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Eugen Hinkemann kehrt aus dem Ersten Weltkrieg als gebrochener Mann zurück – durch eine Schussverletzung hat er seine Genitalien verloren. Die körperliche Versehrtheit und das Trauma des Kriegs machen ihn zum gesellschaftlich Ausgestoßenen, sodass die Hoffnung, ein normales Leben mit seiner Frau Grete zu führen, unerfüllbar scheint. Während die emotional überforderte Grete eine Affäre mit seinem umtriebigen früheren Kollegen Paul Großhahn beginnt, kämpft Eugen mit Vereinsamung und Scham. Um für Gretes finanzielle Sicherheit zu sorgen, nimmt er heimlich ein entwürdigendes Arbeitsangebot an – er verdingt sich als Jahrmarktsattraktion, die lebendigen Tieren vor Publikum die Kehle durchbeißt.

Grete und Paul werden zufällig Zeuge der Show. Während Grosshahn Eugen verspottet, erkennt die inzwischen schwangere Grete das Ausmaß seiner Not und beschließt, zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Paul Grosshahn findet Eugen in einer Kneipe, wo dieser mit anderen Arbeitern über die Beschaffenheit einer gerechten Gesellschaft diskutiert, und stellt ihn vor den Trinkgenossen grausam der Lächerlichkeit preis. Das reißt nicht nur mit Wucht Hinkemanns Wunden wieder auf, sondern macht auch sinnfällig, wie blind die Gesellschaft für das soziale Leid ihrer Mitglieder ist. Kann es dennoch eine Zukunft für Grete und Eugen Hinkemann geben?

Ernst Toller schrieb das expressionistische Drama 1921 im Festungsgefängnis Niederschönenfeld, wo er aufgrund seiner revolutionären Aktivität in der Münchner Räterepublik inhaftiert war. Hinkemann erzählt die tragische Geschichte eines Menschen, der die Unermesslichkeit sozialen Leids erkennt und um ein Haar daran zugrunde geht.

Das Ende der Männlichkeit Essay von Jasmin Maghames

Der Erste Weltkrieg markierte nicht nur eine politische und militärische Zäsur und einen zivilisatorischen Bruch, sondern hinterließ auch tiefe Spuren im sozialen und psychischen Gefüge der europäischen Gesellschaften – besonders in Deutschland. Mit dem Ende der Kampfhandlungen im November 1918 kehrten Millionen Soldaten in ein Land zurück, das kaum wiederzuerkennen war: wirtschaftlich ausgezehrt, gesellschaftlich zerrissen und politisch instabil. Unter den Heimkehrern befand sich eine hohe Zahl an physisch wie psychisch versehrten Männern: Amputationen und Verstümmelungen, aber auch Sprachverlust oder Kriegszittern – Symptome, die später als posttraumatische Belastungsstörungen beschrieben werden sollten – bestimmten den Alltag vieler Veteranen. Die öffentliche Wahrnehmung dieser sogenannten „Kriegsversehrten“ war geprägt von mitleidiger Duldung, schamvoller Verdrängung und offener Ablehnung. Aus der einst enthusiastischen Kriegsbegeisterung war eine kollektive Sprachlosigkeit gegenüber den sichtbaren Mahnmalen des Scheiterns geworden.

Inmitten dieser verstörenden gesellschaftlichen Nachkriegsrealität formte sich auch die literarische Stimme Ernst Tollers, der zu den eindrücklichsten Vertretern des expressionistischen Theaters zählt. Toller, der selbst zu Kriegsbeginn mit patriotischer Überzeugung als Freiwilliger an die Front ging, wurde durch seine unmittelbaren Kriegserfahrungen zum radikalen Pazifisten.

In Hinkemann verleiht Toller einem der unzähligen, verstummten Opfer des Kriegs eine Stimme: Eugen Hinkemann, durch eine im Krieg erlittene Genitalverletzung physisch „entmannt“, steht exemplarisch für das doppelte Stigma der Versehrung – einerseits durch den körperlichen Makel, andererseits durch die damit einhergehende gesellschaftliche Ausgrenzung. Die tiefe Tragik der Figur liegt dabei nicht allein in seinem persönlichen Leid begründet, sondern vor allem in der Kälte und Gleichgültigkeit einer Gesellschaft, die sich vom Schicksal ihrer Helden abwendet, sobald sie unbequem, hässlich oder nicht mehr funktional erscheinen. Die Demütigung, sich als Sensationsdarsteller auf einem Jahrmarkt dem Spott preisgeben zu müssen, wird zum Sinnbild für die entmenschlichende Wirkung des Krieges und die Heuchelei jener, die im Frieden nichts mehr wissen wollen von denen, die für sie gekämpft haben. Es ist ein Stück, das ein System anklagt, das seine Kriegsversehrten nicht nur körperlich, sondern auch moralisch zerbrechen lässt. Die drastischen Bilder, die existenziellen Monologe und die erschütternde Intensität der Sprache sind Ausdruck des expressionistischen Stils, der weniger an äußerer Handlung als an innerer Wahrheit interessiert ist.

Die verstummten Männer

Klaus Theweleit, der bereits in den 1970er Jahren mit Männerphantasien eine Studie der politischen Implikationen von toxischen Männlichkeitsvorstellungen vorgelegt hat, schreibt, dass der Erste Weltkrieg „das Männlichkeitsgefühl mehrerer deutscher Männergenerationen an der empfindlichen Stelle traf: in der Überzeugung, zu Kriegern und Siegern geboren zu sein.“ Besonders schwer wog für viele Kriegsversehrte eine Form der Verletzung, welche dieses „Männlichkeitsgefühl“ wohl am direktesten betraf und über die in der öffentlichen Nachkriegsdiskussion weitgehend geschwiegen wurde: die Verstümmelung der Genitalien. Diese Art der Verletzung betraf nicht nur den Körper im medizinischen Sinn, sondern traf den Mann im Zentrum seiner geschlechtlichen, sozialen und symbolischen Identität – einem Identitätskern, der in der deutschen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts tief mit Vorstellungen von Potenz, Zeugungsfähigkeit, Tapferkeit und soldatischer Tauglichkeit verknüpft war. In einer Kultur, die das Bild des heroischen, aktiven, „ganzen“ Mannes idealisierte, bedeutete die Entmannung nicht nur körperlichen Verlust, sondern eine existenzielle Entwertung, ein symbolisches Ausgeschlossensein aus der Gemeinschaft der „vollwertigen“ Männer.

Der Umstand, dass diese Verletzungen häufig mit Scham, Sprachlosigkeit und Tabuisierung einhergingen, führte dazu, dass viele der Betroffenen sich isolierten, ihre Not kaum artikulieren konnten und selbst von medizinischen oder sozialen Versorgungsstrukturen oftmals übersehen wurden. Das Verstummen dieser Männer in der Öffentlichkeit war nicht zuletzt Ausdruck der Tatsache, dass ihre Existenz im Widerspruch zu dem nationalen Narrativ des heldenhaften Opfers stand – ein Narrativ, welches Männlichkeit an Kraft, Opferbereitschaft und Fortpflanzungsfähigkeit knüpfte. Wer „entmannt“ war, konnte dieses Ideal weder physisch verkörpern noch symbolisch vertreten.

Tatsächlich begannen einige wenige Ärzte, Sexualforscher und Psychologen sich mit dieser Problematik zu beschäftigen – allerdings oft mehr aus pathologischem oder diagnostischem Interesse. Bedeutende Sexualwissenschaftler wie Magnus Hirschfeld, der Begründer des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin, setzten sich in der Weimarer Republik zwar für eine enttabuisierte und aufgeklärte Sicht auf Sexualität und Geschlechtlichkeit ein – darunter auch für die Sichtbarkeit der von ihm sogenannten „Eunuchen des Weltkriegs”, doch selbst in diesen progressiveren Kreisen blieben die körperlich entmannten Kriegsversehrten eine weitgehend marginalisierte Gruppe.

Hirschfeld, der sich intensiv mit Geschlechtervielfalt, Intersexualität und sexuellen Minderheiten beschäftigte, thematisierte in seinen Schriften auch Fragen der männlichen Sexualität unter Bedingungen von Trauma oder funktionellem Verlust – doch in der breiten Öffentlichkeit blieben solche Ansätze Randerscheinungen. Die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit war schlichtweg nicht bereit, sich mit der Idee auseinanderzusetzen, dass Männlichkeit auch jenseits von Potenz und physischen Ganzheit bestehen könne.

Das grausame Lachen

Das Auslachen ist eine der subtilsten und zugleich brutalsten Formen sozialer Machtausübung. Psychologisch betrachtet handelt es sich dabei nicht bloß um eine Reaktion des Amüsements, sondern um einen Akt der sozialen Ausgrenzung, bei dem das Lachen der Vielen zur Waffe gegen den Einzelnen wird. Im Hinkemann wird das Auslachen zum entscheidenden Motiv der tragischen Handlung. Es markiert eine klare Trennung zwischen Norm und Abweichung, zwischen den Lachenden – die sich im Besitz sozialer und körperlicher „Integrität“ wähnen – und dem Ausgelachten, dessen Anderssein zur Zielscheibe kollektiver Herabwürdigung wird. Der Ausgelachte erfährt eine radikale Vereinzelung im Blick der anderen und dadurch einen Verlust des Selbstwertes, der in dem Moment durch die Augen, das Lachen, die Blicke anderer definiert wird.

Diese psychologische Konstellation steht in enger Verbindung mit dem Gefühl der Scham – einer Affektlage, die nicht wie Schuld auf ein konkretes Fehlverhalten verweist, sondern auf ein diffuses Gefühl des „Falschseins“ der eigenen Existenz. Scham ist eine Form des Selbstverlustes, ausgelöst durch die innere Überzeugung, dem Blick der anderen nicht standhalten zu können. Der schamhaft empfundene Körper wird zum Objekt, das entblößt, bewertet und schließlich verworfen wird.

Gerade in dieser Dynamik lässt sich die Figur Eugen Hinkemann verorten, der nicht nur durch seine Kriegsversehrung körperlich verletzt ist, sondern auch durch den gesellschaftlichen Umgang mit seiner Verletzung entmenschlicht wird. Die tragische Ironie seines Schicksals liegt darin, dass er, nachdem er durch die Versehrung „entmannt” wurde, nun gezwungen ist, seinen gebrochenen Körper zum Schaustück zu machen – um überhaupt überleben zu können. Auf dem Jahrmarkt beißt er lebenden Tieren die Kehle durch und trinkt ihr Blut vor Publikum, nicht aus Selbstinszenierung, sondern aus existenzieller Not. Der Moment des Auftritts ist dabei kein Akt der Selbstermächtigung, sondern der tiefste Punkt der Selbstverleugnung: Er stellt sich selbst als Monstrum zur Schau, wohl wissend, dass das Gelächter des Publikums nicht aus Faszination, sondern aus abgründiger Distanznahme resultiert. Dabei ist das eigentlich Monströse, dass das Publikum seine Verzweiflung gar nicht wahrnimmt; es konsumiert sein Leiden als Sensation, als Spektakel.

Das Auslachen wird so zum Endpunkt einer Entwicklung, in der sich der Einzelne aus dem sozialen Raum verabschieden muss, weil ihm der Raum zur Würde, zur selbstbestimmten Existenz verweigert wurde. Scham und Gelächter stehen sich hier als komplementäre Gegenspieler gegenüber: Während das Gelächter entgrenzt, erniedrigt, entmenschlicht, zieht sich die Scham zurück, vergräbt sich, spricht nicht: Hinkemann steht dazwischen.

Wenn Männlichkeit endet

Doch was wäre, wenn wir diesen Punkt – das symbolische Ende der Männlichkeit – nicht als Scheitern, sondern als Anfang denken? Was, wenn Hinkemanns „Entmannung“ nicht der Verlust eines Wesensmerkmals, sondern die Möglichkeit zur Entbindung von Geschlechtsidentität wäre? Genau hier beginnt ein neuer Ansatz: Hinkemann nicht nur als Opfer des Männlichkeitswahns zu begreifen, sondern als Figur, die – durch tiefste körperliche Entgrenzung – gezwungen ist, sich selbst radikal neu zu denken. In dieser Radikalisierung steckt, so paradox es klingen mag, auch Freiheit: Freiheit vom Zwang, Mann sein zu müssen.

Um diesen Weg überhaupt gehen zu können, bräuchte Hinkemann einen sozialen Raum, der Verletzlichkeit nicht stigmatisiert, sondern als menschlich begreift. Eine Gesellschaft, in der Körper nicht normiert, sondern als vielfältige Ausdrucksformen von Identität anerkannt werden. Vor allem aber bräuchte Hinkemann eine Sprache jenseits der binären Geschlechtslogik – ein Vokabular, in dem es nicht mehr um „Mann“ oder „nicht Mann“ geht, sondern um Sein. Hätte er Zugang zu einem solchen Denk- und Fühlraum, könnte er sein Trauma vielleicht nicht „heilen“, aber er könnte es transformieren – aus der Scham heraus in ein neues Selbstverständnis.

In einer queeren Lesart ließe sich Hinkemann als eine Vorläuferfigur geschlechtlicher Selbst-Neufindung denken – nicht im medizinisch-transgeschlechtlichen Sinne, sondern als jemand, der durch die radikale Zerstörung des normativen Körpers beginnt, sich jenseits von Geschlechtsnormen neu zu denken. Er könnte der Beginn eines nicht-heteronormativen, entgrenzten Menschseins sein. In ihm steckt die Möglichkeit eines Subjekts, das weder „Mann“ noch „Frau“ im klassischen Sinn ist, sondern schlicht: Mensch in seiner Fragilität und Würde.

Was bleibt vom Geschlecht, wenn man alles verliert? Vielleicht: der Anfang von Freiheit.