
Programmzettel Bunbury. Ernst sein is everything!
Um ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen entfliehen und inkognito ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte – ihr wahres Ich? – ausleben zu können, führen die beiden Dandys Algernon und Jack ein Doppelleben. Algernon erfindet einen kränklichen Freund namens Bunbury, der regelmäßig auf dem Land besucht werden muss, während Jack vorgibt, sich um seinen leichtlebigen Bruder Ernst zu kümmern, um möglichst oft in die Stadt reisen zu können. Dort führt er als ebenjener Ernst ein ausschweifendes Leben, während er auf seinem Landsitz das moralisch unantastbare Vorbild für sein Mündel Cecily gibt. Diese wiederum hat es sich – ebenso wie Algernons Cousine Gwendolen, um die Jack bei seinen Besuchen in der Stadt wirbt – in den Kopf gesetzt, ausschließlich einen Mann namens Ernst zu heiraten. Als Algernon in der Rolle von Jacks vermeintlichem Bruder Ernst auf dem Landsitz auftaucht, nehmen die komischen Verwicklungen ihren Lauf.
In der rasanten Fassung der Regisseurin Claudia Bossard wird Oscar Wildes mit Sprachwitz gespickte Komödie zum queeren Theaterspaß, der im metropolitanen Society-Talk nicht nur die Sprachgrenzen zwischen Deutsch und Englisch verflüssigt, sondern auch im spielerischen Wirbelsturm Gender- und Identitätsbilder aus ihrem viktorianischen Gesellschaftskorsett befreit.
A free fall fantasy, please! von Elisabeth Tropper
„Lady Bracknell, würden Sie mir freundlicherweise erklären, wer ich bin?“, fragt Jack Worthing im dritten Akt von Bunbury, während die Handlung bereits unaufhaltsam auf ihre komödientypische Auflösung zuläuft. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten – und in diesem Moment fallen die spielerisch behauptete Fiktion und die Realität der Figur in eins: Jack ist tatsächlich – zumindest dem Namen nach – sein erfundener Bruder und Alter Ego. Jack ist Ernst. Das Spiel mit Rollen und Posen, das Postulat einer absoluten und von allen äußeren Zwängen befreiten Individualität, die Wilde ausdrücklich für sich in Anspruch nahm, läuft immer wieder auf dieselbe Frage hinaus: „Wer bin ich?“, oder vielmehr: „Wer will ich sein?“
Schon während seiner Studienzeit in Oxford hatte Wilde sich den Ruf eines begnadeten Selbstdarstellers erarbeitet, und diese Selbstinszenierung perfektionierte er in London weiter. Wilde liebte das Spiel mit Stilen und Posen und suchte das Auge der Öffentlichkeit; er provozierte die viktorianische Gesellschaft mit seinem Lebensstil, ebenso wie mit seinem moralischen und künstlerischen Selbstverständnis. Das viktorianische Zeitalter war geprägt von bürgerlicher Enge und dem moralischen Imperativ der Ernsthaftigkeit, der „earnestness“, den auch die sich eher bürgerlich gebende Queen Victoria vertrat. Pflichtbewusstsein, Arbeitsamkeit und Triebkontrolle hatten einen hohen Stellenwert. Dagegen setzte Wilde seinen eigenen Wertekanon, indem er Spiel und Pose, Reiz und Genuss aufwertete und das Ästhetische ausdrücklich über das Ethische stellte. Als höchster Wert galt ihm die Individualität: Im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sah er den zentralen Konflikt seiner Zeit, den er auch in seinen Theaterstücken, allen voran Bunbury, verhandelte.
You never talk anything but nonsense. Nobody ever does.
Mit virtuos-leichter Komödienhand entlarvt er darin das strenge viktorianische Wertekorsett selbst als Pose, die den Einzelnen unweigerlich in ein Doppelleben hineinzwingt. So sind auch die Protagonisten des Stücks, Algernon und Jack, letztlich dazu gezwungen, sich ausgeklügelte Deckgeschichten zurechtzulegen, um ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte – ihr wahres Ich? – leben zu können.
Am Ende steht ein klassischer Komödienschluss: Die beiden Alter Egos, der erfundene Bruder Ernst und der vermeintlich unentwegt kranke Freund Bunbury, sind aus dem Weg geschafft, Cecilys Gouvernante Miss Prism lüftet das Geheimnis um Jacks bis dato ungeklärte Herkunft und die heterosexuellen Paare finden zueinander – mit dem Segen von Gesellschaft und Kirche, vertreten durch Lady Bracknell, Algernons Tante und Wächterin der gesellschaftlichen Ordnung im Kreis der Familie, sowie einen Geistlichen, Pastor Canon Chasuble. Der Schluss, den Wilde komödiengerecht gestaltet hat, stellt die gesellschaftlichen Normen nicht weiter in Frage.
Deutlich expliziter – und radikaler – ging Oscar Wilde mit dieser Thematik in seinem Roman Das Bildnis des Dorian Gray um, der einige Jahr vor Bunbury veröffentlicht wurde und einen kleinen Skandal auslöste. Während in Dorian Gray die Reize und Gefahren des Doppellebens mit großer Ernsthaftigkeit (und unter Einbindung offen homoerotischer Elemente) verhandelt werden, verlagert Wilde in Bunbury das Thema ins Spielerisch-Unverfängliche und verbirgt die Abgründe unter der glänzenden, trivialen Oberfläche. Die Komödienhandlung geht leichtfüßig darüber hinweg, was an tragischer Lebensgeschichte in sie eingeschrieben ist: Oscar Wildes eigenes Doppelleben.
Die Wahrheit ist selten rein und niemals simpel.
Auch wenn er als Mitglied der High Society durch seinen gesellschaftlichen Status einigermaßen geschützt war: Homosexualität war im 19. Jahrhundert nicht offen lebbar und wurde allenfalls geduldet, wenn sie gut verborgen blieb; 1885 wurde zudem eine Gesetzesnovelle verabschiedet, die alle homosexuellen Handlungen für strafbar erklärte. An der Oberfläche entsprach Wilde – jedenfalls im Hinblick auf Sexualität und Sexualmoral – der gesellschaftlichen Norm: 1884 heiratete er Constance Lloyd, eine elegante und hochintelligente Frau aus gutem Hause, und wurde Vater zweier Söhne. Als Wilde wenige Jahre nach seiner Hochzeit den fünfzehn Jahre jüngeren Robert Ross kennenlernte, der seine Homosexualität in einer für die Zeit ungewöhnlichen Offenheit praktizierte, fand er in dem jungen Mann seinen ersten Liebhaber und einen lebenslangen Freund, der später auch zu seinem literarischen Nachlassverwalter werden sollte. Um 1891 trat Lord Alfred Douglas in Wildes Leben. Der von seinen Freunden „Bosie“ genannte junge Mann war Student in Oxford und Sohn des als brutal verschrienen und boxaffinen Marquess von Queensberry. Wilde und der junge Adelige begannen eine stürmische Affäre und Bosie führte den gefeierten Autor in die verborgene Welt der homosexuellen Prostitution Londons ein.
Letzten Endes war es die Beziehung zu Lord Alfred Douglas, die Wilde zum Verhängnis wurde. Vier Tage nach der glanzvollen Premiere von Bunbury hinterließ der Marquess von Queensberry im Albemarle Club, den Wilde regelmäßig besuchte, seine Visitenkarte mit dem handschriftlichen Zusatz: „For Oscar Wilde posing Somdomite“ [sic!] („für Oscar Wilde, posierenden Sodomiten“). Der Vorwurf der „Sodomie“, des homosexuellen Geschlechtsverkehrs, stand öffentlich im Raum, infolgedessen sein Sexualleben in einem öffentlichen Prozess ans Licht gezerrt wurde. Am 25. Mai 1895 wurde Oscar Wilde wegen „grober Unzucht“ zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer körperlicher Zwangsarbeit verurteilt.
„Die Kunst ist Individualismus, und der Individualismus ist eine zerstörende und zersetzende Kraft. Darin liegt seine ungeheure Bedeutung“, heißt es in Wildes Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Für Wilde lag das – im positiven Sinne – zerstörerische Moment der individualistischen Selbstverwirklichung darin, sich dem Diktat der Gleichförmigkeit und der Gewohnheit zu verweigern und neue, vielleicht auch radikale Wege einzuschlagen.
Nimmt man Bunbury unter diesen Prämissen in den Blick, mit dem Bewusstsein um Oscar Wildes Biographie und die identitätspolitischen Auseinandersetzungen unserer Gegenwart, erhält das Spiel mit Identität, das Jack und Algernon treiben, unweigerlich eine existentielle Grundierung; und auch die Selbstdarstellungskunst ihres Autors gewinnt eine Dimension jenseits des neckischen Unterlaufens gesellschaftlicher Rollen und Moralvorstellungen.
Obgleich Wildes Ruhm die Tragödie seines Lebens heute bei weitem überstrahlt, bleibt sein Werk durchdrungen von der Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten individueller Lebensentwürfe, jenseits der gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen. „Für mich besteht der Sinn des Lebens darin, die eigene Persönlichkeit zu verwirklichen – die eigene Natur, und jetzt wie ehedem verwirkliche ich meine Möglichkeiten durch die Kunst“, lautet hierzu ein Aphorismus von Oscar Wilde. Oder, um Gwendolen Fairfax das letzte Wort zu geben: „Ich habe mich dazu entschieden, mich noch in so viele Richtungen weiterzuentwickeln.“
Fiktion als Chance Ein Gespräch mit der Regisseurin Claudia Bossard
Du hast Bunbury während deines Studiums schon einmal inszeniert. Hat sich dein Blick auf das Stück seitdem verändert?
Mich hat damals vor allem interessiert, dass alle Figuren eine so vitale Phantasie haben und ständig Spiele erfinden. Dass es um gleichgeschlechtliche Liebe geht, das habe ich damals nicht verstanden. Wilde kanalisiert die Unmöglichkeit, das eigene Begehren auszusprechen und zu leben, in eine Phantasiewelt, eine Fiktion. Die Phantasie wird zum Rettungsanker für das, was nicht ausgesprochen werden kann oder darf. Das ist für mich Bunburysieren. Das Doppelleben der Figuren, das Spielen mit Rollen, hat dabei etwas ganz Existentielles.
Dieses existentielle Moment habt ihr – die Bühnenbildnerin Elisabeth Weiß und du – auch in den Raum übersetzt.
Um das unterdrückte Begehren auch auf der Bühne existentiell verhandeln zu können, haben wir uns gefragt: Was darf neben der Sprache überhaupt noch da sein? Die Imaginationskraft der Figuren und das Sprechen um Leben und Tod – denn es geht ja wirklich um Leben und Tod, darum, einen Teil von dir nicht leben zu können – muss auf der Bühne sichtbar werden. Das Rollenspiel ist in diesem Sinne auch ein Überlebensmechanismus. Der Raum, den wir entwickelt haben, bringt die Schauspieler:innen in eine spielerische Not, sie müssen gewissermaßen selbst um den Tod spielen. Sie erhalten keine Hilfsmittel, um ihre Worte zu bebildern oder zu beflügeln. Sie müssen sich selbst Flügel wachsen lassen.
Das Spiel, vor allem aber auch die Sprache sind also im Grunde das Einzige, woran sich die Schauspieler:innen festhalten können. Welche Funktion hat da das Englische für dich, insbesondere die Sprache von Oscar Wilde?
Als ich mich mit dem Original beschäftigt habe, hat es mich überrascht, wie zeitlos poetisch diese Sprache ist. Und das Englische schraubt den Text sofort in eine Telenovela-Höhe, das lässt sich mit dem Deutschen so gar nicht erreichen. Die englischen Sätze können also auch als Absprung dienen, um etwas zu behaupten, in eine Rolle zu schlüpfen. Genau diesen Prozess verhandeln wir auf der Bühne.
Gibt es für dich Parallelen zwischen den Themen des Stücks und unserer Gegenwart?
Ich empfinde die Gesellschaft nicht als so leger und offen, wie sie zu sein behauptet. Oder wie sie sich an der Oberfläche gibt. Das beginnt schon in der kleinen Struktur, in Familie und Schule; und dann im größeren Rahmen, was für Bilder und Erzählungen uns Hollywood über Liebe präsentiert und wie wir dadurch geprägt werden. Sich zu outen ist auch heute noch mit Scham verbunden, mit Angst vor Abwertung und Stigmatisierung. Natürlich können wir uns glücklich schätzen, in Ländern zu leben, in denen es Meinungsfreiheit gibt und gleichgeschlechtliche Liebe kein Strafbestand ist oder unter Todesstrafe steht. Trotzdem gibt es immer noch einen Moment der Verunsicherung, weil man nie genau weiß, wie das Gegenüber reagieren wird. Das sind tiefe Mechanismen und langfristige Muster, die da weitergegeben werden.
Das Gespräch führte Elisabeth Tropper.