Maja Beckmann

Programmzettel Gier

  • In-yer-face-Theater
  • Zerbrochenes Ich
  • Engel der Sorge

„Wenn Liebe käme …“ Ist das immer noch die große Hoffnung? Ist es Ihre Hoffnung? Romantik ist zum Konsumgut geworden, gelingende Beziehungen sind mühevoll, immer mehr Menschen suchen nach alternativen Beziehungsmodellen. Und dennoch: Die Liebe hat unsere Gesellschaft im Griff. Wer wäre nicht gerne aufgehoben, in den Armen einer:s Anderen? Gier, das theatrale Langgedicht der britischen Dramatikerin Sarah Kane, spiegelt uns dieses Begehren. Das Stück exponiert die Innenwelt verzweifelter, hochromantischer Liebender. Die Stimmen von Gier, sie suchen nach Nähe, sie wollen sich einander zumuten. Und doch bleibt ihr Wunsch nach Geborgenheit unerfüllt. Wie diesen Stimmen begegnen?

Regisseur Christopher Rüping überführt Kanes Text in eine theatrale Versuchsanordnung: Während Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Sasha Melroch und Steven Sowah den Text sprechen, beobachten wir eine fünfte Schauspielerin – Wiebke Mollenhauer – dabei, wie sie auf den Text reagiert. Was dann geschieht? Vielleicht können wir uns wieder mit den zum Teil drastischen Schilderungen von Gewalt verbinden, für die Sarah Kane in den 1990er-Jahren berühmt wurde. Möglicherweise sehen wir uns selbst, eine Gesellschaft in Therapie, deren Gier nach Anerkennung und Bestätigung unstillbar scheint. Oder gelingt es dem Abend, die hungrigen Stimmen im Kopf für einen Moment in der Schwebe zu halten?

Gier von Sarah Kane ist eine Produktion des Schauspielhaus Zürich; seit Februar 2025 ist sie am Deutschen Theater Berlin zu sehen.

Ein Monument Die Schauspielerinnen Sasha Melroch und Wiebke Mollenhauer und Regisseur Christopher Rüping im Gespräch.

Wann ist euch die Autorin Sarah Kane zum ersten Mal begegnet und was verbindet Ihr mit dieser Autorin?

Wiebke Mollenhauer Sarah Kane habe ich im Studium kennengelernt, aber sie war dort nicht sehr prägend für mich. Ich hatte nicht viele Berührungspunkte, sondern eher das Gefühl, ein wenig Sicherheitsabstand wäre gut. Es gab eine Art Furcht: Was begegnet mir in diesen Texten? Was für ein Abgrund tut sich da auf?

Sasha Melroch Ich habe Kane im Jahr 2012 entdeckt. Zerbombt war einer der ersten Theatertexte, die ich gelesen habe, und das Stück ist förmlich in meinem Gesicht explodiert. Es war das erste Mal, dass ich etwas gelesen habe, bei dem die Worte etwas Körperliches in mir ausgelöst haben. Diese Lektüreerfahrung habe ich später nicht mehr gemacht. Es gibt bei Kane einen Ort des Unbehagens, aber auch des Trostes. Was sie tut, ist sehr einfühlsam, und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Ich finde es erstaunlich, was ihre Texte mit mir machen, dass aufgeschriebene Dinge eine solche Wirkung haben können und etwas so Tiefes öffnen. Sie sind wie die Spitze eines Eisbergs. Also, ja, Sarah Kane ist wichtig und wertvoll für mich.

Christopher Rüping Bei mir ist es ähnlich wie bei Sasha. Es war eine Art Initiationsritus fürs Theater. Ich hatte davor nie etwas Dramatisches gelesen, dass mich erreicht hätte. Und dann bin ich über das Buch mit ihrem Gesamtwerk gestolpert. Damals war ich 17 oder 18 Jahre alt – und dachte: Wenn so Theatertexte sind, dann will ich mit Theatertexten arbeiten ...

Sarah Kanes Stücke verarbeiten extreme Gewalterfahrungen. Sie operieren mit expliziten Bildern und drastischer Sprache. Wie hat sich euer Bezug zu ihren Texten verändert? Lesen wir diese Texte heute anders?

WM Ja, ich denke schon. Damals, im Studium, hätte ich ihre großen Gefühle einfach unterschrieben und als Wirklichkeit angenommen, als meine eigene Wirklichkeit. Ich glaube, ich bin heute den Texten gegenüber nicht mehr so ehrfürchtig wie damals.

CR Es ist bemerkenswert, dass wir alle hier in der Runde inzwischen natürlich viel älter sind als Sarah Kane es je geworden ist. Und ich muss sagen, mein Verhältnis zu den Texten hat sich sehr gewandelt. Früher waren sie für mich das Nonplusultra, mittlerweile habe ich eine größere Distanz zu ihnen, fühle mich anders von ihnen herausgefordert. Das hat nicht nur etwas mit meiner persönlichen Entwicklung zu tun: Die ganze Kunstrichtung des „In-yer-face-Theater“ lebt ja von Provokation im Sinne der expliziten Darstellung von Extremen, die dann eine möglichst starke Reaktion beim Publikum hervorrufen. Diese Provokation, die zu Sarah Kanes Zeiten eindeutig ein Programm der künstlerischen Linken war, ist mittlerweile Stilmittel der Rechten geworden, also von Leuten wie Trump, die Sätze aussprechen, die angeblich nicht aussprechbar sind, um damit eine möglichst große Reaktion zu erzeugen, die sich in Klicks und letzten Endes in Reichweite und Stimmen auf dem Wahlzettel niederschlägt. Und deswegen hat sich mein Gefühl nicht nur zu Kanes Texten, sondern auch zu dem damit verbundenen künstlerischen Programm verändert. Ich glaube nicht mehr an Provokation als künstlerisches Stilmittel.

Du reagierst in Deiner Inszenierung genau auf diese Frage mit einer starken Setzung: Teil der Arbeit ist eine Art Medienapparat, in dem eine fünfte Spielerin dabei gefilmt wird, wie sie auf die Performance des Textes reagiert. Aus welchem Gedanken heraus unternimmst Du dieses theatrale Experiment?

CR Das Interessanteste an den Texten von Sarah Kane ist meiner Meinung nach, wie man sie hört. Oder erlebt. Lösen die Texte Widerstand in mir aus? Erlebe ich eine Form kathartischer Reinigung? Empathie? Dissoziation? Diese Wirkweisen zu beobachten ist der eigentlich interessante Teil der Beschäftigung mit dem Text. Wenn ich, im Gegensatz dazu, ein Stück von Tschechow inszenieren würde, wäre ich daran interessiert, zu fragen: Was sind das für Figuren, wie geht es Ihnen, welche Beziehung haben sie zueinander? Es ginge darum, zu ergründen, warum die Figuren ihre Sätze sprechen, was in ihrem Inneren vorgeht.

Bei Sarah Kane geht es genau darum nicht. Ihr Text entzieht sich jeder Herleitung, jeder Psychologie. Die Frage ist nicht, warum die Sprecher:innen sagen, was sie sagen, sondern was dadurch entsteht, dass sie sagen, was sie sagen. Der Apparat, den wir erfunden haben, soll genau das erlebbar machen: Was bedeutet es, sich dem Text von Gier auszusetzen? Deswegen schauen wir als Publikum in ein groß projiziertes Gesicht – das von Wiebke – und erleben mit ihr oder durch sie den Text. Wir können unsere eigenen Reaktionen beim Hören und Erleben ins Verhältnis setzen zu Wiebkes Reaktion.

Wie ist das für dich, Wiebke, den gesamten Abend über nicht zu sprechen?

WM Am Anfang war es komisch und hat sich so angefühlt wie Pantomime. Dann habe ich mich daran gewöhnt. Ich versuche einfach, den gehörten Text zu denken und nichts groß zu machen. Mittlerweile kann ich auch den inneren Widerstand gegenüber der Tatsache, dass ich nicht sprechen darf, nutzen. Ich bemerke dann: „Mist, ich darf jetzt nichts sagen“ … und diese Energie eines „Ich würde halt gerne was sagen, aber ich darf nicht!“ benutze ich dann für das Spielen.

Wie ist das für dich, Sasha, den Text nicht in erster Linie zum Publikum, sondern zu Wiebke hin zu sprechen?

SM Es fühlt sich eigentlich sehr gut an. Wiebke ist sehr durchlässig und großzügig in ihren Reaktionen. Du bist in einem Zustand der Resonanz und damit zu spielen, ist großartig.

Bedeutet das, einen bestimmten Ton zu treffen?

SM Es ist kein Ton. Es ist eher eine Form von Bereitschaft. Wir Spieler:innen, die wir den Text sprechen, wir müssen sehr im Hier und Jetzt sein. Sonst funktioniert es nicht. Normalerweise hast du eine Figur und ihren Text, den du verkörpern musst, den du in dir selbst resonieren lassen musst. Aber für Gier müssen wir den Text so sprechen, dass er in Wiebke resoniert. Und ihre Reaktion auf den gesprochenen Text, muss wiederum in uns resonieren. Es ist also ein längerer Weg, den der Text zurücklegt, bevor er das Publikum erreicht.

Wiebke, du wirst also in dieser Inszenierung zu einer Art emotionalem Verstärker für den Text?

WM Ja, teilweise. Teilweise verstärke ich den Text, teilweise kontrastiere ich ihn auch.

Was ich mich gefragt habe: Greifst du dabei viel auf deine eigenen Erinnerungen oder innere Bilder zurück?

WM Nein. Ich versuche, nicht auf etwas zurückzugreifen, was außerhalb des Stückes liegt. Weil ich dann nicht mehr im Hier und Jetzt bin. Wenn ich während des Spielens in meine eigenen Erinnerungen gehe, dann halte ich mich dort auf. Und irgendwie geht das nicht. Das heißt, ich versuche genau das zu nehmen, was wirklich durch den Text entsteht.

Christopher, du hast mit Gier einen Text als Ausgangspunkt der Inszenierung gewählt, der laut Anordnung der Autorin nicht verändert werden darf. Außerdem ist die performative Situation, die der Inszenierung zugrunde liegt, eine strenge formale Setzung. Woher kommt diese Lust, sich mit strengen Formen auseinanderzusetzen?

CR Also das ist kein grundsätzlicher Wunsch. Ich würde behaupten, dass meine Abende nicht von ihrer formalen Strenge, sondern von ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit leben. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass jede Form immer aus dem Inhalt kommt. Und ich habe das Gefühl, dass der Inhalt bei Sarah Kane eine gewisse formale Setzung erfordert.

Erstens, weil der Text nichts anderes zulässt: Er funktioniert wie eine Partitur, man könnte ihn gar nicht so ohne Weiteres in eine realistische Situation wie zum Beispiel eine Diskussion unter vier Freunden beim Abendessen überführen. Und zweitens bin ich überzeugt, dass erst in der formalen Anordnung eines Experiments, das klare Regeln hat, denen man folgen muss, die im Text beschrittenen Untiefen erlebbar werden.

Die Abgründe, die Traumata, die Gewalt, die Sehnsüchte, die Gefühle, um die es Sarah Kane geht – man erlebt sie meiner Meinung nach besser, wenn sie sich an der Strenge einer formalen Setzung reiben, als wenn man versuchen würde, sie ohne Widerstand auszuagieren.

Gier ist getrieben von dem Wunsch nach Nähe. Zugleich verweist der Text auf Traumata und sexualisierte Gewalt. Was bedeutet das für die Probenarbeit?

CR Ich hoffe, dass es in unserem Abend nicht nur Momente geben wird, in denen man von den Abgründen des Textes verschluckt zu werden droht. Kane hat eben auch Humor, sie hat eine Zartheit. Wir versuchen, diese unterschiedlichen Pole auszuloten. Die Figuren in Gier sprechen immer wieder davon, dass sie sich einen Zustand der Ausgeglichenheit wünschen, aber immer wieder vom einen ins andere Extrem gerissen werden.

Wieso ist es heute wichtig, Gier zu spielen und zu inszenieren?

SM Für mich ist Sarah Kane ein Monument. Sie ist ein Monument, und sie muss gespielt werden, als Teil des Kulturerbes. Es ist wahrscheinlich konservativ, das zu sagen. Aber es ist meine Überzeugung.

CR Die Entscheidung, welcher Text dem Kanon und welcher dem Vergessen zugeteilt wird, wird zumeist mit der besonders erhabenen Qualität bestimmter Texte begründet. Das ist aber Unsinn. Es sind allein die Aufführungspraxis und Rezeptionsgeschichte, die diese Unterteilung vornehmen: Ein Text wird kanonisch, wenn sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder Menschen mit ihm beschäftigen. Anders gesagt: Ein Text ist nicht kanonisch und wird deshalb oft gespielt, sondern ein Text wird oft gespielt und wird dadurch kanonisch. Nun beklagen wir alle, dass es in unserem dramatischen Kanon eigentlich keine Stücke von Frauen gibt.

Bei Sarah Kane aber findet man eine Autorin, die inhaltlich wie formal eigenwillige Texte geschrieben hat: radikale, kompromisslose Texte, deren Themen im Theater sonst unterrepräsentiert sind. Ich finde, allein deswegen lohnt es sich, sich mit diesem Text zu beschäftigen. Und wenn man es dann tut, wird man auf mannigfaltige Art und Weise beschenkt. Sarah Kane hat das Vermögen, Sätze zu schreiben, die sich mir – und ich glaube, das gilt auch für viele andere aus der Produktion – ins Hirn fräsen. Das kann auch belastend sein, wenn ihre Stimme mietfrei in deinem Kopf wohnt. Und man fragt sich: Warum fallen mir jetzt andauernd diese Sätze ein, die Sarah Kane 1997 oder 1998 in London geschrieben hat?

Die Antwort ist: Weil sie etwas über unsere Welt, über unsere Ängste und Träume aussagen, das von Bestand ist. Ich finde, Kane hat eine unglaubliche Radikalität und Tiefe in der Art, wie sie Beziehungen, Ängste, Sehnsüchte und Bedürfnisse formuliert. Und das ist etwas, das einen Text über die Zeit seiner Entstehung erhebt.

Fragen: Moritz Frischkorn