundert schliefen Frauen und Männer getrennt, die Mehrheit der Menschen verbrachte die Nacht mit vielen zusammen in einem Raum. Unter Ludwig XIV wurde in Europas Oberschicht im 17. Jahrhundert das Empfangen von Gästen im Bett zur Mode. Die Vorstellung des Schlafzimmers als Ort der Ein- oder Zweisamkeit entstand erst mit den bürgerlichen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Ein eigenes Bett hatten dennoch lange nur Wohlhabende, noch um die Jahrhundertwende wurden Schlafzimmer und Betten geteilt, zum Beispiel bei Schichtarbeit stundenweise an sogenannte Schlafgänger:innen vermietet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es üblich und leistbar, ein eigenes Bett zu besitzen. Heute ist das Schlafzimmer ein Raum, der in einer Wohnung eher nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen ist.
Bei Milena Michalek & Ensemble ist die Bühne eine Schlafstätte in utopischen Bettmaßen, als Rückzugsort, aber auch als Wimmelplatz von verschiedenen Leuten, Themen und Schlafkonstellationen. Das Bett vielleicht als kleinste Einheit eines Zuhauses, als Refugium, als Ort für Zärtlichkeiten, Grübeln und Konspiration. Und wenn alles durchgegrübelt ist, bleibt nicht zuletzt der kleine Trost, dass jedes Aufwachen ja doch ein kleiner Neuanfang ist
Nachtgedanken mit vielen Urherber:innen Gespräch mit Milena Michalek
Woher kam die Idee, ein Stück über Schlaf zu machen?
Ich glaube, aus einer Lust auf Schlafen? Aus einer Sehnsucht nach einem Friedensort, und danach, an etwas zu arbeiten, was mit Beruhigung zu tun hat in einer Zeit, in der man das Gefühl hat, alles steht auf dunkelorange-rot. Der Schlaf ist ideen- und philosophie geschichtlich ja eine viel bedachte Figur. Mich hat das Schlafen aber weniger als große abstrakte Kategorie interessiert, sondern zum Beispiel das Einschlafen ganz konkret. Was ist das, was jeder Mensch da einmal am Tag macht? Theresia Enzensberger hat sehr erhellend in geschrieben, wie das Einschlafen Schlafen ihrem Buch und vor allem das Aufwachen immer wieder als politische Metapher dient um beispielsweise Nationen „auf zuwecken“ und Völker „erwachen“ zu lassen. In unserem Stück verwenden wir den Schlaf nicht metaphorisch, sondern als Geschehen. Als etwas, das einfach passiert. Den Schlaf, gerade an einem traditionell der Metapher sehr zugewandten Ort wie der Theaterbühne, einfach als das zu begreifen, was er ist, finde ich extrem aufregend.
Im Stück bietet die Umgebung des Einschlafens wiederum Anlass, um über ganz Verschiedenes ins Nachdenken und Reden zu kommen: Beziehungen, Begehren, Freundschaft oder Arbeit …
Zahava hat eine sehr buchstäbliche Bühne für das Thema Schlaf gebaut: Durch die Bettenlandschaft ist man permanent im Raum des Schlafens, der Schleier des Schlafs liegt über allem drüber. Das Stück befasst sich inhaltlich nicht so sehr mit Schlaf als wissenschaftlichem Forschungsgegenstand, sondern als einer Art Körpertransformation. Was für eine Gesprächssituation entsteht, wenn man kurz vorm Einschlafen ist? Was für Gespräche werden in der Dunkelheit möglich, auf einer Matratze liegend? Was fällt durch die Müdigkeit vom Körper ab und was kommt vielleicht dazu? Schläfrig streitet es sich zum Beispiel anders. Und Geheimnisse lassen sich oft besser in die Dunkelheit flüstern, als in den Tag sagen. Sie empfinden den Schlafraum offensichtlich als Einladung sich von Körper zu Körper zu werfen.
Vertikale Wale besteht vornehmlich aus Alltagsepisoden, in denen verschiedene Figuren im Alltäg lichen auf existenzielle oder politische Fragen stoßen. Wie kommst du zu dieser Erzählweise?
Als schreibende Person interessiert mich, wie sich Gegenwart wiedergeben lässt, ohne dass man eine dramatische Zuspitzung einführt. Ich habe eine große Sehnsucht danach, mich zu konfrontieren mit dem, was in einer seltsamen Anordnung schon da ist. Ich finde interessant, was passiert, wenn man gar nicht den Anspruch hat, Sinn aus dem Theaterraum raus in die Welt zu projizieren, sondern den Vorgang, sich zusammen etwas anzuschauen, selbst schon als sinnstiftend begreift. Durch das Einlassen von Umgangssprache eine Poesie herzustellen, dadurch dass sie genau als das auf der Bühne gelten darf, in ihrer umständlichen Genauigkeit und schwammigen Schärfe. Und es stimmt: Das Stück hat weniger den Schlaf zum Thema als vielleicht sowas wie das „Nachtgespräch“. Gleichzeitig wäre jetzt wieder die Frage, ob das nicht ein und dasselbe ist. Woher weiß man schließlich, was der schlafende Körper alles so redet, man ist ja nicht dabei…?
„und dann musst du zu deiner Chefin gehen und sie fragen ob du vielleicht ausnahmsweise heute auf ihrem Sofa schlafen kannst weil dir alle anderen gekündigt haben und sie sagt klar klar kannst du das machen ausnahmsweise du müsstest mir nur einen Gefallen tun und diese kleine to-do-Liste mit den 123 Punkten wenn du die noch geschwind ERLEDIGEN KÖNNTEST
Das wär fein“
Du bist Autorin und Regisseurin, erarbeitest deine Stücke im Zusammenspiel mit dem Ensemble. Kannst Du diese Methode erläutern?
Mich interessiert, Proben als Gespräch zu begreifen. Das heißt nicht nur, dass man am Tisch sitzt und redet, sondern auch, dass wir viele Übungen gemacht haben, bei denen das Ziel war, einen Produktivitätszwang abzulegen. Das ist gar nicht mal so leicht, weil man so gewohnt ist, dass schnell etwas passieren soll, sei es ein Konflikt, die Lösung eines Konflikts oder ein besonders origineller Gedanke. Die ersten Wochen haben wir zusammen probiert, geübt, geredet, und alles hat Einfluss auf mein Schreiben genommen. Dann habe ich Texte mit auf die Probe gebracht, die vom Ensemble gelesen wurden, woraus wieder neue Gespräche entstanden sind. Der Versuch war, die schreibende Person mit der Regisseurin und mit dem Ensemble in ein Gespräch zu bringen und sich die Gedanken hin und her zu werfen. Ein Viertel der Texte hatte ich schon vor Probenbeginn geschrieben, würde ich schätzen. Der Rest ist im gemeinsamen Prozess entstanden. Oft weiß ich bei dem Text inzwischen nicht mehr, wer die Urheber:in von einem Gedanken ist, und das macht mich am allerglücklichsten, wenn das passiert.
Und was hat es mit den vertikalen Walen auf sich?
Es gibt eine Walart, die in die Vertikale geht, um zu schlafen. Damit sind die Wale im Grunde die Negativfolie zum Menschen, der zum Schlafen in die Horizontale muss. Deswegen ist es gut, mit denen ein Gespräch zu haben, im Stück. Irgendwas an dem Vorgang, sich als großer Körper in diese Senkrechte zu bringen, erzählt mir auch viel über die Schwierigkeiten beim Einschlafen, die man vielleicht auch als Mensch hat. Wegen den ganzen Sorgen zum Beispiel, oder der Ratlosigkeit. Die Sorgen und Ratlosigkeit, gemeinsam in einem Raum zu betrachten, kann, denke ich, sinnstiftend, im besten Fall sogar gemeinsamkeitsstiftend sein. Das ist Theater - Mathematik, hoffe ich.