
Programmzettel Eines langen Tages Reise in die Nacht
Ein Sommerhaus an der Küste von Connecticut, um genau 08:30 Uhr morgens – so beginnt die Handlung, die sich an einem Tag im Wohnzimmer der Familie Tyrone abspielt. Diese besteht aus dem Schauspieler James, seiner Frau Mary und ihren beiden Söhnen, Jamie und Edmund, sowie ihrem Dienstmädchen Cathleen. Jedes Jahr verbringt die Familie die Ferien abseits der stressigen Tourneereisen, die das Theaterleben so mit sich bringt. Der Tag beginnt idyllisch. Und dann? Wird der tatsächliche und der metaphorische Nebel immer dichter, während die Heile-Welt-Fassade nach und nach bröckelt.
Das autobiografische Drama des Autors Eugene O’Neill, geschrieben 1941, gilt als eines der wichtigsten Werke der amerikanischen Theaterliteratur. Regisseur Sebastian Nübling widmet sich dem modernen Klassiker als eine Reise in die Untiefen des Systems Familie. Er stellt die universellen, zeitlosen Themen von Isolation, Liebe und Verbundenheit, verpassten Chancen und Scheitern in den Vordergrund und sucht düster-melancholisch und komisch-absurd zugleich nach den Gründen für Zusammenhalt, Verantwortung, Rausch und Abgrenzung.
Sebastian Nübling inszenierte in den letzten Jahren erfolgreich Stücke vornehmlich zeitgenössischer Autor:innen wie Sibylle Berg, Sivan Ben Yishai und Simon Stephens. Mit Eines langen Tages Reise in die Nacht inszeniert er erstmalig am Deutschen Theater Berlin.
Innere Abschottungen von Christopher-Fares Köhler
An einem einzigen Sommertag und in der darauf folgenden Nacht lernen wir die Familie Tyrone kennen. An diesem Tag entladen sich die jahrzehntelangen Spannungen zwischen dem tyrannischen, aber zärtlichen Vater James, der angeschlagenen Mutter Mary, dem ältesten Sohn Jamie und seinem jüngeren Bruder Edmund. Mary wurde gerade erfolgreich aus der Entzugsklinik entlassen, wo sie zum wiederholten Male versucht hat, von ihrer Morphiumsucht loszukommen. Im Verlaufe des Tages wird sie rückfällig und flüchtet immer mehr in Erinnerungen an ihre Jugend und die Zeit vor ihrer Ehe. Ihr Mann James, ein ehemals erfolgreicher Schauspieler, fristet als geiziger und nicht allzu erfolgreicher Grundbesitzer und Spekulant sein Dasein und schwelgt unter Zuhilfenahme von viel Whiskey in den vergangenen Tagen seiner Schauspielerkarriere. Der ältere Sohn Jamie versinkt zynisch und verbittert in Alkohol und Selbstmitleid, fühlt sich von seinem Vater im Stich gelassen und macht seine Mutter für viele seiner Missstände verantwortlich. Der jüngere Bruder Edmund flüchtet sich ins Gedichteschreiben und in seine Bücher, um sich den Konflikten seiner Familie zu entziehen. Er ist schwer krank und wartet auf eine Diagnose des Arztes.
Und dann ist da noch das Dienstmädchen Cathleen, das mit seiner Direktheit einen erfrischenden Kontrast zur tragischen Tiefe der problembeladenen und sich selbst zerfleischenden Künstler-Familie bildet. Während die Tyrones in einem Strudel aus Erinnerungen, Enttäuschungen und emotionalen Konflikten versinken, bildet sie als Beobachterin des Geschehens den analytischen Kontrapunkt und bringt die Dinge auf den Punkt. Zwar gibt es eine Grenze zwischen denen, die privilegiert sind und denen, die für die Privilegierten arbeiten müssen, aber trotz der Klassenunterschiede und der sozialen Hierarchie, die sich in dem Dienstmädchen manifestiert, ist Cathleen der klarste und vielleicht ehrlichste Bezugspunkt für ihre Herrschaft, insbesondere für Edmund und Mary.
Autobiografischer Hintergrund des Stückes
Eugene O’Neill schrieb Eines langen Tages Reise in die Nacht als autobiografische Vergangenheitsbewältigung seiner eigenen Familiengeschichte. In seinem Werk sind Leben und Fiktion, Realität und Abbild eng miteinander verzahnt. O’Neill war das jüngste von drei Kindern. Das Leben der Familie war rastlos. Sein Vater James O’Neill war erfolgreicher Schauspieler und tourte in der Rolle des Grafs von Monte Cristo durch ganz Amerika. Eugene verbrachte seine frühe Kindheit mit seiner Mutter Mary und seinem älteren Bruder Jamie auf Tourneen, in Hotelzimmern und Theatern. Die Familie litt unter dem Alkoholkonsum des Vaters und des älteren Bruders sowie unter der Morphiumsucht der Mutter, die sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes Edmund entwickelte.
Später wurde O’Neill auf ein Internat geschickt und verbrachte nun nur noch die Sommermonate gemeinsam mit der Familie in ihrem Haus: dem Monte Cristo Cottage an der Küste von Connecticut. Schon in seiner Jugend kämpfte O’Neill mit Depressionen und Alkoholmissbrauch, flog von der Universität, unternahm mehrere Reisen auf See und erkrankte schließlich an Tuberkulose. Er wurde für mehrere Monate in ein Sanatorium eingewiesen, wo er entschied, sich vollends dem Schreiben zu widmen. Dieser Entschluss machte ihn zu einem der erfolgreichsten amerikanischen Dramatiker des 20. Jahrhunderts, u. a. mit dem modernen Klassiker Eines langen Tages Reise in die Nacht. Und doch schien diese Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit zu schmerzhaft und zu persönlich zu sein, denn er verfügte darüber, dass das Stück erst 25 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht und aufgeführt werden durfte. Seine Ehefrau Carlotta entschied sich jedoch, das Stück bereits im Jahr 1956, also drei Jahre nach seinem Tod, zu veröffentlichen – was ihm posthum seinen vierten Pulitzer-Preis bescherte.
Eugene O’Neill Eines langen Tages Reise in die Nacht „Ich will Nebel und keine Menschenseele. Alles um mich herum unwirklich. Auch die Geräusche. Nichts wie sonst. Genau das will ich!”
In der klassischen Dramaturgie der Einheit von Zeit und Ort zwingt O’Neills Stück die Figuren in die Enge des eigenen Hauses und zum Rückzug in das eigene Selbst. Vor allem für Mary ist das eigene Haus zu einem klaustrophobischen Gefängnis geworden. Ein Haus, dicht umzäunt und am Stadtrand gelegen, in das weder Freunde noch Fremde eindringen können. Die Außenwelt rückt in den Hintergrund und dient lediglich als Ort, aus dem der Alkohol oder das Morphium beschafft werden müssen. Und je näher der Abend heranrückt, umso mehr schotten sich die Familienmitglieder gemeinsam voneinander und von der Welt um sich herum ab. Sie verharren in einem Kreislauf der gegenseitigen Anschuldigungen, der in der dann tatsächlich heraufgezogenen Nacht zu einem Dauerloop des eigenen Stillstandes wird.
Die nächtliche Dunkelheit offenbart einen Zustand, in dem Vergangenheit und Gegenwart wie festgefroren zu sein scheinen und keine wirkliche Hoffnung auf die Zukunft existiert. Und während es im Inneren kein Entkommen zu geben scheint, umgibt nach und nach der Nebel das Haus und benebelt den Rausch seiner Bewohner:innen.
Sebastian Nübling fokussiert in seiner Inszenierung von Eines langen Tages Reise in die Nacht die zeitlos-universellen Themen von Familie, Schuld, Liebe und Isolation und versetzt den modernen Klassiker in die Gegenwart. In einer Zeit der Umbrüche, in der die gesellschaftlichen und politischen Unsicherheiten immer virulenter werden, das moderne Individuum mit sich selbst und der Gesellschaft ringt und polarisierende Spaltungen auf privater und öffentlicher Ebene überhand zu nehmen scheinen, wird die aktuell oft beschriebene Einsamkeit nicht nur durch physische Isolation verursacht, sondern oft auch durch das Fehlen echter, tiefgehender Verbindungen zu der Welt da draußen. Einer Außenwelt, die zum gefährlichen Terrain deklariert wird, das es zu vermeiden gilt. Und in dem alles vermeintlich Fremde keinen Platz finden soll.
Sivan Ben Yishai ist preisgekrönte Autorin und eine der spannendsten Stimmen des zeitgenössischen Theaters. In ihrem Essay How to Stay beschreibt sie in vielschichtiger, pluraler Vielstimmigkeit die Vorgänge und Gedanken unserer Zeit.