Was ist moderne Autor:innenschaft? von Marie Eisenmann
Vor mir sitzt die leere Seite.
Meine Gedanken wandern weg vom Laptopbildschirm. Ich checke Instagram. Morgen ist Europawahl. In Süddeutschland treten die Flüsse über die Ufer. Ich denke daran, meine Eltern anzurufen, die dort wohnen. Denke darüber nach, wo meine Wahlbenachrichtigung eigentlich liegen könnte. Und denke und denke und komme nicht zum Schreiben.
Den Workshop INSIDE_dramatik von Theaterautorin Nele Stuhler hatte ich eigentlich nur besucht, um herauszufinden, was moderne Autor:innenschaft auszeichnet. Den Autor:innenTheaterTagen (ATT) übergeordnet steht die Frage: Wie können Geschichten dabei helfen, die Risse zu begreifen, die sich durch unsere Gegenwart ziehen? „Dafür müssten sie erst geschrieben werden“, denke ich mir. „Aber wie schreiben, wenn alles aufeinander einprasselt?“
Und nun muss ich es selbst tun. Nur eine Szene: Jemand tritt auf die Bühne und hat ein Problem.
Leichter als Prosa?
Während des Workshops sagt Nele Stuhler, dass sie ohne Schreiben nicht leben könne. Aber manchmal habe sie trotzdem keine Lust dazu. Patty Hamilton, ebenso Theaterautorin, hatte in der Eröffnungsrede der ATT über etwas Ähnliches gesprochen: „Das Warten auf eine kreative Idee ist Tortur.“ Ebenso Fatma Aydemir, die im Nachgespräch der Berlin-Premiere von Doktormutter Faust erzählt, sie habe gedacht für’s Theater zu schreiben sei einfach. Alle Beschreibungen würden schließlich wegfallen, das klinge viel leichter als Prosa.
„Ziemlich schwer ist es aber“, denke ich mir, während ich tippe und anschließend lösche, was ich getippt habe und dann doch wieder tippe. Und peinlich klingt es auch, wenn ich mir vorstelle, dass es jemand anderes laut vorliest. Trotzdem war diese Erkenntnis, dass Autor:innen beim Schreiben zweifeln, ermutigend gewesen, nicht einfach aufzuhören, sobald ich bemerke, dass irgendwie nicht auf magische Weise eine Szene von größter, ja, goethegleicher Sprachgewalt aus mir herausfließt – nein, nicht fließt, gegen das Innere meines Körpers hämmert, weil sie endlich, endlich aus ihm heraus und in die Welt will. Ich müsste also nicht erst Universalgenie oder Medium der Götter werden, bevor mein Schreiben irgendeine Daseinsberechtigung in diesem Workshop hätte.
Kopf-an-Kopf mit der KI
In erster Linie ist Schreiben Arbeit. Moderne Autor:innenschaft setzt also voraus, dass sie als solche betrachtet und entlohnt wird. „Eine Frau muss Geld und einen Raum für sich haben, um Literatur zu verfassen,“ stellt Virginia Woolf vor hundert Jahren fest. In Anbetracht der ökonomischen Entwicklungen brauche es Förderungen für das Schriftstellen, betont Patty Hamilton. Sonst droht das künstlerische Prekariat. Solche Überlegungen werden auch dann relevant, wenn man auf den Fortschritt im Bereich der Künstlichen Intelligenz denkt. Wie viel ist menschliches Schreiben noch wert, wenn Autor:innen mit ChatGPT konkurrieren müssen.
Für die KI ist Schreiben ein Ding der Sekunde. Bei mir steht noch immer nichts auf dem Blatt. Ich muss wieder an die Eröffnungsrede von Patty Kim Hamilton denken. Sie wolle große, bedeutende Texte schreiben. Und ich denke an das Stück Als die Götter Menschen waren von Amir Gudarzi, das die Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus thematisiert.
Keinesfalls unschuldig
„Wie soll ich überhaupt ein Thema wählen, wenn alles dringlich und erzählenswert erscheint. Wenn es so vieles gibt, das erzählt werden müsste. Und wie erzählt man, die großen und richtigen und wichtigen Dinge, ohne etwas falsch zu machen?“
Bevor sich im Raum alle zurückgezogen hatten, um ihre Texte zu schreiben, sprach Nele Stuhler davon, dass Schreiben kein unschuldiger Vorgang sei. Auch so eine große Frage: Wie viel Verantwortung tragen Autor:innen?
Wenn man Werk und Autor:in trennt, natürlich keine.
Muss Schreiben überhaupt politisch sein? Oder gar ethisch?
In diese Diskussion mischt sich momentan, vielleicht auch schon immer, der Generationenkonflikt ein. In der Kunst muss alles erlaubt sein, sagen die einen. Aber Kunst kann verletzen, die anderen. Was kunstfreiheitlich erlaubt ist, kann moralisch dennoch bedenklich sein. Ich frage mich, wie interessant Kunst sein kann, die so tut, als würde sie außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge entstehen. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass jeder alles schreiben darf, kann immer noch gefragt werden: Was lohnt sich, gelesen zu werden?
Schreiben, Körper, Text
Daran knüpft die Schwierigkeit an über andere, deren Erfahrungen wir nicht gemacht haben, zu schreiben. In Kim de l’Horzions Blutstück wird verhandelt, wie Körper zu Schatullen für Erfahrungen, Schmerz, Trauma und Scham werden. Die Großmeere, also unsere weibliche Vorfahren, beginnen zu schreiben, um der Gewalt, die ihren weiblich gelesenen Körper wiederfährt, zu entkommen. Zwischen dem Schreiben und dem Text steht der Körper.
Wer für die Trennung von Werk und Autor plädiert, kommt an Roland Barthes nicht vorbei. Er ruft 1967 den Tod des Autors aus. Doch auch er argumentiert, dass das Schreiben nicht ablösbar von der körperlichen Erfahrung ist. Ein bestimmtes In-der-Welt-sein führt bei Barthes zu einer bestimmten Form des Schreibens. Autor:innenschaft ist vielleicht anzuerkennen, dass nur Körper schreiben können. Und als solche mit ihren Erfahrungen schreiben, eine Schnittstelle bilden zwischen Welt und Gedanke.
Ich beginne erneut zu tippen. Einen Körper habe ich. Vielleicht auch etwas zu sagen. Ich sehe, wie andere am Tisch ratlos in ihre Laptops schauen. Sie tippen und stoppen und tippen und ringen ebenso um Worte wie ich. Eine Person sagt: „Mann, das geht so echt nicht. Ich bräuchte viel mehr Zeit.“ Nele Stuhler sagt, wir sollen langsam zum Ende kommen.
Radikale Abhängigkeit
„Ich werde meinen Text bestimmt nicht vorlesen. Niemals sind Worte auf schlimmere Weise aneinandergefügt worden“, denke ich mir, während die erste Person ihre Szene vorliest.
„Andererseits würde ich mich ärgern, wenn ich ihn jetzt gar nicht lese, wo ich ihn doch schon geschrieben habe“, sage ich zu mir selbst. Ein neuer Text wird gelesen.
„Unmöglich, so etwas Schlechtem kann ich niemanden aussetzen.“ Dabei hatten alle im Raum wohlwollend zugehört und liebevoll Feedback gegeben.
Schreiben ist sich verletzlich machen und sich dann nochmal richtig verletzlich machen, wenn man den Text schließlich zum Lesen an andere abgibt. Kim de l’Horizon sagt im Prolog zu Blutstück: „Schreiben ist nicht einsam.“ Vielleicht beschreibt diese Idee moderne Autor.innenschaft: zu erkennen, dass wir radikal voneinander abhängig sind und in diese Abhängigkeiten hinein schreiben. Kurz bevor der Workshop zu Ende ist, überwinde ich mich.
In Nele Stuhlers Stück Leichter Gesang gibt es folgenden Satz: Schreiben sind Worte, die werden.
„Vielleicht ist dies ein Text im Werden“, denke ich.