Programmzettel Halts Maul, Kassandra
Thomas Brasch, geboren 1945, gestorben 2001 in Berlin, war die Stimme einer Generation. Er, der nie über sich selbst schreiben wollte, hat in tausenden Gedichten, in seinen Erzählbänden und Filmen literarisch über sich Auskunft gegeben. Im Osten konnte er nicht veröffentlichen, vom Westen wollte er sich nicht vereinnahmen lassen. Buchtitel wie Vor den Vätern sterben die Söhne wurden zum geflügelten Wort; trotzdem blieb Thomas Brasch ein Zerrissener, immer am Rand des Vergessens, hochproduktiv und doch unvollendet.
In den letzten Jahren seines Lebens versank er in seiner Wohnung am Schiffbauerdamm in einem riesenhaften Manuskript: ein „Wortgefängnis“ aus mehreren zehntausend Seiten, von denen nur kleinste Splitter veröffentlicht sind. Im Februar 2025 wäre Thomas Brasch 80 Jahre alt geworden. Der Theaterabend Halts Maul, Kassandra! erinnert an einen Autor, der zwischen allen Genres und zwischen den Welten wandert und dabei zeitlebens unbehaust bleibt.
Wie viele sind wir eigentlich noch
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wie viele sind wir eigentlich noch.
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten.
Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.
The Fool Der Autor Thomas Brasch
Thomas Brasch ist Dichter, Dramatiker, Filmemacher, Übersetzer – und auf all diesen Feldern ein Unruheherd, von Anfang an. Geboren kurz vor Kriegsende als Kind einer jüdisch-kommunistischen Emigrantenfamilie in England, wächst Brasch in der jungen DDR auf. Sein Vater Horst Brasch war 1946 gemeinsam mit seiner - aus Wien stammenden Frau Gerda als leidenschaft licher Antifaschist in die sowjetische Besatzungszone gekommen. Und während Gerda Brasch ihre eigenen Träume zurückstellt und schließlich aufgibt, macht Horst als früher Weggefährte von Erich Honecker Karriere in der FDJ. 1966 wird er stellvertretender Kulturminister der DDR. Sein ältester Sohn Thomas hingegen, der die Kadettenanstalt der NVA besucht, verweigert die ihm vorbestimmte Bilderbuchkarriere.
Brasch beginnt ein Journalistikstudium in Leipzig, wird aber wegen „existentialistischer Anschauungen“ exmatrikuliert. - Auch das Studium der Dramaturgie an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg endet abrupt. Gemeinsam mit seiner Freundin Sanda Weigl und weiteren Mitstreiter:innen verteilt der rebellische Funktionärssohn handgeschriebene Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei. Einige Tage später, am 26. August 1968, wird er verhaftet. Der eigene Vater, so schreibt es Thomas später in einem Brief, sei „1968 ans Telefon gegangen“, um den Sohn an den Staat auszuliefern. Es folgen zwei Monate Untersuchungshaft, eine Verurteilung zu zwei Jahren und drei Monaten und - schließlich eine Überstellung in das Berliner Trans formatorenwerk Oberschöneweide, wo Thomas – zur „Bewährung in der Produktion“ – als Fräser arbeitet. Der Mutter, die Welt der Maschinen, das Verhältnis von Kunst und Staat: über all das schreibt er … Prosa, Szenen, Gedichte. Als junger Schriftsteller in der Tradition Bertolt Brechts - und Heiner Müllers benennt Thomas Brasch die Lebens ansprüche einer in der DDR aufgewachsenen, jungen Generation so schonungslos, dass eine Veröffentlichung seiner Texte in der DDR unmöglich ist.
Um publizieren zu können, geht Thomas Brasch im Jahr 1976 gemeinsam mit der jungen Schauspielerin Katharina Thalbach in den Westen. Dort erscheint im Rotbuch Verlag Vor den Vätern sterben die Söhne. Das Buch wird zum Besteller, der Titel zum geflügelten Wort. Gleichzeitig eckt Thomas auch in West-Berlin an, weil er sich nicht zum Dissidenten machen lässt, nicht von Ost und nicht von West. „Ich stehe für niemand anderen als für mich“, ist sein erstes Spiegel-Interview überschrieben.
Brasch bleibt ein Unbehauster. „Wo ich lebe, da will ich nicht sterben“, lautet ein berühmter Vers aus seinem lyrischen Werk, das bald viele hundert Gedichte umfasst. Daneben schreibt er fürs Theater, übersetzt Shakespeare, Tschechow und Gorki und entdeckt das Medium Film für sich. 1981 erscheint sein erster Spielfilm . Der Film erzählt die wahre Geschichte Engel aus Eisen - der kriminellen Gladow-Bande, die die unsicheren Ver hältnisse der ersten Nachkriegsjahre zu Raubzügen im geteilten Berlin nutzt. Für diese Debütarbeit erhält , die Domino Brasch den Bayerischen Filmpreis. Es folgen Der Passagier und der Film Mercedes Verfilmung von – über einen in den USA erfolg – Welcome to Germany reichen, jüdischen Regisseur, der nach Deutschland zurückkehrt, um seine KZ-Vergangenheit aufzuarbeiten.
Aus einer rauschhaften Produktivität stürzt Brasch seit Mitte der 80er Jahre in eine Schreibkrise, die er durch einen ruinösen Umgang mit seiner Gesundheit weiter vertieft. 2001 stirbt er im Alter von 56 Jahren, elf Jahre nach seinem Vater, vier Monate nach seinem Bruder, dem Schriftsteller Peter Brasch. Sein letzter Prosaband, schmales Fragment von 97 Seiten – ein Destillat aus zehntausenden von Blättern und einem alle Buchdeckel und Zeiten sprengenden, allerletzten Schreibprojekt.
Im Februar 2025 wäre Thomas Brasch 80 Jahre alt geworden. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die das Profil des Deutschen Theaters seit über einem Jahrzehnt mit Arbeiten zu Bertolt Brecht, Heiner Müller, Peter Hacks, Hanns Eisler und vielen anderen deutsch-deutschen Berlin-Stoffen prägen, machen sich an die Wiederentdeckung. Der Abend kombiniert Texte aus allen Phasen des Werks: Gedichte, Szenen, Filmsequenzen, Reden, Briefe, Interviews und Kapitel aus wichtigen Erzählbänden wie Mädchenmörder Brunke, Vor den Vätern sterben die Söhne oder Kargo (32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen). Typisch für diese Erzählbände ist das Prinzip der Montage: Brasch sprengt die Genres, erzählt durchschossene Geschichten, montiert scheinbar Unzusammenhängendes – und lässt dann hinter dieser neuen Ordnung Motive auftauchen, die wiederkehren und Lebensthemen sind: Vater und Sohn, Ost und West, Staat und Individuum, Kunst und Gesellschaft, Vereinsamung und Aufbegehren in immer wechselnden Motiven.
Auch der Theaterabend Halts Maul, Kassandra! ist nach diesem Brasch-Prinzip gebaut. Auch er montiert Texte, die exemplarisch stehen für das Leben und Werk eines Künstlers, an dessen Schreiben und Leben ein halbes Jahrhundert deutsch-deutscher Geschichte ablesbar wird. Er sei „nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot“, schreibt Brasch in der Vorrede zu seiner ShakespeareÜberschreibung Liebe Macht Tod. Stattdessen könne man ihn „The Fool“ nennen – unübersetzt. Als Fool steht er zerrissen zwischen den Zeiten. Sein Leben ein wüstes Stück, sein Schreiben voll anarchischem Witz: ideologiefern und unversöhnlichch.
Ödipus
Er humpelt zur S-Bahn. Hinter ihm schließt der Betriebsschutz das Werktor. Die Norm ist geschafft: 1200 Schaltstücke in 540 Minuten. Auf diesen Füßen marschiert die neue Gesellschaft, steht auf dem Plakat über dem Appartementhaus. Auf diesen Füßen kam Lajos’ Schicksal über die Berge, sagt Sophokles.
Mit Blindheit geschlagen. Er sitzt vor dem Fernsehapparat und hört die Stimme des Sprechers: Der Stamm, den wir vorfanden, huldigt dem Kago-Kult: Männer mit weißer Haut sind die Geister der Toten, die ihr Ende nicht finden. Leben nicht mehr und sind noch nicht aus.
Schlaf der herrschenden Klasse. Die Wände zittern von der letzten Straßenbahn. Hinter der Wand stöhnt die Nachbarin. Wir beenden unser Programm, sagt die Ansagerin, ein letzter Blick auf die Uhr: Es ist 23 Uhr 5 mitteleuropäischer Zeit.
Halts Maul, Kassandra.