Verfranst im Alltag der Apokalypse Johann Otten über eine leicht verrutschte Gegenwart
Kürzlich irritierte der Blick in den Spiegel: Sonnenbrand? Im März, nach nur einem Nachmittag im Park?
Nun, nicht gleich Hitzeblasen, doch durchaus rot war die Haut. Kein Wunder, der März 2024 brach erneut Rekorde, als heißester seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen. Das vergisst jedoch schnell, wer nicht gewissenhaft mehr als nur die Überschriften großer Tageszeitungen liest, sind Meldungen über derlei Temperaturrekorde doch genauso vergänglich wie die Sicherheit, dass es mit den Klimaveränderungen doch nicht so schlimm kommen wird. Konkurrieren die Wasserstandsmeldungen über den Zustand unseres Planeten doch mit sich täglich übertreffenden Schlagzeilen über geopolitische Schieflagen, Gewalt und Terror. Wer hier von Zusammenhängen spricht, bleibt meist unerhört. Komplexität überfordert, viel attraktiver ist das Verdrängen. Welche Getränke wohl jetzt bei der vermutlich sommerlichen Lektüre nötig sind, um das erhitzte Gemüt zu kühlen?
Räucherlachs und Riesenböen
Meister solcher Verdrängung sind Cat und Todd. Todd arbeitet als Vertreter für einen großen Alkoholkonzern und organisiert Cocktailpartys, Cat versucht sich als Influencerin und hofft, mit zwei Tigerpythons als Markenzeichen ihre Followerzahlen in ungeahnte Höhen zu katapultieren. Ärgerlich, dass dabei das Meer um ihre Strandwohnung in Florida so hochsteigt, dass das Salz des Wassers unansehnliche Rostblasen auf dem Lack des Teslas auf der Auffahrt hinterlässt.
Der Wind kam in Böen, aber wirklich heftig wurde er erst, als die über hundert Gäste an den langen Tischen saßen und der erste Gang aufgetragen wurde: Räucherlachs auf knusprigen Kartoffelküchlein mit einem Klecks Sauerrahm und Dill, dazu ein kalifornischer Sauvignon Blanc, den der Bräutigam persönlich ausgesucht hatte. Man plauderte entspannt, umfächelt von einer willkommenen Brise, doch dann jagte aus dem Buschland unvermittelt eine Bö heran, packte die Zeltdächer und ließ sie flattern wie Segel. Servietten und Programme wirbelten durch die Luft, Gläser schwankten, Frisuren verloren die Form – und dann: nichts. Ruhe. Die Sonne stand am Himmel und ließ die Temperatur steigen. Man war überrascht worden. Aber schließlich handelte es sich um eine Hochzeit im Freien mit einer offenen Bar und vermutlich hervorragendem Essen, und so grinsten die Gäste, zwinkerten und lachten. Witzige Bemerkungen flogen hin und her. Ein bisschen Wind. Besser als Moskitos, oder?
T.C. Boyle – Blue Skies
Cat und Todd sind zwei Figuren aus T.C. Boyles Blue Skies, einem Roman, der beim Erscheinen im vergangenen Sommer wohl auch zu allerhand Sonnenbränden geführt hat, als beliebtes Strandutensil und so fesselnd, dass die dringend nötige Sonnencreme schnell vergessen war. Sieht doch die Welt, von der Boyle erzählt, unserer verdächtig ähnlich, als ob sich hier etwas übers eigene Leben lesen ließe. Dennoch seltsam verrutscht, unmerklich entglitten durch Extremwettereignisse, die nicht nur die weißen Tischdecken auf einer Hochzeit in Wallung bringen, sondern auch ganze Fischschwärme über amerikanische Highways ergießen, Insekten vom Himmel regnen, überhaupt diese bekannte Natur ganz unwirklich erscheinen lassen.
Die Natur schlägt zurück
Wie lässt sich nur über die kommenden Veränderungen erzählen, wie über die Zukunft unseres Planeten, wenn nicht in Form der Apokalypse? Schlagen doch schon jetzt alle Messinstrumente des realen Lebens in bislang unerreichte Bereiche aus.
T.C. Boyle bevölkert dafür den Kosmos um eine amerikanische Familie mit allerhand Skurrilität, da werden Heuschrecken gezüchtet und verspeist, da verliert ein junger Zeckenforscher seinen Arm und gerät an eine Liebhaberin von Amputationen und auch die Tigerpythons bleiben nicht so brav wie erhofft. Derb verhandelt Boyle diese Pranke der Natur, die mit weitem Bogen ausholt, um dem Menschen eins auszuwischen, gerade, als er sich in den westlichen Breiten so gemütlich eingerichtet hat.
Über solcher Satire schwebt aber auch die Hoffnung, sich selbst zu erkennen, bevor es zu spät ist. Nach all den Temperaturrekorden aufzuwachen und die Beine nicht zur Flucht in die Verdrängung, sondern zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft in die Hand zu nehmen. Bleibt schließlich noch eine Lücke zur Apokalypse, die es jetzt und in der realen Welt zu verhindern gilt.