© Thomas Aurin Jeremy Mockridge, Mareike Beykirch

Programmzettel Baracke

  • Familie
  • deutsches Geschichte
  • Gewaltspirale

I. PARTY. Eine Studentin genießt das Leben allein. Familie bedeutet für Bea Enge, Depression, Hass. Doch bei einer Verliebtheit im Rausch des Berliner Nachtlebens wird ihre Autonomie in Frage gestellt. Jetzt stürmt auf sie ein, was sich nicht unterdrücken lässt: die Liebe.

II. LIEBE. Ramin oder Uwe? Bea will alles anders machen als ihre Eltern. Die Beziehung zu Ramin verspricht bürgerliches Anpassungsglück, aber Bea zieht es hin zu Uwe.

III. FREUNDE. Jugend in Krölpa, Thüringen. Wendezeit. Frustriert und auf der Suche nach neuen Vorbildern radikalisiert sich Beas Clique immer mehr.

IV. FAMILIE. Jahre später. Bea bekommt ein Kind mit Uwe und sofort stellen sich die bekannten Gewaltstrukturen her. Doch wo liegt der Ursprung dieser Gewalt? Auf einem Hochzeitsfest im Kreis der Großfamilie aus Westdeutschland laufen die Fäden über Generationen hinweg zusammen, aber erst in der Isolation der Kleinfamilie kommt es zur Konfrontation. Baracke ist ein Familienstück: über Familie, Gewalt und über Deutschland. Als scharfsinniger Chronist führt uns Rainald Goetz' virtuose Gedanken- und Verlinkungsmaschinerie in ein Museum des 21. Jahrhunderts. Analogien stellen sich her zum rechtsterroristischen NSU, jüngere Geschichte und Gegenwart verdichten sich zu einem radikalen Jetztexzess.

Terror im System von Daniel Richter

„Am Rad morgens an der Ampel, eng im Pulk der Wartenden, der Fußgänger, neben einer Frau, die ruhig und breit und komplett a-rezeptiv da steht, nichts von dem bemerkt, was um sie herum vorgeht, denn natürlich hat sie ihre Welt abpanzernden Privatsendungsstöpsel im Ohr, hört nichts, merkt nichts, ist als Taube von sich selbst beschallt, ganz allein in ihrem Eigenraum, der totale Irrsinn, in dem dreiviertel der Leute sich morgens durch die dicht bepackte Stadt bewegen, und wie ich neben ihr stehe (…) meldet der Hirn interne Satzautomat, der auf die Szene reagiert und sie zusammenfasst: Mit Wachheit ist nicht zu rechnen.“ Mit dieser Beobachtung der Gepflogenheiten metropolitaner Zeitgenoss:innen trat Rainald Goetz 2012 seine Heiner-Müller-Gastprofessur an. Seine Beschreibung ist die eines hochempfindsamen Menschen, eines außenstehend Involvierten, eines asozial Sozialen, dessen feinstoffliche Sensoren unmittelbar verbunden sind mit den ihn umgebenden Erscheinungsformen der gegenwärtigen Welt. Der Autor als Membran, an der sich der Sound der Gegenwart manifestiert. Die Szene aus dem Berliner Alltag des Autors steht exemplarisch für ein Schreibverfahren, das seit seinem skandalumwobenen Stirnschnitt in Klagenfurt 1983 zum Markenzeichen von Rainald Goetz geworden ist: beobachten aus maximaler Nähe, unentwegte Verschriftlichung der alltäglichen und medialen Welt, sammeln von Authentizitätsmaterial. Seine Stücke sind Schrift gewordene Erregungszustände auf Hochfrequenz, Wahrnehmungsströme aus gesampelten Bildbeschreibungen, Briefen, essayistischen Exkursen, Alltagsdialogen, Gedichten, Tagebucheinträgen, Supermarkt-Kassenbons, Zeit-Dokumenten, Medienberichten und popkulturellen Genres. Auch in seinem jüngsten Stück Baracke scannt er die gesellschaftliche Oberfläche ab und destilliert aus den Kommunikationsformen zwischenmenschlicher Beziehungen die Entitäten der Gegenwart heraus. Sein Interesse gilt nicht der Abbildung einer gegenwärtigen Welt in ihrer vorfindlichen Realität, sondern den Kommunikationsformen, die gesellschaftliches Denken erst konstituieren. Goetz sucht nach den Spuren von Bewusstsein in der Sprache, stößt in das unterbewusste Bewusstsein vor, in die Dunkelkammern einer Gesellschaft. Eine Methode, die er selbst als ethnographisches Projekt bezeichnet. Goetz würde es auf die simple Formel bringen: „Satz will denken. Nicht schauen.“

Alle Gewalt geht von der Familie aus

Hatte sich Rainald Goetz 2020 in seinem Stück Reich des Todes mit einer zynisch gewordenen Machtpolitik demokratischer Staaten im 21. Jahrhundert auseinandergesetzt, die den Terror von 9/11 mit einem Krieg gegen den Terror erwiderten, der Menschenrechtsverletzungen zur Normalität machte, richtet sich sein Augenmerk in der Baracke auf das Private, auf den Terror, der sich in der Institution Familie eingenistet hat. Zugespitzt bei Goetz: „Alle Gewalt geht von der Familie aus.“ Sein Gegenwartsprotokoll Baracke erklärt die Liebe zum Gegenstand der Untersuchung, wie Liebe in soziale Praxis übergeht und Gewalt aus ihr entstehen kann. Seine Versuchsanordnung setzt mit dem ersten Verliebtsein ein, als rauschhaft-technoide Präsenzerfahrung des Selbst jenseits der alltäglichen Gegenwart, der „realbrutalen Echt-Realität“. Baracke erzählt den Lebenslauf der Liebe über gut dreißig Jahre, über eine Generation hinweg.

Das Stück kennt sich selbst nicht, wehrt sich gegen Eindeutigkeit, bildet in seiner Unklarheit die Dunkelheit seines Gegenstands, der Familie, ab. Zugleich agiert es gegen sich selbst als ethnographisches Projekt, das DIE ELEMENTAREN STRUKTUREN DER VERWANDTSCHAFT zu erforschen versucht, Zeugnisse sammelt, Interpretationen ausprobiert, Konflikte protokolliert. Dabei wird Verschwiegenes exponiert, das Schweigen zum Zeugen gemacht, der das Unheil beobachtet und mithervorbringt und perpetuiert.

– Rainald Goetz

Aus einer Clique von Jugendlichen aus dem thüringischen Krölpa, die um 1977 herum geboren sind, geht ein Liebespaar hervor. Bea und Ramin erfahren die große Liebe, die wieder vergeht. Später verbindet sich Bea mit einem anderen Mann aus dem früheren Freundeskreis: Uwe. Er war Teil der Clique, die in Opposition ging zu der friedlich-gelangweilten Elterngeneration und sich radikalisierte. Mit Uwe bekommt Bea ein Kind, mit ihm gründet sie eine Familie. Die Verwandtschaftszweige reichen bis nach Westdeutschland, wo im Kreis der Münchner Großfamilie ein Hochzeitsfest stattfindet. Ost begegnet West. Der Familie gelingt es nach einigen Jahren, die ärmlichen Verhältnisse in Krölpa hinter sich zu lassen und in das wohlhabende Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch zu ziehen. Alles könnte zum familiären Erfolgsmodell werden, wenn die politische Vergangenheit der Clique nicht die Gegenwart der Familie einholen würde. Goetz zeichnet scharfsichtig nach, wie sich mit der Institutionalisierung der Liebe durch die Ehe ein Ordnungssystem der Gewalt in die Liebe eingeschrieben hat, dem ein verborgenes Machtdispositiv zugrunde liegt, das patriarchale Unterdrückungsmechanismen verschleiert und häusliche Gewalt und Missbrauch reproduziert. Wie verroht die Institution der Familie in der Gegenwart ist, legt Goetz schonungslos dar, wenn er hinter den Fassaden der bürgerlichen Familien eine patriarchale Konstruktion sichtbar macht, die weit über das Private hinaus die Fäden in einem ideologischen Verflechtungszusammenhang weiterzieht. Goetz‘ assoziative Namensreferenzen auf die Protagonist:innen des rechtsterroristischen NSU – Beate Zschäpe, Uwe Mundlos sowie Uwe Böhnhardt – sprengen den mikrosoziologischen Rahmen auf und lassen an den Rändern das Konstrukt Familie vor dem historischen Hintergrund deutscher Geschichte aufschimmern. Der Leerlauf der Kommunikation im gewalttätigen Mikrokosmos der Familie ist bei Goetz ein gesellschaftsübergreifender Defekt. Seine Verlinkungsmaschinerie reicht weit, assoziative Referenzen werden zur linksterroristischen RAF hergestellt und historische Marken wie die Deutsche Revolution, die Reichsgründung, die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, die Weltkriege und die deutsche Wiedervereinigung ineinander verschachtelt.

Linguistik der Lüge

Rainald Goetz schreibt der gesellschaftlichen Fiktion von Familie fiktiv eine fehlgeleitete Realität der heteronormativen Konstruktion von Familie ein und entblößt jenes als System pausenlos reproduzierender Gewalt und Herrschaft. Es sind die Lügen der Fiktion, der Linguistik der Lüge, die Goetz entlarvt. Mit seinem sprachlichen Sog hält er uns die Zustände eines noch heute tabuisierten Kosmos vor Augen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und auch wenn Goetz Verfechter eines Denkens in Ambivalenzen ist und einseitig moralisierende Deutungen rigoros ablehnt, zieht er metareflexiv dennoch in den Krieg gegen den familiären Terror auf dem Schlachtfeld der Kommunikation. Der Autor ruft zum (Theater-)Terror auf, der das Schweigen zu durchbrechen strebt, das sich von Generation zu Generation weiter tradiert. Und da, wo Schweigen ist, übernimmt der Text selbst das Sprechen. Autor:innenschaft also als unmittelbare Antwort auf den Systemdefekt. „Baracke“ ist somit ein Stück ‚terroristischer Literatur‘, in der Authentizität und Fiktion in eins fallen. Konsequent setzt Rainald Goetz am Ende ein konventionelles, bürgerliches Trauerspiel in Szene, lässt die eingespielte Theater-Narration von Familie vor uns abspulen, eine Referenz auf das Theater selbst als Ort der Selbstverständigung bürgerlicher Werte. Es ist eines von Goetz’ bewährten Verfahren, der Zitation die Dekonstruktion einer Ordnung folgen zu lassen. Das gilt bei Goetz in gleichem Maße für gesellschaftliche Strukturmodelle wie für ästhetische Konventionen. Was kann also Theater leisten, wenn die gesellschaftlichen Erzählungen sich auch im Theater stets selbst reproduzieren? Goetz würde sagen: „Mitgefühl ist die frohe Botschaft der Literatur“ – und wohl auch des Theaters.