
Programmzettel Große Gewinne Schwere Verluste
Ein Paketshop, der früher mal eine Tankstelle war von Bernd Isele
„First things first“, sagt die Botschafterin. Und gleichzeitig glaubt sie nicht mehr ganz daran, denn ihre Verbindung zu den Dingen ist irgendwie flüchtig geworden, „ohne Faden, ohne Selbst“. Wie alle anderen um sie herum war die Botschafterin früher mal eine Spezialistin. CCS! Carbon Capture and Storage! Nun fühlt sie sich nur noch von sich selbst gerahmt; sie ist „die, der ihre Performance lahmt“: Hier bin ich doch! Siehst du mich denn nicht? Hallo. Hier ganz hinten.
Ähnlich ergeht es Anne, die mal Janet hieß. Sie bleibt tapfer, obwohl auch sie nach kraftvollen Anfängen auf der Strecke geblieben ist. Zuerst war Open Access; danach dann nicht mehr viel. Und trotzdem: „Da war nicht nur Lücke“, sagt Anne. Obwohl sie heimlich schon ein bisschen enttäuscht darüber ist, ungesehen zu sein hinter den vielen Scheiben und hinter ihrer selbstgeschönten Biografie. „Du musst was leisten. Alles andere kommt danach“, hat ihre Mutter immer gesagt.
Hartmut findet MP3 nicht gut. In seiner Welt ging es um High Fidelity und Liveness, in den Höhen, den Mitten und den Bässen – in Röhren, auf Reifen, überall. Hardy war früher Irritation. Seine Welt war die „Gammelwiese“, seine Bühne war tief und weit. Jetzt ist die Welt erstens schmal geworden – und zweitens zu einer Scheibe. Das findet zumindest James, der die Klarheit vermisst, die es in jenen Zeiten gab, in denen revolutionäre Bildtelefonie noch Agentensache, Hunde noch Hunde und Helden noch Helden waren. Heute dagegen: sehr unsicher alles. „Tomorrow leider dies“.
Und schließlich: Ayanda. Sie hat in all diesen Verlustlandschaften eine Aufgabe gefunden, die Verbindung heißt. Ihr Connection Point verbindet nicht nur Verschiedenheit mit Anderssein, sondern alle mit sich selbst und miteinander. Ob das funktionieren kann? An diesem Ort, der früher mal eine Tankstelle war … Und heute? Ein Schuttablageplatz für pixelige Avatare? Sicher gut, dass Ayanda bei der Verbindungstherapie Hilfe von Experten hat, die Text an Musik und die Bühne an das Publikum anschließen: Schorsch Kamerun und PC Nackt halten den Verlustgeschichten Klang, Text und Stimme entgegen und haben dafür ein Chorkollektiv gefunden, das im wahren Leben Richardchor heißt und – im Gegensatz zu Stefanie, Janet, Hardy und James – in Neukölln und damit ganz im Heute zuhause ist. Diese Sänger:innenschar aus vorwärtsgewandten Menschen weiß, dass die einfachsten Ideen nicht immer die besten sind und feiert trotzdem den Begegnungsort als Neubeginn – erst recht, wenn die riesige schwarze Spinne namens Trouble wieder nachts über die Hausdächer kriecht.
Was sich aus all diesen Verbindungen ergibt, ist … ja was eigentlich? Musiktheater, Musical, Ab- und Mutgesang! Tap, tap, tap the screen. Please send out those love hearts.
Nützliche Katastrophen?
Große Gewinne Schwere Verluste – als sich bedingendes Begriffspaar einer als chaotisch erlebten Gegenwart: Der NASDAQ legt zu – pazifische Inselgruppen versinken im Meer. Deutsche Waffenfirmen verzeichnen Kriegsgewinne, wo Staaten Gebiete und die Menschen ihr Leben verlieren. Eine kleine Gruppe von Superreichen machen den Globus zum Spielball, während die sogenannten Modernisierungsverlierer zurückfallen. Dem Vertrauensverlust in die Politik stehen weltweit Stimmgewinne rechter Parteien gegenüber. Denn das Versprechen, Nationen „wieder groß“ zu machen, verfängt besonders bei steigender Verlustangst. Diese „nützlichen Katastrophen“ (Die Goldenen Zitronen), so schreibt es der Soziologe Andreas Reckwitz, „kommen dem Populismus gerade recht, ja, sie werden von ihm systematisch genährt. Populismus ist politisches Verlustunternehmertum“.
Warum das Spiel mit dem Verlust so gut funktioniert, erklärt die Autorin Judith Schalansky so: „Die Erde selbst ist ein Trümmerhaufen vergangener Zukunft, und die Menschheit die sich streitende Erbengemeinschaft einer Vorzeit, die fortwährend angeeignet und umgestaltet, verworfen und zerstört, ignoriert und verdrängt werden muss, so dass entgegen landläufiger Annahme nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit den wahren Möglichkeitsraum darstellt“. Verluste sind verlorene Wetten auf die eigene, vergangene Zukunft. „Gib auf, Närrin“, sagt Stefanie im Stück, „Fortschritt produziert Verluste“.
Kollektivität
Was also ist zu tun? Was gilt es als Gewinn zu verteidigen? Die Stärkung von Denk- und Begegnungsräumen? Das Theater als Ort des Protestes … gegen Streichlisten und für die bedrohte Freiheit der Kunst … Die Möglichkeiten einer Gruppe, die in gemeinsamer Verantwortung einen Theaterabend erfindet … oder kollektiv einen Paketshop eröffnet, sich mit einem Chor verbündet, die physische Gemeinschaft wieder zu feiern lernt … „Um zu überleben, müssen wir manchmal über unsere Programmierung hinauswachsen”, sagt Ayanda.
„In jenen Gassen, wo Schatten wohnen / Die Stimmen
klappern, die Töne drohen / Aufbruch naht, die Ketten
brechen / Avantgarde, will mit uns sprechen."
Verbundenheit Interview mit Schorsch Kamerun
„Große Gewinne Schwere Verluste“ erzählt von einer Welt, die durcheinander geraten zu sein scheint: Disruption ist ein gängiger Sprachcode für unsere Gegenwart. Wie entsteht ein solcher Theaterabend? Wie findet das „Durcheinander“ auf die Bühne?
Erstmal finde ich den Vorgang, ein „Durcheinander” anzunehmen und dieses begehbar zu machen per se ganz unbedrohlich, weil Methoden, die begradigen oder vereinfachen, mir verdächtig sind. Ich glaube Unübersichtlichkeit und Komplexität lassen sich nicht einzäunen, wie politischer Populismus es vorschlägt. In unserem Stück spielen wir unterschiedlich betroffene, „zerworfene“ Biografien durch und kippen sie in eine „unpassende“ (Zwangs-)Gemeinschaft. Aus der heiß gelaufenen Individualität verschiedener Subjektivierungen, egal ob aus Wirtschaft, Gegenkultur, f lacher Selbstverwirklichung oder strauchelndem Filmheldentum, überlegen wir, ob durch die Klarheit physischer Verbundenheit ein Ausweg entstehen kann. Gern auch ungeordnet und im Widerstreit.
Du bist selbst Musiker, auch abseits von Theaterbühnen. Mit dem Komponisten PC Nackt verbindet Dich eine langjährige Arbeitsbeziehung. Wie würdest Du – zwischen Theater und Konzert – das Genre beschreiben, in dem Ihr Euch und in dem sich der Abend bewegt?
Wir sind ja wie viele andere unserer Generation hauptsächlich in Film- und Popkultur sozialisiert und unser Versuchen wirkt dann am stärksten, wenn es uns mit dem ganzen Ensemble, das am Prozess stark beteiligt ist, und mit weiteren, anderen Mitmachenden, inklusive dem ganzen Team gelingt, das eigentlich gruselige Unterfangen „Crossover“ zu einem flüssigen Abend zu verschneiden. Dabei nehmen wir die speziellen Gesetze der darstellenden Bühne sehr ernst, versuchen obendrauf unsere zusätzliche künstlerische Herkunft möglichst gewinnbringend einzusetzen. Wir suchen nach heutigem Musiktheater mit der Hirn erweiternden Kraft von Theatersprache.
Der Titel des Abends suggeriert, dass alles zwei Seiten hat. Im Laufe der Proben haben wir aber dann schon gemerkt, dass der Verlust uns gerade etwas näher ist als der Gewinn. Oder?
Ja, schon. Aktuell setzt sich leider eine brutale Akzeptanz durch, dass der Gewinn einiger Weniger mit den hohen Verlusten ganz Vieler erreicht werden darf. Universell ökonomischer Egoismus ist der gewählte Weg der Stunde. Aber wir glauben auch weiter an die Power des Widerstands. Ich als alter Punker behaupte dabei natürlich, dass wenn eine bestimmte sinnige Irritation, aufgeblüht im einigen Kollektiv „gemeinsam abgeht“, dass daraus eine Szene blühen kann, die attraktive Gegenkräfte entwickelt. Genau das ist auch unser Vorschlag, weniger eine schlagkräftige Ideologie als erstmal nur die Kraft der Verbundenheit, des Zusammenkommens – auf Plätzen, in Diskursräumen, unbedingt auch im Theater. Räumliche Nähe als Strategie. Wenn es dabei hilft, mit tollen Anderen einen Paketshop aufzumachen, der mal eine scheiß Tankstelle war, dann kann so eine Zelle Power haben.