© Arno Declair Hans Löw (Hannes Kürmann), Helmut Mooshammer (Spielleiter), Maren Eggert (Spielleiterin/Antoinette Stein)

Programmzettel Biografie: Ein Spiel

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„Wo, Herr Kürmann, möchten Sie nochmals anfangen, um Ihre Biografie zu ändern?“ Wer wünscht sich das nicht? Einmal das Leben anhalten, von vorne beginnen und seine Biografie ändern. Der Hauptfigur Hannes Kürmann in Max Frischs Drama Biografie: Ein Spiel wird diese Möglichkeit geboten: Vor allem die erste Begegnung mit seiner Ehefrau Antoinette scheint für Kürmann ein zentraler Moment seiner Biografie zu sein, den er im Nachhinein gerne vermieden hätte. In mehreren Anläufen versucht er zu verhindern, die Frau zu treffen, mit der er die letzten sieben Jahre verbracht hat.

Doch wohin führt Kürmann dieser Versuch? Wie wäre sein Leben ohne Antoinette verlaufen? Kann er sein Leben rückblickend optimieren? Oder bleibt er in gewohnten Verhaltensmustern und Verstrickungen hängen? Immer wieder stellt der Spielleiter die alles entscheidende Frage: „Möchten Sie noch einmal anfangen?“ Und alles geht wieder von vorne los …

Max Frisch, Tagebuchschreiber und Fragensteller, Architekt und Autor von Theaterstücken und Romanen, die zu modernen Klassikern wurden, war ein akribischer Beobachter der eigenen Seelenzustände, die er in seiner Literatur verarbeitete. In Biografie: Ein Spiel konstruiert er ein Leben als Laborversuch und startet mit den Mitteln der Bühnenrealität ein Experiment, das sich allerdings weniger leicht manipulieren lässt als gedacht. Denn die Faktoren Zufall und Schicksal, zentrale Themen im Werk des Autors, spielen eine entscheidende Rolle. Und als Basis einer jeden Biografie machen sie das 1967 geschriebene und 1984 nochmals von Frisch überarbeitete Stück anschlussfähig bis in die Gegenwart.

Noch einmal anfangen können Max Frisch im Gespräch mit Dieter E. Zimmer

In Ihrer Schillerpreis Rede, 1965, skizzierten Sie eine neue Dramaturgie: eine „Dramaturgie des Zufalls” gegenüber der herkömmlichen „Dramaturgie der Fügung”. Diese, sagten Sie, erbrachte „unentwegt den Beweis, dass es so und nicht anders habe kommen müssen”; die andere, neue hätte im Gegenteil zum Vorschein zu bringen, „dass mit den gleichen Figuren auch eine ganz andere Fabel hätte stattfinden können”. Ihr neues Stück, die Biografie – das ist doch eine praktische Erprobung dieser neuen Dramaturgie?

Ich verkünde keine neue Dramaturgie; natürlich reflektiert man seine eigene Arbeit, aber was dabei herauskommt, meine ich nicht als Postulat für andere. Ich hatte seit einiger Zeit einfach Mühe mit dem Theater. Die Frage nach der Beliebigkeit jeder Geschichte, eine Frage, die ich nicht beantworten kann – drum drängt sie mich ja zur Darstellung, darstellen heißt auskundschaften – mein Thema also und die Dramaturgie, die ich gelernt habe, das ging nicht zusammen. Daher drängte das Thema mich vorerst in den Roman; aber das Spiel mit Varianten, wie es Gantenbein betreibt, ist im Grunde antiepisch, eigentlich Theater. Kein Zufall, dass Theaterproben mich mehr faszinieren als die fertige Aufführung: weil Varianten eines Vorgangs mehr offenbaren als der Vorgang in seiner endgültig einzigen Form. Die Frage ist nur: Wie etablieren wir die Variante dramaturgisch? Das Theater begann mich zu langweilen.

„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“

– Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, 1964

Warum?

Jeder Verlauf, der dadurch, dass er stattfindet, alle anderen möglichen Verläufe ausschließt, mündet in die Unterstellung eines Sinns, der ihm nicht zukommt […], das Gespielte hat einen Hang zum Sinn, den das Gelebte nicht hat. Von daher verstehe ich den Versuch der Happenings, die, um jeder Dramaturgie der Fügung zu entgehen, die Bühne ganz verlassen; nur gehen diese Versuche weiter als mein Versuch, sie heben das Theater überhaupt auf, während wir es weiter mit dem Theater versuchen: ohne die Dramaturgie der Fügung. Aber wie gesagt, nehmen Sie diese theoretischen Notizen nicht als Postulate, sie reflektieren lediglich die eigene Arbeit.

Erbringt das Stück nun aber nicht gerade den Beweis, dass es sehr schwer ist, eine bestimmte Biografie loszuwerden; Ihrem Verhaltensforscher Kürmann, dem Sie die Möglichkeit geben, sein Leben nachträglich zu revidieren, gelingen doch  – da er weder seine Anlagen noch die Verhältnisse ändern kann – trotz aller Mühe nur zwei bescheidene Korrekturen seiner Biografie. Sind Sie also bei der Erprobung der Zufalls-Dramaturgie zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Lebensgeschichte doch eine ziemlich hartnäckige Zwangsläufigkeit besitzt?

Ich wollte nicht etwas Vorgedachtes beweisen, sondern ein Spiel durchführen, um zu erfahren, wie ich erlebe. Schreiben als Selbsterfahrung. Man hat sein Credo oder Non Credo, es kann durch Darstellen bestätigt oder widerlegt werden. Das verstehe ich unter Auskundschaften. Schreiben ist ein abenteuerliches Unternehmen, man setzt sich seiner Erfahrung aus.

Hat die Erfahrung Sie überrascht?

Zeitweise war ich geradezu bestürzt. Ich dachte auch, dass ein Mensch, wenn er nochmals anfangen und nochmals wählen kann, eine ganz andere Geschichte vorlegt, etwas Verblüffendes, so dass er kaum wiederzuerkennen sein würde. Das erwartet wohl jedermann, der sagt: Wenn ich nochmals anfangen könnte! Die Frage nach der Beliebigkeit jeder Geschichte, ins Spiel gestellt ohne Garantie, dass dabei Gott herausschaut, und infolgedessen das Missfallen an einer Dramaturgie, die nur den zwangsläufigen Ablauf als glaubhaften Ablauf anbietet und damit unterstellt, dass eine Geschichte (Biografie oder Weltgeschichte) nur so und nicht anders habe verlaufen können; andererseits die Faszination des Theaters, wenn probiert wird, die Probeneinsicht, dass Varianten eines Vorgangs mehr offenbaren als der Vorgang in seiner endgültigen Form, und infolgedessen die Suche nach einer Möglichkeit, die Variante dramaturgisch zu etablieren, und infolgedessen, eins aus dem andern, der simple Einfall:

Ein Mann, der nochmals anfangen und wählen kann – so konsequent mag es erscheinen; der Schreiber selbst erlebt es nicht so, wenn er einem Einfall nachgibt. Offenbar spielt sich hier schon ab, was zum Thema des Stücks gehört: Inwiefern wählen wir das Thema, inwiefern sind wir, wenn wir zu wählen meinen, gesteuert und vertuschen es vor uns selbst, indem wir im nachhinein plausibel machen, warum wir das und das „gewählt” haben? Je wacher einmal der Verdacht, dass wir gesteuert sind, um so lebhafter wird das intellektuelle Bedürfnis, dieses Kürmann-Bedürfnis, noch einmal anzufangen und in seinem Leben irgend etwas anderes zu machen, und sei’s auch nur, um sich den Nachweis zu erbringen, dass wir wählen können. Auch dem Stückschreiber könnte dieser Spielleiter sagen: Warum wählen Sie denn jedesmal dasselbe Thema? Worauf ich wie Kürmann sagen möchte: Fangen wir noch einmal an! Nur geht das eben in der Wirklichkeit nicht; die Genehmigung, dass einer nochmals anfangen kann, gibt nur das Theater.

Fragebogen von Max Frisch 

1. Ist die Ehe für Sie noch ein Problem?

2. Kennen Sie auch Versöhnungen, die keine Narben hinterlassen auf der einen oder auf der andern oder auf beiden Seiten?

3. Wie lange leben Sie durchschnittlich mit einem Partner zusammen, bis die Aufrichtigkeit vor sich selbst schwindet, d. h. dass Sie auch im Stillen nicht mehr zu denken wagen, was den Partner erschrecken könnte?

4. Wie erklären Sie es sich, dass Sie bei sich selbst oder beim Partner nach einer Schuld suchen, wenn Sie an Trennung denken?

5. Hätten Sie von sich aus die Ehe erfunden?

6. Fühlen Sie sich identisch mit den gemeinsamen Gewohnheiten in Ihrer derzeitigen Ehe?

7. Wann macht Sie die Ehe eher nervös:

a) im Alltag?
b) auf Reisen?  
c) wenn Sie allein sind?  
d) in Gesellschaft mit vielen?
 e) unter vier Augen?  
f) abends?  
g) morgens?  

8. Entwickelt sich in der Ehe ein gemeinsamer Geschmack oder findet für Sie beim Kauf einer Lampe, eines Teppichs, einer Vase usw. jeweils eine stille Kapitulation statt?

9. Was hat Sie zum Eheversprechen bewogen:

a) Bedürfnis nach Sicherheit?  
b) ein Kind?  
c) die gesellschaftlichen Nachteile eines unehelichen Zustandes?  
d) das Brauchtum?   
e) Vereinfachung des Haushalts?
f) Rücksicht auf die Familien?  
g) die Erfahrung, dass die uneheliche Verbindung gleichermaßen zur Gewöhnung führt, zur Ermattung, zur Alltäglichkeit usw.?  
h) Aussicht auf eine Erbschaft?  
i) Hoffnung auf Wunder?

10. Falls Sie sich schon mehrere Male verehelicht haben: worin sind Ihre Ehen sich ähnlicher gewesen, in ihrem Anfang oder in ihrem Ende?

11. Wenn Sie vernehmen, dass ein Partner nach der Trennung nicht aufhört Sie zu beschuldigen: Schließen Sie daraus, dass Sie mehr geliebt worden sind, als Sie damals ahnten, oder erleichtert Sie das?

12. Was pflegen Sie zu sagen, wenn es in Ihrem Freundeskreis wieder zu einer Scheidung kommt, und warum haben Sie’s bisher den Beteiligten verschwiegen?

13. Können Sie zu beiden Seiten eines Ehepaares gleichermaßen offen sein, wenn sie es unter sich nicht sind?

14. Wenn Ihre derzeitige Ehe als glücklich zu bezeichnen ist: worauf führen Sie das zurück? (Stichworte genügen)

15. Wenn Sie die Wahl hätten zwischen einer Ehe, die als glücklich zu bezeichnen ist, und einer Inspiration, einer Intelligenz, einer Berufung usw., die das eheliche Glück möglicherweise gefährdet: Was wäre Ihnen wichtiger?

16. Meinen Sie erraten zu können, wie Ihr derzeitiger Partner diesen Fragebogen beantwortet?

17. Und wenn nicht? Möchten Sie seine Antworten wissen?

18. Möchten Sie umgekehrt, dass der Partner weiß, wie Sie diesen Fragebogen beantwortet haben?

19. Halten Sie Geheimnislosigkeit für ein Gebot der Ehe oder finden Sie, dass gerade das Geheimnis, das zwei Menschen voreinander haben, sie verbindet?