Erlebnisbericht Das beispielhafte Leben des Samuel W. von Christoph Güthner
Aus einhundert Gesprächen über die reale Person eines AfD-Bürgermeisterkandidaten in Görlitz hat der Autor Lukas Rietzschel einen Bühnentext montiert, vorgetragen von den ganz in Weiß gekleideten und vor weißem Hintergrund auftretenden Figuren von Das beispielhafte Leben des Samuel W.. Aus diesen subjektiv geprägten Erinnerungen an besagte Wahl, aber auch an die DDR-Zeit und insbesondere an die durch Brüche und Umwälzungen geprägte Wendezeit spricht ein hohes Maß an Authentizität. Als Zuschauer hat man das Gefühl, man könnte die Sätze ebenso gut im Zug oder an der Supermarktkasse mithören. Mit diesem Kunstgriff gelingt es dem Autor tief in diese Themen einzusteigen, ohne selbst Stellung beziehen zu müssen. Stattdessen zeichnet er ein Stimmungsbild in der Bevölkerung, das die Voraussetzung für die hohen Stimmanteile für den AfD-Kandidaten bei einer Görlitzer Bürgermeisterwahl darstellt.
Dabei werden die Figuren des Stücks nicht vorgeführt oder gar an den Pranger gestellt. Rietzschels Worte führen einem in klarem, direkten Ton die Brüche und Zumutungen für die Menschen in der Nachwendezeit vor Augen. Dazu gehört die Überforderung angesichts komplexer Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft und die allmählich allgegenwärtige Genervtheit ob der sich unablässig aneinanderreihender Krisen. Die Antwort? Die Komplexität mit Verschwörungstheorien radikal zu vereinfachen, zumindest für einige.
Während die Figuren all das in Alltagssprache diskutieren, sieht das Publikum sie ihr Haus bewohnen, mit Freunden am kleinen Pool sitzen, unter dem Baum im Garten Karten und Tischtennis spielen, Kinder bekommen. Im Hintergrund ragt das Heck des Familienautos. in die Höhe. Der Eindruck, der sich einstellt: Das sind Menschen wie Du und ich, Nachbarn, die ihrer Arbeit nachgehen, sich über den Gartenzaun hinweg austauschen und ihre erlebten Lebensjahrzehnte subjektiv, meist auch konträr, erinnern und daraus ihre Schlüsse ziehen. Sie sind unzufrieden, sie wünschen sich ein überschaubares und ruhiges Leben, mehr Sicherheit und stabilere Verhältnisse. Für den Umstand, dass das nicht der Fall ist, machen sie pauschal die Politik und deren Repräsentanten verantwortlich.
Die Figur des Samuel W. ist ebenfalls auf der Bühne anwesend: Auf einem hohen Podest mittig im hinteren Bühnenbereich ergeht er sich stumm, mit seitlich gescheitelten und gegelten Haaren und ausdruckslosem Gesicht, in wechselnden, teils Körper-verrenkenden Posen. Das lässt unwillkürlich an Hitlers Posen für die Bilderserie seines persönlichen Fotografen Hoffmann denken, mit welcher er die Publikumswirkung seiner Reden entwickelte. Auch das, was die Figuren konkret über den Bürgermeisterkandidaten und seinen Lebenslauf berichten, lässt an Parallelen zu Hitlers Jugendzeit in Wien und später in München denken. Ebenso wie dieser war Samuel W. scheinbar ein junger Mensch, der seinen Platz in der Welt suchte, dafür Soldat und Polizist wurde, ein Jahr studierte, sich hier und da ausprobierte und schließlich seine Berufung darin fand, seine Mitmenschen mit populistischen Aussagen in seinen Bann zu ziehen.
Wie die Bürgermeisterwahl und damit das Theaterstück endet, soll hier nicht verraten werden. Nur soviel: Als Schlussszene vollführt die Figur des Samuel W. eine Art Veitstanz auf seinem Podest hoch über allen. Das Publikum bricht aus Begeisterung über das Stück in lauten Applaus aus. Auch ich klatsche. Gleichzeitig gefriert mir aber wegen dieses Veitstanzes und dem, was mir in dem Stück überdeutlich als Realität vor Augen geführt wurde, das Blut in den Adern.