Das Wagnis der Begegnung von Christoph Güthner
Keine zwei Stunden vor Beginn der Aufführung des Blutstück tut sich außergewöhnliches im DT.
An den Eingängen aller Toiletten des Hauses werden Unisex-Schilder angebracht. Ich sehe zwei Männer auf den Eingang einer Toilette zu gehen, sie verlangsamen den Schritt, zögern, blicken sich unsicher um, öffnen vorsichtig die Tür, sind spürbar erleichtert als sie die Urinale sehen und gewinnen ihre Sicherheit zurück. Neben viel Neugier auf das Theaterstück muss ich mir auch eine klitzekleine Angst eingestehen. Schließlich geht es bei dem Thema auch um männliche Dominanz, um weibliche Rollen- und Verhaltenszuschreibung durch Männer und Macht. Werden ich mich als Cis-Mann nicht zumindest von einigen Textzeilen des Stücks ertappt fühlen? Ebenso ertappt wie z. B. bei den Liedzeilen von Tamara Danz „Alle Männer woll´n Fraun“ und „Die Angst der Männer vor den Frau´n“? Oder bei dem Liedtext von Patricia Kaas „ Il parle d'amour comme il parle des voitures“ oder dem Buchtitel „Männer lassen lieben“?
Der Zeitgeist: Ein Klassiker
Ich habe Blutbuch von Kim de l´Horizon portionsweise gelesen, heute Abend also Blutstück. Dabei ist Blutstück keine Inszenierung der mehrfach preisgekrönten Buchvorlage, wie sie in Hannover, Wien, Magdeburg und Bern zu sehen waren bzw. zu sehen sind. Der Kontakt zu Leonie Böhm, der Regisseurin von Blutstück, kam auf Kim de l`Horizons Wunsch zustande. Die Hausregisseurin des Schauspielhaus Zürich ist bekannt für ihre kanonischen Theaterstücke, in denen sie klassische Werke auf deren essenziellen Gedanken hin untersucht und in die heutige Zeit übersetzt. Genau das sollte mit Blutbuch geschehen: Es sollte in der Inszenierung von Blutstück wie ein Klassiker behandelt werde.
Eine Bühne, viele Debüts
Im Dialog mit der Buchvorlage haben die Böhm, de l`Horizon und die übrigen Ensemblemitglieder die Gedanken und Grundmotive des Blutbuchs verwendet, um in Blutstück eine andere Gemeinschaft zu suchen und zu stiften. Kim de l`Horizon tritt dabei zum ersten Mal auf einer Bühne auf, die Regisseurin arbeitet erstmals in dieser Weise mit einem Werk eines lebendigen Menschen und die übrigen Schauspieler machen erstmals die Erfahrung, mit einer Autorenperson auf der Bühne zu stehen. Alle gehen also das Wagnis neuer Wege ein.
Zu Beginn der Aufführung ist die Bühne in Dunkel gehüllt. Mit einer Kerze kommt Kim de
l´Horizon aus dem Bühnenhintergrund und singt den Titel Feel von Robbie Williams. Dabei singt Kim im Liedtext bezeichnender Weise nicht „I sit and talk to God“ sondern „I sit and talk to the Universe“.
Dann treten die weiteren Performerinnen auf, die die vier Grossmeere in der weiblichen Ahnenreihe von Kim de l´Horizon darstellen. Im Folgenden tun die Darstellenden vieles, um eine Verbindung zu dem Publikum herzustellen. Sie singen ein sanftes Lied in dem sie uns Menschen im Zuschauerraum anbieten, Ballast bei ihnen abzugeben und wenn man das braucht, sich bei ihnen abzuladen. Sollte es zu viel werden, so versichern sie uns, glauben sie dennoch, dass es schon passen werde. Das mache gar nichts, im Gegenteil: Sie sind gerne für uns da.
Vertrauensbildende Übungen
Sie animieren Menschen in den ersten Reihen solo und damit vor allen den Text des Liedes zu singen, bekennen ihre eigene Unsicherheit sich zu öffnen, setzen sich an den Bühnenrand, bieten Menschen in der ersten, zweiten und dritten Reihe an, ihre entgegen gestreckten Hände zu nehmen und ihnen eine Weile in die Augen zu schauen.
Eine Performerin fasst, nicht ohne vorher gefragt zu haben, einer Frau an das Kinn, diese tut genau dasselbe bei ihr. Gemeinsam singen sie ein Lied, gleichzeitig animiert die Performerin alle Menschen, den neben ihnen sitzenden Menschen auf dieselbe Art ans Kinn zu fassen, in die Augen zu schauen und so Intimität zuzulassen.
Das erinnert auf sympathische Art an die Einführung einer Gruppentherapie oder an Übungen zu Vertrauens- und Gruppenbildung in einer sich neu zusammenfindenden Theatergruppe.
Bei ihrer Suche und dem tastenden Wagnis neue Wege zu gehen, möchte das Ensemble alle Menschen – zumindest die im Zuschauerraum heute Abend – mitnehmen. Sie wollen mittels der Texte und inspiriert durch die Grundidee aus Blutbuch die zerhackten Fäden zwischen den Grossmeeren wieder verknüpfen, ein Netz daraus knüpfen, das uns alle zusammenhält und uns in neue Welten tragen mag.
Penisbaum in der Kritik
Das sich wandelnde Bühnenbild besteht aus Tüchern in warmen Farben, ist einmal ein fließender Wasserstrom, dann weieder ein in leuchtendes Rot getauchter Raum mit wallendem Behang und am Ende ein Zelt. Selbst der Penisbaum, der irgendwann prall in der Mitte der Bühne steht, ist kunstvoll gestaltet. Er symbolisiert fragile Männlichkeit. Als er von den Spielenden massiv kritisiert wird, reagiert er völlig über, erschlafft, sinkt nieder und muss schlussendlich sogar tröstend gestreichelt werden, um sich wieder in die Höhe strecken zu können. Auch wenn mir dabei als Cis-Mann doch der Spiegel vorgehalten wird, fühle ich mich nicht zurückgestoßen, vielmehr fühle ich mich mitumarmt.
Hinreißend komisch
Zuvor wird männliches Ego vorgeführt. Als die der Ursuppe entstiegenen Figuren auf einen edlen Ritter treffen, sich für seine Kraft begeistern und ihm darin gleich tun wollen, fühlt sich dieser seiner Sicherheit hinsichtlich seines Körpers und seines männlichen Selbstverständnisses beraubt. Auch er reagiert über und macht klar, dass solche Attribute und Verhalten nur ihm als Mann zustehen. Auf hinreißende Art und voller Komik wechselt die Performerin Gro Swantje Kohlhof dabei zwischen ihrer Rolle und der des Ritters. Ich als Cis-Mann im 21. Jahrhundert, wohnhaft in Berlin, kann in dieser Szene ins Mittelalter schauen, bekomme einen überholten Männlichkeitsentwurf vorgeführt und kann mir sagen: Das ist ferne Vergangenheit – zumindest in meinem Umfeld.
Hoffnung auf die Hintertür
Gegen Ende des Stücks geht Kim de l`Horizon noch einmal ins Publikum und sucht das Gespräch mit einem Zuschauer. Kims größte Angst, erfahren wir, ist nicht etwa einem Angriff ausgesetzt zu sein, sondern: dabei alleine zu stehen. Ob er in einem solchen Fall das Wort erhebt und Beistand leistet, wird der Zuschauer gefragt, was dieser entschieden bejaht.
Dem übrigen Publikum erklärt Kim de l´Horizon, dass das die Hintertür ist, die Sicherheit gibt sich zu öffnen und neue Wege zu gehen. Ich muss an die an den Wänden hängenden Schilder bei einem Musikfestival in Weimar denken, die in wenigen Worten klar machen, dass jedes sexistische, homophobe und diskriminierende Verhalten nicht geduldet wird und Betroffene umgehende Unterstützung von den Umstehenden erhalten können. Bei etwaigem Fehlverhalten genügt ein Hinweis auf das Schild, damit ist klar: Die Regel verletzende Person hat alle anderen im Raum gegen sich. Sie sind dessen Schutzschild, die erwähnte eine Hintertür für die Betroffenen.
Nochmal Unisex-Toiletten
Nach der Vorstellung an den Toiletten vorbeigehend bemerkt meine Begleiterin, dass sie nicht unbedingt Fan von Unisex-Toiletten ist. Wenn es drei Arten Toiletten gebe, eine für Frauen, eine für Männer und eine für alle, sei das ok. Aber nur zwei auf die jeweils alle gehen, gehe nicht. Zuhause lese ich nach, dass gemeinsame Toiletten ein Problem für muslimische Frauen, Frauen aus asiatischen und Menschen mit Gewalterfahrung durch das andere Geschlecht darstellen können.
An zwei Dingen führt die Suche nach neuen Wegen nicht vorbei: ausprobieren und sich offen austauschen.