Unter die Haut von Chris Güthner
840 Tage nach Beginn des verbrecherischen Angriffkriegs Putins auf die Ukraine schaue ich mir PEACES (Fragments of Love) an.
Wäre das Stück einen Tag zuvor gezeigt worden, wäre ich wahrscheinlich nicht rechtzeitig zu Vorstellungsbeginn am Theater angekommen, da der aktuelle Staatsbesuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Berlin aufgrund hoher Sicherheitsmaßnahmen zu massiven Verkehrsbehinderungen führte.
Die Fernsehberichte zu diesem unerbittlichen Abnutzungskrieg und das gezeigte Leid der Zivilbevölkerung belasten und überfordern mich. Doch weiß ich, dass ich dadurch nur ein winzigen Teil des Leids erahnen kann, das Krieg bei Menschen verursacht. Ich nehme im Zuschauerraum Platz und bemerke wie die Besucherin, die neben mir sitzt, sich mit ihrer Nachbarin auf ukrainisch bzw. russisch unterhält.
Wenn der Krieg zwischen Freunden steht
Jetzt also ein Dokumentationstheaterstück bei dem durch den Krieg betroffene Frauen über ihre Erfahrungen berichten und mir dieses Erleben mit den Mitteln des Theaters näher gebracht wird.
Regisseur Volker Schmidt sagt zu seinen Beweggründen, dass er dieses Stück für alle Menschen aus der Ukraine und Russland mache, die jetzt aufgrund des Krieges ihre Freundschaft in Frage stellen. Dafür spielt Schmidt selbst in dem Stück mit, neben zwei Schauspielerinnen. In Szene gesetzt wird die tatsächliche Freundschaft (und deren Entwicklung nach Kriegsbeginn) der Ukrainerin Nastya K. und der Russin Kristina, die beide zu Beginn des Kriegs in Moskau zusammen Schauspiel studieren. Beide sind von Beginn an massiv und verzweifelt gegen den Krieg. Kristina Isaikinas Spiel geht mir dank der von ihr ausgehenden Authenzität und Intensität sofort sehr nah.
Mittels Projektionen, sich dem Filmgenre mit hartem schnellen Schnitt, Bühnennebel und dramatischer Musik annähernd werden die sich überstürzenden Ereignisse nach Kriegsbeginn vermittelt, wobei sich die Frauen dabei gegenseitig über Smartphone berichten. Auch verwackelte Aufnahmen sind zu sehen, von Bombenalarm zerstückelter Alltag und die Fluchten aus Russland – und noch viel mehr. Am meisten unter die Haut gehen jene Berichte der Frauen, in denen sie über ihre Gedanken, ihre Gefühlswelt und ihre Verzweiflung berichten.
Räumlich getrennt, bleiben sie über Zoommeetings in Kontakt, sie diskutieren die Geschehnisse, es belastet sie, dass der Druck auf das ukrainische Volk dazu führt, dass das Umfeld der ukrainischen Freundin auch den Kontakt zu Russen kritisch sieht, die gegen den Krieg sind. Für die ukrainische Frau, der die Flucht in die Ukraine geglückt ist, ist es schwer erträglich, dass die Großzahl ihrer russischen Freunde und Bekannte mit dem Fakt des Kriegs gegen die Ukraine problemlos weiter leben und im System Putin funktionieren. Gegen Ende des Stücks verhandeln die Gespräche, mit welchen Antidepressiva man sich am besten vor der völligen Verzweiflung schützt, um im Alltag weiter zu funktionieren.
Wirkungsmacht der Berichte
Um die tiefgehenden Veränderungen in den Seelen der Menschen zu verdeutlichen, hätten diese Elemente bei weitem genügt. Denn die Bilder und Berichte der Frauen wirken so stark auf mich, dass mich die weitere Ebene, die der mitspielende Regisseur einbringt, bloß irritiert: Sie reißt mich aus dem intensiven Erleben heraus. Ich möchte bei dem Umgang damit, was mir die Frauen an Kriegsgrauen nahe bringen, alleine sein, aber das geht nur bedingt. Wer hat wann mit wem über das Internet kommuniziert, wer hat sich wann und wo persönlich getroffen: Diese Informationen hätten mir nicht gefehlt, finden aber in Form von Schriftstücken Eingang in das Stück. Zwei Techniker und eine Technikerin sorgen dafür, dass die Projektionen der Nachrichten, untermalt von Musik, die notwendige Dramatik erzeugen.
Nur ein Sitz weiter
Die Besucherin, die den Platz neben mir hat, sitzt von Beginn des Stücks nach vorne gebeugt auf ihrem Platz und verfolgt die Handlung hochkonzentriert. An ihrer Körpersprache kann ich ablesen, dass sie aus eigenem Erleben weiß, worüber die Frauen in dem Stück sprechen. Etliche Male bemerke ich eine deutliche Zustimmung bei einzelnen Aussagen der Schauspielerinnen. Etliche Male bemerke ich, wie die Schilderungen auf der Bühne bei ihr schmerzliche Erinnerungen hervor rufen.
Wie geh ich damit um?
Am Ende steht Kristina Isaikina direkt vor den Zuschauern, um sie unverwandt anzusprechen. Danach bin ich völlig fertig. Ich stolpere aus dem Zuschauerraum Richtung Bar, es lockt in die Musik der Hammond-Orgel. Aber mir ist absolut nicht nach Amüsement zumute. Ich möchte nur weg und für mich sein.