© Thomas Aurin

Programmzettel Einfach das Ende der Welt

Einfach das Ende der Welt ist ein Drama über Familie, über bürgerliche Familie. Es erzählt von einem jungen Mann, der vor vielen Jahren seine Familie verlassen und seitdem jeden Kontakt zu ihr eingestellt hat. Zu Beginn des Stücks entschließt sich dieser junge Mann, zurück nach Hause zu kommen – nicht aus Reue oder Sehnsucht, sondern weil er krank ist, nicht mehr lange zu leben hat und diese Nachricht seiner Familie überbringen will. Er malt sich aus, wie es sein wird, in das Haus seiner Kindheit zurückzukehren. Er malt sich aus, alles vorzufinden, wie er es verlassen hat, die Möbel, den Geruch, das Licht, er malt sich jedes Detail aus, inklusive der in dem Haus
befindlichen Menschen. Dann aber betritt er das Haus:

Nicht nur die Zimmer haben sich verändert, die Einrichtung, die Farben, vor allem die Menschen haben weitergelebt. Sie haben Kinder geboren, haben Erfolge erlebt
und Scheitern ertragen. Und all das ohne ihn. Wie tritt man seiner Mutter gegenüber, wenn man zwölf Jahre lang ihre Stimme nicht hören wollte? Wie nennt man seine
kleine Schwester, wenn man keine Ahnung hat, wer mit 14 ihre beste Freundin war? Und was sagt man seinem Bruder, der zwölf Jahre lang versucht hat, den Verlust des
verlorenen Sohnes vergessen zu machen?

Niemanden meinen wir besser zu kennen als die Menschen, mit denen wir aufgewachsen sind und von niemandem erwarten wir so kompromisslos, unserem
Bild zu entsprechen. Es ist schwer, diese Bilder zu verändern, sie sind ein fundamentaler Bestandteil unserer eigenen Bilder von uns selbst. Aus vielen übereinanderliegenden Bildern entsteht so das verworrenste Spiegelkabinett menschlicher Beziehungen überhaupt: Familie.

Schauspieler Benjamin Lillie, Bühnenbildner Jonathan Mertz und Regisseur Christopher Rüping im Gespräch mit Dramaturgin Katinka Deecke

Christopher, ist die Familie in Einfach das Ende der Welt eine besondere Familie? Oder ist sie, wenn auch auf ihre spezifische Weise, genau wie alle anderen bürgerlichen
Familien?

CHRISTOPHER RÜPING Das Stück erzählt schon eine sehr spezifische Familie, wobei ich glaube, dass jede spezifische Familiengeschichte voller Themen steckt, die
sich verallgemeinern lassen. Die Dokumentation eines individuellen Schicksals interessiert mich nicht besonders, sondern eher die Suche nach dem Allgemeinen im
Spezifischen, in diesem Fall zum Beispiel das Ringen um eine wirkliche Begegnung und die Frage, ob eine solche Begegnung überhaupt möglich ist.

Was müsste denn deiner Ansicht nach geschehen, damit es in dieser Geschichte zu einer ehrlichen Begegnung kommen kann?

CR Einem anderen Menschen offen zu begegnen, ist ja dann leicht, wenn man jemanden gar nicht kennt und sich zuvor auch kein Bild von der Person gemacht hat. Oder
genau umgekehrt, wenn man sich so gut kennt, dass man nicht nur ein sehr genaues, sondern ein mit etwas Glück sogar zutreffendes Bild von der anderen Person hat.
Zwischen diesen beiden Polen aber ist es schwer. Das Problem der Familie in unserem Stück ist, dass alle glauben, zu wissen, wer der:die jeweils andere ist. Vielleicht
ist das sogar generell ein Problem bei Familien – dass man meint, zu wissen, wer der:die andere ist. Und dass all diese Vorstellungen, die man von sich selbst und voneinander hat, echte Begegnungen verhindern. All die Bilder, die jede:r von sich selbst und von den anderen entworfen hat, verdecken die freie Sicht auf das Gegenüber.

Benjamin, man sagt ja oft, dass Schauspieler:innen auf der Bühne in einer doppelten Funktion sind: Einerseits als Figur, andererseits als Person. Wie viel Benjamin steckt in Deiner Figur?

BENJAMIN LILLIE Ich finde, es stimmt, dass man auf der Bühne doppelt dasteht. Und ich bemühe mich immer darum, dass viel von mir selbst in den Figuren steckt, die ich spiele. In diesem Fall nun handelt meine Figur wirklich komplett anders, als ich persönlich handeln würde. Der Typ dreht sich viel mehr um sich selbst, er ist auch viiieeeeel egozentrischer als ich. Außerdem hat er ein so festes und unveränderliches Bild von seiner Familie – solche festen Bilder hasse ich, ich versuche um jeden Preis, sie zu vermeiden, ich will offen für Neues sein, auch Leuten gegenüber, die mir eng vertraut sind und die ich eigentlich gut kenne. Ich versuche, mir das immer wieder vorzunehmen und mich zu überprüfen, ob das klappt. Und zumindest das Bemühen unterscheidet mich ganz sicher von dem Typen, den ich spiele.

Jonathan, spielt die Übertragung deines eigenen Lebens in Kunst für Dich eine Rolle? Oder einfacher gefragt: Wie sehr geht es in Deiner Arbeit um Dich selbst?JONATHAN MERTZ Das Tolle an Theater ist ja, dass am Ende ein Kunstwerk dabei rauskommt, das sehr viele verschiedene Perspektiven beinhaltet. Es geht nicht um die Auseinandersetzung des einen Künstlers oder der einen Künstlerin mit seiner:ihrer persönlichen Geschichte. Im Theater geht es immer um ganz viele Geschichten. Ich glaube, es geht mir nicht so sehr um mich persönlich. Bei diesem Stück von Lagarce stellen sich natürlich persönliche Fragen und wir haben auch daran gearbeitet, die herauszukristallisieren. Aber für mich ist das in diesem Fall eher eine Technik. die sich aus dem Stoff ergibt. Persönliches in meine Arbeit zu überführen, interessiert mit nicht per se. Wenn das Persönliche ein ästhetisches Werkzeug sein kann, dassich aus dem Stoff ergibt, benutze ich es gern.

Du arbeitest schon ziemlich lange mit Christopher zusammen und hast für ihn diverse Bühnenbilder entworfen. Wie kam es zu dieser so realistischen Abbildung einer Wohnung?

JM Das hängt mit dem Stoff zusammen. Wenn man sich wie hier mit einer ganz spezifischen Familie beschäftigt, kommt natürlich die Frage auf: Wie sieht ein Zuhause aus? Es geht dabei vor allem um Erinnerungen. Da ist nicht einfach ein Zimmer mit einem Tisch, sondern da ist der Papierschnipsel auf dem Tisch vorne in der Ecke. Es geht um die speziellen, einzelnen Gegenstände, die vollkommen außerhalb von ästhetischen Bewertungsmaßstäben liegen. Es geht nicht um „schön“ oder „hässlich“, sondern um die Geschichten, die jeder einzelne Gegenstand in sich trägt, um die Erinnerung, die in jedem Gegenstand gespeichert ist.

Vor allem in Frankreich, wo Lagarce bekannter ist als im deutschsprachigen Theater, gilt „Einfach das Ende der Welt“ auch als ein Stück über die Aids-Krise. Lagarce ist eine Ikone der schwulen Kultur, wir hingegen haben diesen Aspekt vernachlässigt – würdet Ihr noch mal rekapitulieren, warum?

CR Als Lagarce „Einfach das Ende der Welt“ kurz vor seinem HIV-Tod 1995 vollendet hat, war Aids ein Todesurteil. Das ist heute nicht mehr der Fall, zumindest nicht in der unglaublich privilegierten westlichen Welt, über die Lagarce schreibt. Wir wollten das Stück nicht historisch verorten, weder in einer bestimmten Epoche noch in einem bestimmten Land situieren. Im Stück selbst übrigens steht kein Wort von Aids, aber weil man die Biografie von Lagarce kennt, wird allgemein der Schluss gezogen, dass es sich bei der tödlichen Krankheit des Protagonisten um Aids handelt.

Beschäftigt Euch die Frage, ob Ihr als heterosexuelle Männer das Stück eines schwulen Autors über eine schwule Figur machen könnt?

JM Ja klar, denke ich darüber nach. Aber ich finde nicht, dass bestimmte Identitätszuschreibungen die Voraussetzung für die Beschäftigung mit einem Werk sind. Man muss achtsam sein und respektvoll, das ist wichtig. Nicht, ob man schwul ist oder nicht.

CR Ich glaube, dass es für unsere Geschichte am Ende völlig egal ist, wen der Typ liebt. Egal ob Mann oder Frau – mich interessiert die Frage, wie man sich selbst durch die Augen der anderen sieht. Das ist ein Kampf, den alle Figuren gleichermaßen kämpfen.

Ist es denn notgedrungen ein Kampf, sich durch die Augen von jemand anderem wahrzunehmen? Gibt es keinen Ausweg aus der Verunsicherung, die durch durch den Blick der Anderen entsteht?

CR Natürlich hofft man immer, dass man sich vom Blick der Anderen befreien kann. Die Realität aber ist, dass das so ziemlich unmöglich ist. Linderung kommt zumindest für mich nur dadurch, das zu akzeptieren.

BL Als Schauspieler muss ich diesen Blick natürlich akzeptieren, sonst hatte ich einfach den falschen Beruf. Wenn du Schauspieler bist, muss es jemanden geben, der das, was du tust, betrachtet und auch bewertet. Davon muss man sich zwar immer wieder auch frei machen, aber trotzdem bleibt einem bewusst, dass das ununterbrochen  stattfindet und man davon ja auch abhängig ist. Im Leben, außerhalb des Theaters, ist es dann vor allem wichtig, offen zu sein, nicht voreingenommen, nicht den eigenen Blick auf andere urteilend zu richten. Das klingt jetzt zwar total klischeehaft, aber ich glaube da wirklich fest dran. Das ist ja das große Problem der Figuren in dieser Inszenierung und vor allem des Protagonisten: Der Typ ist einfach nicht in der Lage, seine Leute anders zu sehen als er sie sich vorgestellt hat. Er hat ein fertiges Bild von ihnen und davon will er keinen Zentimeter abrücken.

Der Protagonist des Stückes kommt nach Hause, um seinen bevorstehenden Tod anzukündigen, kann sich aber dann doch nicht dazu entschließen, es auszusprechen. Und schweigt. Wieso ist der Tod in der bürgerlichen Kleinfamilie ein so großes Tabu?

JM Ich weiß nicht, ob das nur was mit dem Familienumfeld zu tun hat. Es gibt eher einen gesamtgesellschaftlichen Imperativ: Du darfst nicht sterben! Ich würde sagen, der Tod ist in allen sozialen Beziehungen ein Tabu. Man kann damit nicht pragmatisch umgehen, der Tod ist irgendwie verboten. CR Es ist einfach sehr schwer, über den Tod zu reden. Was soll man auch angesichts des Todes sagen? Über etwas zu sprechen, bedeutet ja immer auch, dieses Etwas in den Griff zu bekommen und der Tod ist halt
einfach nicht in den Griff zu bekommen.

Kann das Sprechen darüber nicht auch Erleichterung verschaffen?

CR Klar. Deswegen ist die Situation in dem Stück ja so zugespitzt: Der Protagonist hat angesichts seines nahenden Todes nur noch diese eine Chance auf eine Begegnung mit seiner Familie. Wenn er sich Erleichterung verschaffen will mit der Ankündigung seines bevorstehenden Todes, dann muss das jetzt geschehen. Aber es gelingt ihm nicht. Es kommt zu keinem Gespräch über das Leben, über die Vergangenheit, über den Vater – es wird die ganze Zeit eigentlich über nichts gesprochen. Und das liegt, glaube ich, eben daran, dass es so, so, so, verdammt schwer ist, sich wirklich zu begegnen, wirklich über irgendetwas zu sprechen – und dann auch noch über den Tod, das geht gar nicht!

Habt ihr eine Theorie, wieso in der westlichen Welt die allermeisten Künstler:innen aus bürgerlichen, höchstens noch kleinbürgerlichen Familien kommen? Ist Kunst ein bürgerliches Phänomen?

JM Für mich persönlich war das Kunststudium genauso naheliegend wie eine Ausbildung zum Molkereitechniker. Kunst ist ein Teil des Lebens meiner Eltern und war auch für mich immer zugänglich. Kunst kannst du machen, wenn du bereit bist, freiwillig wenig Geld zu haben. Und das ist natürlich viel einfacher, wenn du über Geld nicht nachdenkst oder nachdenken musst, weil du Auffangnetze hast. Superbürgerlich.

CR Bürgerlichkeit ist kein Eignungskriterium für künstlerisches Tun. Aber wenn jemand 24/7 mit dem Überleben beschäftigt ist, wird er:sie nicht unbedingt Zeit dafür haben, ein Bild zu malen. In 90% aller Fälle ist Kunst nur möglich, wenn man eine gewisse Form von Luxus im Leben hat, nämlich den, nicht die ganze
Zeit mit dem eigenen Überleben beschäftigt sein zu müssen.

Habt ihr irgendeine Theorie, warum es in dem Stück keinen Vater gibt?

CR Nein, das bleibt Spekulation. Vielleicht ist er gestorben, vielleicht hat er seine Familie verlassen, vielleicht gab es nie einen Vater. Fakt ist: die Abwesenheit des Vaters erzeugt im Abgleich mit der konventionellen bürgerlichen Familie ein Vakuum. Die Familie, die Largace zeigt, ist um ein Vakuum herum gebaut, um eine leere Stelle, und dadurch wird jede andere Verbindung innerhalb dieser Familie zerbrechlicher. Das ist narrativ klug; es ist klug, dass die Beziehungen nur deswegen Bestand haben, weil sie
sich gegenseitig stützen, und nicht, weil sie aus sich heraus stabil wären.