© Thomas Aurin Carlo Krammling, Jens Koch, Andri Schenardi

Programmzettel Das Dinner

  • Jugendgewalt
  • Elternprobleme
  • Moral-Krimiigerpython

Was würden Sie tun, wenn Sie kurz davor sind, Premierminister des Landes zu werden und von einem Verbrechen erfahren, welches Ihr halbwüchsiger Sohn zusammen mit seinem Cousin verübt hat? Für das es keine Zeug:innen zu geben scheint und das schon wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis des Landes verschwindet? Zwei Elternpaare treffen sich in einem Luxusrestaurant zum Essen und tasten sich vorsichtig zwischen Aperitif, Vorspeise und zahlreichen weiteren Gängen voran. Jede:r einzelne in diesem Familienquartett bewertet die Situation anders. War es kindliche Naivität, jugendliches Austesten von Grenzen oder ein kaltes Verbrechen? Müssen sie die Jungs anzeigen und zur Verantwortung ziehen? Oder sollte man das Ganze lieber vertuschen, um die Zukunft der Söhne nicht zu ruinieren? Schließlich war es doch nur eine verwahrloste Obdachlose, die zu Tode kam und die wirklich niemand vermissen wird. Und haben nicht auch die Erwachsenen etwas zu verlieren? Das Dinner ist ein Moral-Krimi und ein Debattier Stück voll raffinierter Wendungen und überraschender Finten. Es geht um Überforderung in einer Ausnahmesituation und es geht um Gewalt: wie sie unter dem dünnen Firnis der Zivilisation kraftvoll überlebt, wie der Aggressionstrieb des Menschen familiär übertragen und gesellschaftlich beschwiegen wird, wie er verdrängt, verharmlost und medikamentiert dafür sorgt, dass alles weiterhin gut funktioniert

Essen und Moral von Karla Mäder

Wenn man vom Deutschen Theater durch die Albrechtstraße und weiter über die Brücke zum S-Bahnhof Friedrichstraße geht, hat man sie direkt vor Augen: Obdachlose, „die sich einem einfach so in den Weg legen“, wie Claire in der aufgeheizten Diskussion irgendwann sagt. Menschen, die würdelos auf der Straße leben, der Müll, der sich rund um ihr Lager sammelt, der Gestank, der sich ebenfalls ausbreitet, von Alkohol und Drogen will man besser erst gar nichts wissen – all das kann man nicht gut finden. Man senkt den Blick, atmet möglichst flach und geht schnell seines Wegs. Um dann in der S-Bahn auf Verkäufer:innen von Straßenzeitungen und Bettler:innen zu treffen.

Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich, die angeblich immer weiter aufgeht, ist in diesem Theaterstück besonders deutlich zu besichtigen: Zwei Ehepaare treffen sich zu einem Problemgespräch ausgerechnet in einem Luxusrestaurant, in dem man am Ende des Abends mehrere hundert Euro auf den Tisch legt. Dort wollen sie über ihre Söhne reden. Diese haben einen bislang unaufgeklärten Mord an einer Obdachlosen begangen, die in einem Geldautomatenhäuschen schlief und deren Gestank die Jungs beim Geldabheben störte. Lange umkreisen die Eltern das Thema, belauern einander und vermeiden klare Worte. Jede:r der vier weiß mehr und anderes als die anderen drei und jede:r hat seine eigene Meinung dazu. Bis wirklich Tacheles geredet wird, ist man beim Dessert angekommen.

Der Roman Angerichtet, auf dem das Theaterstück basiert, erschien 2009. Gewaltverbrechen, die den im Roman geschilderten verdächtig ähneln, sind grausame Realität. In Wien tötete im Sommer 2023 ein 17-jähriger mehrere Obdachlose durch Messerstiche. Ende 2023 verprügelte ein 15-jähriger einen Obdachlosen so stark, dass dieser starb. Im November 2023 töteten in der Nähe von Lippstadt drei Jugendliche, 14 und 15 Jahre alt, einen Obdachlosen, filmten die Tat und stellten sie ins Netz. Laut Wohnungslosenhilfe wurden allein in Nordrhein-Westfalen 2023 neun obdachlose Menschen getötet. Von diesen Taten dringt relativ wenig an unser Ohr. Die Opfer haben keine große Lobby. Die bürgerliche Mitte der Gesellschaft nimmt sie eben vor allem als lästiges, scheinbar unlösbares Problem wahr, von dem man am liebsten hätte, dass es sich in Luft auflöst.

Die schlechte Nachricht ist: Obdachlose Menschen werden sich so schnell nicht in Luft auflösen. Aktuell sind mehr als 600.000 Menschen in Deutschland wohnungslos (Geflüchtete nicht eingerechnet), viele davon leben in verdeckter Obdachlosigkeit, indem sie z.B. bei Bekannten auf dem Sofa schlafen. 50.000 Men schen leben dauerhaft obdachlos in Deutschland auf der Straße, bis zu 10.000 davon in Berlin, glaubt man der Dunkelziffer. All das ist schlimm, und schlimm ist auch, dass die Tendenz steigend ist. Was also tun, wenn ein Großteil der Gesellschaft eher Flucht- und Wegschau tendenzen hat, christliches Mitleid als Kardinaltugend verschwunden und offenbar auch der Sozialstaat damit überfordert ist, Maßnahmen zu schaffen, die wirklich etwas verbessern?Überforderung allerorten. Die Familien im Stück sind es gewiss, und auch der Autor hat keine Lösung für die Obdachlosenproblematik zu bieten, aber viele Fra gen, die sich stellen. Strukturell folgt sein Roman einer Komödiendramaturgie, bei der eine Ordnung durch ein unvorhergesehenes Ereignis durcheinandergerät und nach turbulentem Geschehen wiederhergestellt wird, so dass alles weitergehen kann wie bisher. Das tragische Element dabei sind freilich die Opfer, die diese wiederhergestellte Ordnung fordert: Neben der toten Obdach losen, der keine Gerechtigkeit geschieht, verschwindet ein weiterer Mensch, ein Zeuge, den ebenfalls niemand vermissen wird. Denn wer arm, schutzlos und ohne soziales Netz ist, lebt offenbar extrem gefährlich in einer moralisch janusköpfigen Gesellschaft, die vor allem auf die Erhaltung ihrer Privilegien aus ist.

Herman Kochs Roman ist ein effektvoll konstruierter Thriller mit einem Erzähler, der sich in aufeinander folgenden, teils weit zurückreichenden Rückblenden zunehmend als unzuverlässig und handlungsunfähig enthüllt. Zwar weiß man schnell, wer die Täter sind – die Kinder – aber wer oder was führte eigentlich genau dazu, dass die Jugendlichen, die auf der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein stehen, Gewalt gegenüber wehrlosen Obdachlosen ausüben? Darüber wird zu reden sein.

Werte auf dem Prüfstand Ein Gespräch mit dem Regisseur András Dömötör

Was war dein Ausgangpunkt für die Beschäftigung mit diesem kammerspielartigen Stoff?

Sowohl das Normale als auch z.B. das gänzlich - Verrückte sind im Theater uninteressant. Mich inte ressiert daher die Grenze zwischen Normalität und Nicht-Normalität. In diesem Stück sind die Figuren, die Situationen, der Schauplatz wiedererkennbar, also „fast normal“, aber eben doch überhöht und damit theatral interessant. Das Gesellschaftsbild, das im Roman von Herman Koch gezeigt wird, dramaturgisch und inszenatorisch zu knacken, ist eine spannende Herausforderung. Auch weil das Stück so viele Register hat: vielschichtige Figuren, einen verstörenden Plot, es ist ein satirischer Thriller mit Humor – Galgenhumor. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, diese Komplexität einzufangen.

Der Roman Angerichtet, auf dem das Theaterstück basiert, ist sehr trickreich konstruiert. Welche Heraus forderungen gab es für die Theaterfassung?

Der Roman spielt während eines Abendessens in einem Luxusrestaurant, erzählt sich aber in vielen Teilen - assoziativ und in Rückblenden, die oftmals weitere Zeit - sprünge beinhalten. Wir verstehen diese durch die Asso ziationen von Paul, der im Roman der Erzähler ist. Mir war es wichtig, die assoziative Struktur in der Theaterfassung - beizubehalten und trotzdem einen linearen Handlungs strang zu etablieren. Zudem war es mein Wunsch, mit - Karla Mäder eine Dramaturgie aufzubauen, die musika lisch funktioniert. Es gibt Kapitel oder Sätze wie bei einer Symphonie. Über diese Sätze soll sich der Theaterabend theatral entwickeln. Wir haben anfangs Motive und einen Stil, der sich im Mittelteil verändert, und später kehren wir zurück zu ihm. Die Interaktion der verschiedenen Stile verstehe ich musikalisch. Verbunden werden sie auch bei uns durch eine Erzählperspektive, die allerdings zunehmend nicht nur Paul umfasst.

Im Grunde zeigt das Stück mit Claire, Paul und Babette Figuren, die unter dem enormen Druck eines familiären Ausnahmezustands moralisch entgleisen. Inwiefern - steckt in der Darstellung ihres Umgangs eine Gesell schaftskritik – oder kannst du ihre Entscheidungen als individuelles Fehlverhalten entschuldigen?

Grundsätzlich ist es für mich im Theater wichtig, dass wir durch Figuren oder eine Geschichte über die Gesellschaft und politische Fragen sprechen, ohne dabei ideologisch zu sein. Wir haben in diesem Stück zwei Familien, die in sehr enger Verbindung stehen. Sie bilden eine kleine Symbolgesellschaft, eine gutsituierte, bürgerliche, westlich-europäische Gesellschaft. Sie befinden sich nach dem Tod bzw. dem Mord an einer obdachlosen Frau gemeinsam in einer Situation, die ihre Werte auf den Prüfstand stellt. Es ist aber nicht so, dass uns die Figuren und der Stoff ein politisches Konzept liefern, sondern es ist umgekehrt: Durch die Figuren und deren Geschichte verstehe ich ein Gesellschaftsbild, das ein ziemlich düsteres Bild einer zukünftigen europäischen Gesellschaft ist.

Kannst du das noch genauer schildern?

In meinem Erleben steht die liberale Demokratie der westeuropäischen Gesellschaft in der heutigen politischen Situation auf einem Prüfstand. Unsere demokratischen Werte sind aus vielen Richtungen bedroht: von Krieg, ökonomischen Krisen, politischen Krisen, Rechtsextremismus, Populismus. Es erscheinen neue oder vielmehr alte Kräfte, archaische und patriarchale, die unser humanistisches Wertesystem infrage stellen, es aus den Angeln heben, es ignorieren. Sie ignorieren das Wertesystem jedoch nicht vollkommen, sie behaupten vielmehr, man könne es in gewissen Situationen aussetzen. Das Stück zeigt genau dieses Paradoxon.

Ein Stück mit einem sehr unzuverlässigen Erzähler, wie sich peu à peu herausstellt …

Paul ist für mich insgesamt eine sehr interessante Figur. Ich sehe ihn als einen sehr talentierten, aber verlorenen Menschen, einen manischen Melancholiker. Vor allem in den Rückblenden sehen wir deshalb immer wieder seinen bösen Zynismus. Und plötzlich muss Paul das Rätsel um den Mord an einer Obdachlosen lösen. Deshalb lese ich diese Geschichte auch als Krimi, einen Thriller mit viel Spannung. Im Mittelpunkt des Stücks steht Paul als absurder und völlig überforderter Detektiv, der aber eigentlich vor allem versucht, das Familienglück zu retten.

Alle Familienmitglieder agieren an verschiedenen Grenzen.

Ist ein 15-jähriger Jugendlicher, der aus Versehen eine Obdachlose tötet, „normal“ oder ist er krank? War das Ganze ein Unfall, ist Michel unschuldig, weil seine Übergriffe an Obdachlosen ein Spiel für ihn sind und können oder sollten wir sein Verhalten verstehen? Ist Paul vor allem von seiner Krankheit beeinflusst, oder ist er nur aus der Perspektive einer sich selbst als „normal“ bezeichnenden Gesellschaft krank und in Wirklichkeit doch ganz „normal“? Inwieweit handelt Claire egoistisch, oder schützt sie nur Sohn und Ehemann, die sie über alles liebt? Und kann das von Paul so oft beschworene Familienglück wirklich ehrlich sein, wenn es auf so vielen Lügen und Manipulationen aufgebaut ist? Sind die Ereignisse des Stücks und der Umgang der Familien damit wirklich Fragen von moralischer Entscheidung? – Aus einer unbeteiligten und distanzierten Perspektive fällt es uns natürlich leicht, den Figuren ihre moralischen Entgleisungen vorzuhalten. Aber was würde wirklich mit uns passieren, sollten wir einmal in einer ähnlichen Situation stecken?

Das Gespräch führte Jacob Bührle

„Das wird heute kein entspannter Abend.“ – Claire Lohmann