
Programmzettel Prima Facie
Trotz Bestnoten, Einser-Abi und ausgezeichnetem Bachelor-Abschluss: Zwei Drittel aller Studierenden der Top Law School werden ihr Studium nicht abschließen. Von denen, die es schaffen, wird nur die Hälfte als Jurist:in arbeiten. Und nur fünf davon als Anwält:in. Aber Tessa hat es geschafft. Aus dem Arbeiterkind, das sich seinen Platz hart erkämpft, wird eine erfolgreiche Strafverteidigerin, die mit Stolz ihre Rosshaarperücke trägt. Wie alle Strafrechtsanwälte glaubt Tessa an das Gesetz, an das System und an die Unschuldsvermutung, die für sie keine Floskel ist, sondern das Fundament einer zivilisierten Gesellschaft. Deshalb verteidigt sie die Angeklagten, sucht nach Lücken in der Anklage und prüft akribisch die Aussagen von Opfern und Zeugen. Und Tessa ist eine der Besten in ihrem Job. Ob Drogenprozesse, Korruptionsvorwürfe oder sexuelle Übergriffe: Tessa geht es um die juristische Wahrheit und den Beweis, mithilfe dessen ihre Angeklagten vor dem Gesetz für „unschuldig“ erklärt werden. Im Kreuzverhör spielen Sympathien keine Rolle, jede und jeder muss sich den scharfen Fragen der Anwältin stellen, auch Opfer vermeintlicher sexueller Übergriffe, deren Aussagen vor Gericht analysiert und auseinandergenommen werden. Bis zu dem Tag, an dem etwas passiert, was Tessa nie für möglich gehalten hätte: Ihr Kollege, mit dem sie eine Affäre hat, wird nach einem Date sexuell übergriffig. Während ihr Leben vor ihren Augen zusammenbricht, wird Tessa von der Strafverteidigerin zur Anklägerin und erlebt die Vorgänge im Gerichtssaal von der anderen Seite. Kann das System, an das Tessa so sehr geglaubt hat, sie schützen – oder lässt es sie am Ende im Stich?
Dem Anschein nach alles in Ordnung? von Jasmin Maghames
Der Begriff prima facie ist ein juristischer Terminus, der sich aus dem Lateinischen mit ‚auf den ersten Blick‘ oder ‚dem ersten Anschein nach‘ übersetzen lässt und im Deutschen als ein Synonym für ‚Anscheinsbeweis‘ gilt. Man verwendet in der deutschen Rechtssprache den Begriff als Methode der mittelbaren Beweisführung, d.h. als Feststellung von Kausalität und Verschulden im Zivilprozess. Eine Anscheinsvermutung gilt ‚bis auf Widerruf‘, also solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen. Die Autorin Suzie Miller arbeitete viele Jahre als Menschenrechtsanwältin und Strafanwältin in ihrer Heimat Australien, bevor sie 2010 nach London zog, um dort ihre Karriere als Dramatikerin zu verfolgen. Als Anwältin im Menschenrechtsbereich musste Miller oft Aussagen von Menschen entgegennehmen, die Schreckliches durch andere erfahren haben. Diese Geschichten hatten einen unauslöschlichen Einfluss auf ihre Sichtweise auf das Gesetz. In einem Gespräch mit The Guardian Australia bringt Miller es 2019 auf den Punkt: „I just didn’t believe the system. The one area that I think they’ve got wrong, really wrong, is consent, lack of that, and believing women“. Die Idee hinter Prima Facie begleitete sie bereits seit ihren Studienzeiten, aber erst im Zuge der #MeToo-Bewegung fand Miller den Mut, ihr Stück zu schreiben. Durch das explosive Brechen des Schweigens von Frauen und Männern auf sozialen Netzwerken über ihre persönlichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung, Missbrauch oder Vergewaltigung, entstand eine gesellschaftliche Debatte, die neben der Thematik der sexuellen Belästigung und Sexualstraftaten auch eine Diskussion über die strukturelle Diskriminierung von Frauen anstieß. Suzie Miller schuf die Figur der Tessa Ensler basierend auf den unzähligen Geschichten von Frauen, die ihr in ihrer Karriere begegnet waren, als Konglomerat weiblicher Erfahrungen im Angesicht des geltenden Rechtssystems. Den Namen „Ensler“ wählte sie als Huldigung der Dramatikerin Eve Ensler, die 1996 die Vagina-Monologe veröffentlichte, eine aus rund 200 Interviews mit verschiedenen Frauen entstandene Monologsammlung, die Erzählungen von sexuellen Erfahrungen, Lust, Begehren, aber auch Enttäuschung, sexuellen Missbrauch und Gewalt einschließen. Das Bühnenstück gilt bis heute als eins der wichtigsten politischen Theaterstücke seiner Zeit.
Nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
Die Protagonistin Tessa Jane Ensler ist eine junge, überaus erfolgreiche Strafverteidigerin, die das Gesetz liebt und süchtig nach dem game of law ist. Kreuzverhöre, die Königsdisziplin der Strafverteidigung, sind ihre Stärke und versetzen sie geradezu in einen Adrenalinrausch. Tessa wählte die Strafverteidigung als ihre Aufgabe; in Grabenkämpfen auf den Seiten der Verteidigung argumentiert sie vor Gericht gegen die Staatsanwaltschaft und Polizei und nutzt den Spielraum der Regeln des Gesetzes für ihre angeklagten Mandant:innen. Ihre Aufgabe ist es, nicht zu urteilen oder über Gut und Böse nachzudenken, sondern das Gesetz zu schützen und die Wahrheit aufzudecken. Sie überprüft die Aussagen, die verschiedenen Versionen einer Geschichte vor Gericht, und legt die „juristische“ Wahrheit offen. Dabei geht es nicht nur um ein einzelnes Verfahren, sondern darum, das Gesetz einzuhalten. Denn das Gesetz wiederum schützt jeden von uns, die Anklagenden, die Angeklagten. Und dieses System kann nur dann funktionieren, wenn alle ihre Rollen spielen. Ihre Rolle ist die der Verteidigung, die Staatsanwaltschaft klagt an. Jede Seite erzählt eine Geschichte. Am Ende entscheiden die Richter:innen und die Geschworenenjury, welcher Geschichte sie glauben. Sie weiß: Sie darf niemals urteilen und niemals entscheiden, denn in dem Moment, in dem sie das tut, ist es vorbei.
In ihrem Beruf als Strafverteidigerin vertritt Tessa auch Mandant:innen, die der sexuellen Belästigung, Übergriffigkeit oder Vergewaltigung angeklagt werden. Sie tritt in Kreuzverhören Frauen gegenüber, die angeblich Opfer von sexueller Gewalt geworden sind und prüft ihre Geschichten bis auf das letzte Detail. Dafür muss sie den angeblichen Opfern unangenehme Fragen stellen, die angeblichen Tatvorgänge bis ins Letzte aufbereiten und prüfen, ob jede der Angaben im Vorgang schlüssig sind. Wenn sie in einer Äußerung auf Widersprüchlichkeiten trifft, ließe sich doch annehmen, dass die gesamte Geschichte in Frage gestellt werden könne, oder nicht? Für ihre Arbeit spielt es keine Rolle, dass Tessa eine Frau ist. Sie macht keinen Unterschied, wer ihr in einem Kreuzverhör gegenübersitzt, und überprüft die Aussagen. Zwar ist es unnötig, jemanden Schmerzen zu bereiten, doch geht es einzig darum, begründete Zweifel nachzuweisen.
„Die Gesetzgebung obliegt in der parlamentarischen Demokratie dem Parlament als der Legislative“ – Bundesministerium des Inneren und für Heimat
An diesem Punkt macht Karen O’Connell, eine Jura-Professorin an der Technischen Universität Sydney, in ihrer Einführung der englischen Printausgabe von Prima Facie, mit ihrem Artikel Making law from women’s lives einen Einschnitt. Sie beschreibt, dass eine Anwältin zu sein, das Bewegen innerhalb zweier Bedeutungswelten gleichzeitig sei. In einer dieser Welten biete das Gesetz den Weg, berufliche und öffentliche Macht auszuüben; ein Weg, der traditionell Männern vorbehalten war. Denn: Das juristische System ist durch männliche Erfahrungen geformt und beruht auf Entscheidungen von Generationen von Männern.
Um sich diese Behauptung deutlicher zu machen, reicht ein Blick in die Geschichte, hier der deutschen: Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde im November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten beschlossen, erstmals Frauen das aktive und passive Wahlrecht zu verleihen. Im darauffolgenden Jahr wurde die Weimarer Nationalversammlung in allgemeinen Wahlen gewählt, darunter erstmals ein Frauenanteil von 8,7 Prozent. Dieser Anteil pendelte sich in den darauffolgenden Wahlperioden auf um etwa 6 Prozent ein und sank mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf unter 4 Prozent. Im Rahmen des politischen Neubaus nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1948 der Parlamentarische Rat einberufen, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Unter den 65 Abgeordneten waren vier Frauen. Wenn man anscheinend aufgrund dieses kleinen Geschichtsexkurses vermutet, dass dieses Ungleichgewicht der Geschlechter zeitig überholt wirkt, reicht ein Blick auf den aktuellen Bundestag: Während 1949 nur 28 Frauen ins Parlament zogen, waren es nach der Bundestagswahl 2021 schon 255. Das sind aber nur 35 Prozent der Abgeordneten. Somit sind nach wie vor Frauen im deutschen Bundestag in der Minderheit, wodurch die Gesetzgebenden geschlechterrepräsentativ noch immer kein Abbild der Gesellschaft darstellen.
Sieh nach links, sieh nach rechts. Eine von drei Frauen
Karen O’Connell macht deutlich, dass das Recht es versäumt hat, viele der Nachteile, die Frauen strukturell erfahren, angemessen zu regeln und dadurchermöglicht, dass private, oft intime Schädigungen durch häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe – die bekanntermaßen erst 1997 in der deutschen Gesetzgebung als strafbar anerkannt wurde – und sexuelle Belästigung rechtlich nicht geahndet werden. Es stellt sich also die Frage, ob Frauen, die im Rechtswesen arbeiten, wirklich Zugang zur Macht haben, oder Teil eines repressiven Systems sind, welches sie unterdrückt und letztlich entmachtet. Tessa Ensler verbindet diese Frage in sich als Figur. Ihre Welt ist zunächst eine Welt, in der das Recht als objektiv und vernünftig gilt, als eine Quelle der Macht, in der kein Platz für Gefühle oder Einfühlungsvermögen ist. Dann, in der Rolle der Anklägerin, wird Tessa in eine juristische Parallelwelt gezwungen, in der ihre Geschichte über den sexuellen Übergriff verzerrt und nicht geglaubt wird. Im Falle von Tessa Ensler wird der Angeklagte am Ende für ‚nicht schuldig’ befunden, ihre Geschichte wird von den Geschworenen nicht geglaubt.
Als Publikum hören wir diese Geschichte, kennen die Wahrheit, erleben ihre Verzweiflung, ihre Wut und ihre Trauer. Wir erhalten Einblick in diese beiden Welten des Rechts, in denen sie lebt. Die Geschichten von Frauen, die sexuell missbraucht wurden, lassen sich nicht so einfach in eine „juristische“ Wahrheit verwandeln. Die Arten von Gewalt denen Frauen ausgesetzt sind – meist durch jemanden, den sie kennen, meist im Privaten – sind die Arten von Gewalt, die nach dem Gesetz am schwersten zu glauben sind. Stattdessen werden die Geschichten der Frauen aus dem System herausgefiltert, in dem sie eine Hürde nach der anderen nehmen müssen. Auf der anderen Seite des Strafprozesses, wo das Ergebnis eigentlich Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sein sollte, bleiben wenige übrig. Neun von zehn sexuellen Übergriffen werden der Polizei nicht gemeldet. Von den wenigen, die angezeigt werden, enden neun von zehn ohne Verurteilung. Neunundneunzig Fälle, 99 von 100 Geschichten, schaffen es nicht durch das Rechtssystem. Und am Ende wird Tessa zu einer der 99 von 100 Frauen, die sexuell missbraucht wurden und denen von der Justiz nicht geglaubt wird.
Irgendwo. Irgendwann. Irgendwie. Irgendwas muss sich ändern
Die Kluft zwischen diesen beiden Bedeutungswelten – als Frau im Rechtswesen zu arbeiten – muss geschlossen werden, damit Erfahrungen von Frauen zu dem Stoff werden, aus dem Gesetze gemacht werden. Doch wie? Wie kann eine Reform von jahrhundertelanger Missachtung weiblicher Perspektiven auf legislativer Ebene aussehen? Die Frage ist eher: Wie kann sie beginnen? Eben durch Stücke wie Suzie Millers Prima Facie. O’Donnell beschreibt die Wirkung und den Erfolg der #MeToo-Bewegung wie folgt: Wenn eine Frau ihre Erfahrungen öffentlich macht, kann sie dafür an den Pranger gestellt oder ihre Geschichte abgetan werden. Aber wenn alle ihre Geschichten erzählen, erreichen sie eine andere Kraft. Wenn Frauen kollektiv ihre Geschichten erzählen, wenn sie Gegenstand unserer kulturellen Verhandlung werden, sei es durch Social Media, Fernsehen, Bücher oder eben Theater, verändern wir die Kultur, in die das Recht eingebettet ist und damit den Stoff, aus dem unsere Gesetze gemacht werden.