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Programmzettel Hospital der Geister

  • Halbgötter in weiß
  • Humor und Horror
  • Bingewatching

„Das dänische Reichskrankenhaus ist auf Sumpfland gebaut.“ So beginnt jede der acht Folgen der Fernsehserie, die der junge Lars von Trier in den 90er Jahren für das dänische Fernsehen drehte und die Zutaten enthält, die den späteren Regiestar zum Kultregisseur machen: Humor und Horror, Skurrilität und Zynismus, ein inklusives Ensemble und großartige Schauspieler:innen.

Das ganze Krankenhausgebäude ist marode, durch die Risse in der Bausubstanz dringt mit dem Sumpf das Unerledigte und Untote ein. Ein totes Mädchen geistert in einem Fahrstuhlschacht herum, eine Patientin veranstaltet Séancen im Krankenzimmer und ein schamanischer Trommeltherapeut bietet „Rebirthing“ an. Ein Stationsarzt betreibt einen florierenden Schwarzmarkt mit Krankenhausgütern, die Freimaurerloge der Chefärzte narkotisiert sich mit Alkohol und eine Doktorandin bringt ein seltsames Baby zur Welt. Und während der Pathologieprofessor im eigenen Körper den größten Leberkrebstumor der Welt zu züchten versucht, arbeitet der stets das Positive suchende Chef der Neurochirurgie an der „Operation Morgenluft“, um das Arbeitsklima zu verbessern, das maßgeblich durch seinen schwedischen Oberarzt vergiftet wird.

Natürlich stecken hinter all dem Spaß ernste Fragen: Wie gehen wir mit Endlichkeit und Tod um? Welche Haltung haben wir zum Gesundheitssystem als quasi industriellem Komplex mit eigenen Dynamiken und auch ökonomischen Interessen? Wie sehr wirken die Verbrechen der Vergangenheit in der Gegenwart fort – und ist das Böse eine notwendige Bedingung für das Gute? Am Ende jeder Folge verabschiedet sich der junge Lars von Trier vom Publikum mit den Worten, die auch für diesen Theaterabend gelten sollen: „Seien Sie bereit! Für das Gute – und das Böse.“

Achtung, Spoileralarm! von Karla Mäder

Im Hospital der Geister treibt ein Geisterkind namens Marie sein Unwesen. Krank geworden ist es durch medizinische Versuche, die sein Vater als einer der ersten Chefärzte des Krankenhauses Anfang des 20. Jahrhunderts an ihm vorgenommen hatte mit dem Ziel, Marie als sein uneheliches Kind aus der Welt zu schaffen. Seit dem Jahr 1919 durchlebt Marie Nacht für Nacht ihre qualvolle Todesstunde, um jemanden zu finden, der das an ihr verübte Verbrechen bezeugt. Ein Jahrhundert später passiert es dann: Sigrid Drusse, eine krankenhausweit bekannte hauptamtlich erfolgreiche Simulantin und nebenberuflich erfolglose Spiritistin, lässt sich mal wieder mit vagen Beschwerden einweisen und kommt auf die Station der Neurochirurgie. Dort begegnet ihr das tote Mädchen. Gemeinsam mit ihrem Sohn Bulder, einem liebenswertphlegmatischen Pfleger, versucht Drusse, dem Geheimnis um das Geisterkind auf die Spur zu kommen. Die Geisterjagd und schlussendliche Erlösung des Mädchens ist der rote Faden, der die vier Folgen der ersten Staffel zusammenhält.

Monster, Dämon, Zombie

In den vier Folgen der zweiten Staffel lässt Lars von Trier u. a. Sigrid Drusse während einer OP im Swedenborgraum, einer Art Zwischenwelt, in der sich Geister und dem Tode nahe Menschen aufhalten, erneut auf Marie treffen. Lars von Trier beschwört weitere Horrorfiguren, die aus der Untiefe der menschlichen Angst vor dem Übersinnlichen auftauchen: u. a. ein Monster, einen Zombie und Satan persönlich. Im Zentrum steht jetzt ein Kind, das der Geist des Vaters der kleinen Marie mit der Assistenzärztin Judith gezeugt hat. Laut der spiritistisch informierten Frau Drusse ist dies ein häufig vorkommendes Verfahren, mit dem sich Dämonen in unsere Welt hineingebären lassen. Das überschnell wachsende Baby, genannt Brüderchen, wird zu einem Monster, in dem das (irdische) Gute der Mutter und das (höllische) Böse des Vaters miteinander kämpfen. Am Ende opfert sich das von einem Dämon gezeugte Kind als eine Art Antichrist selbst, um die Welt vom Bösen in sich zu erlösen. Doch dieses lässt sich nicht so einfach besiegen …

Krankenhausalltag

Die Figuren aus dem Arsenal des Horrorgenres sind das eine, das satirisch zugespitzte Krankenhauspersonal das andere. Z.B. der von den Zumutungen der Verwaltungsarbeit überforderte, sich ums Arbeitsklima sorgende, mit einem sonnigen Gemüt gesegnete Chefarzt Einar Moesgaard; dessen völlig unambitioniert Medizin studierender Sohn Mogge, der seine gesamte jugendliche Energie auf die Eroberung der Krankenschwester des Schlaflabors richtet; der jüngst aus dem kleinen schwedischen Universitätsstädtchen Lund in die dänische Hauptstadt gelangte Oberarzt Stig Helmer, der sich als „internationale Koryphäe“ verkauft, in Wirklichkeit aber ein weinerlich-cholerischer Typ mit Dreck am Stecken ist, der auch in Kopenhagen bald v. a. damit beschäftigt sein wird, einen ärztlichen Kunstfehler zu vertuschen; der Stationsarzt Krogen, der wie eine Kellerassel in einem Untergeschoss des Krankenhauses lebt, wo er nicht ganz uneigennützig ein riesiges Warenlager unterhält, aus dem er für Gegenleistungen aller Art Dinge in Abteilungen verschiebt, wo sie wirklich gebraucht werden und der damit den Krankenhausbetrieb besser am Laufen hält als jede Logistikzentrale es je könnte. Vom Pförtner bis zum Gesundheitsminister, von der Anästhesistin bis zur Doktorandin: Jede der Figuren hat ein finsteres Geheimnis, eine schillernde Vergangenheit oder eine seltsame Passion, die irgendwann zutage tritt. Die Interaktion von Horror- und realistischen Figuren, die Konflikte und Probleme, die sich daraus ergeben, hält die Spannung und den Humor in der Serie über acht Folgen mit – im Fernsehen – insgesamt ca. 12 Stunden Spieldauer aufrecht.

Etwas ist faul im Staate Dänemark

Eine Hauptrolle spielt das Gebäude selbst, schließlich ist es die Titelfigur, allerdings, wie der Prolog in jeder Folge anmerkt: Das Krankenhaus wurde auf Sumpfland errichtet, also auf unsicherem, instabilem Baugrund. Sümpfe mit ihren mystischen Untiefen verheißen in der Literatur selten etwas Gutes. „Ein Sumpf“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Kirsty Bell in ihrem Buch Gezeiten Berlins über den Berliner Untergrund, der genau wie der Kopenhagener sumpfig-sandig ist, sei „sowohl geographisch als auch metaphorisch keine gute Sache. Stinkend und dicht, ist er Schmutz. Für die aufrechte preußische Mentalität, die sich obsessiv der Beseitigung von Körperflüssigkeiten widmete, ist ein Sumpf der schlimmstmögliche Zustand. Laut Klaus Theweleits Männerphantasien waren Sümpfe, Überschwemmungen, Morast, Schlamm, Schlick, Jauche allesamt furchterregende Substanzen für die aufrechte, preußische Soldatenseele: ‚Die Eigenschaft des Sumpfes, dass er keine Spuren seiner Aktivitäten sichtbar macht, dass er sich nach jeder Aktion wieder verschließt, lud ein zu der Vorstellung der Gegenwart in ihm verborgener Dinge, die aus einer geheimen Realität kommen und aus dem Reich der Toten. Irgendwer lag bereits in jedem Schlamm oder Sumpf, in den man einsinken konnte.“ Im Hospital der Geister sorgt der sumpfige Untergrund nicht nur für gefährlich wackelnde Gehwegplatten auf dem Parkplatz, sondern auch für Ermüdungsrisse im Gebäude. Und irgendwer liegt gewiss auch unter dem Krankhaus im Schlamm begraben. Durch eben jene Risse und Löcher dringt das Übersinnliche in die moderne und rationale Welt ein, die alles Spirituelle nur allzu gerne verdrängt.

„Es geht darum, sich auf das Positive zu fokussieren!“ –  Prof. Dr. Einar Moesgaard

Die Serie wurde in einem real existierenden Krankenhaus gedreht, dem Kopenhagener „Rigshospitalet“ (Reichskrankenhaus), umgangssprachlich genannt „Das Reich“. Es ist die größte Krankenanstalt des Landes, die sich auf ihrer Internetseite heute stolz als „hochspezialisiertes Krankenhaus“ bezeichnet. Gegründet wurde es im 18. Jahrhundert, an der jetzigen Stelle erbaut 1910 und 1974 erweitert zu einem modernen Hochhauskomplex mit 16 Stockwerken – eine typische europäische Krankenhausgeschichte, die jener der Charité zum Beispiel ähnelt. Große Krankenhäuser sind riesenhafte, betriebswirtschaftlich organisierte, hocheffiziente, fabrikähnliche Organismen (in der Charité arbeiten mehr als 23.000 Menschen), in denen jedoch immer noch menschliche Schicksale im Zentrum stehen, wo sich Tragödien und Dramen abspielen, Geburt und Tod, Triumph und Niederlage im dichten Krankenhausalltag eng nebeneinander liegen.

Abspann

Am Ende jeder Folge seiner Fernsehserie kommentiert der junge Lars von Trier im Frack vor einen roten Theatervorhang das gerade Gesehene und wirbt für die nächste Folge. Die siebte Folge schließt er mit den Worten: „Das Wachstum, meine Damen und Herren, will uns etwas sagen. Brüderchen wächst. Das Sarkom wächst. Die Weltbevölkerung wächst. Aber wenn Sie durch ein Teleskop den Sternhimmel betrachten, dann werden Sie sich klein fühlen. Und damit sind wir der Wahrheit viel näher, als wenn wir sagen, dass nichts hiervon tatsächlich existiert. Im Verhältnis zum Universum sind das Sarkom, Brüderchen, das Krankenhaus und wir Menschen weder groß noch klein. Unser Tun und Streben, unsere Geschichte und unser Schmerz sind vollkommen bedeutungslos. Sterben drei Menschen bei einem Flugzeugunglück oder verrecken Tausende in einem Krieg: Der Mann im Mond zuckt nicht mal mit der Wimper. So ist es. Und so ist es gut. Und wenn Sie uns auch weiterhin Ihre Aufmerksamkeit schenken wollen, dann seien Sie wie immer bereit für das Gute im Bösen.“

​​​​​​Schatten und Licht

Spätestens seit der Corona-Pandemie sind der Auftrag und Zustand der Krankenhäuser sowie die Probleme der in ihnen Arbeitenden ständig Thema in Politik und Medien. Allerdings: Wir leben in pflege- und behandlungsbedürftigen Zeiten, in denen unsere immer älter werdende, von immer mehr Zivilisationskrankheiten geplagte und – wie wir dank moderner Diagnostik wissen – immer kränker werdende Gesellschaft auf knapper werdende finanzielle Mittel trifft. Heute sterben drei von vier Menschen in einem Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung, an Orten also, an denen Effizienz
und Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und Faktizität an der Tagesordnung sind. Kein Ort könnte weiter entfernt sein von okkultem Schattendasein als die weiß gestrichenen, hellen Krankhausräume. Oder nicht? Je nach Kultur, Überlieferung und Auftrag sind Geister mehr oder weniger körperlos und abstrakt, finden ihren Frieden entweder durch die Erfüllung eines Racheauftrags in der Gegenwart oder durch Liebe oder Anerkennung der Nachgeborenen. Doch egal ob Karl Marx’ Gespenst des Kommunismus, Hamlets Vater, der fliegende Holländer oder Oscar Wildes Gespenst von Canterville: Untote, Geister, Gespenster, Wiedergänger kann man lesen als Chiffren für etwas Unerledigtes oder Ungelöstes, das sich in die Gegenwart drängt und auf Erlösung wartet, um in Frieden eingehen zu können in das große Nichts, das uns möglicherweise alle erwartet. Wir halten uns und unsere Zeit für klüger und aufgeklärter als alle vorherigen. Vielleicht ist das so. Aber möglicherweise sind wir auch die Trost-losesten Menschen, die es je gab. Das Theater ist ein traditioneller Aufenthaltsort für Figuren aus vergangenen Zeiten, für Geister und Gespenster, für Untote und Wiedergänger, und es ist laut Heiner Müller auch ein Ort des Dialogs mit den Toten, die uns etwas für die Zukunft mitzuteilen haben. Das Theater kann für einen Moment die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits auflösen und das Vergangene im Gegenwärtigen sichtbar machen.

„Jeder
Buchstabe
wurde mit Blut
geschrieben.
Mit Blut!“ – Medium und Patientin Tanja