
Programmzettel Böhm
In Deutschland gibt es etwa 340 Orchester. Und vor jedem steht ein Dirigent (oder heute auch zunehmend eine Dirigentin). Diese sind faszinierende Wesen: Musikalisch von höchster Sensibilität, gebieten sie als gottähnliche Alleinherrscher über teils riesige Klangkörper. Sie müssen sowohl Empfindsamkeit als auch Führungsstärke mitbringen, und ihre Fingerzeige setzen eine Hundertschaft in Bewegung.
Karl Böhm (1894 – 1981) war einer der großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Zwischen seiner Geburt und seinem Begräbnis (beide in Graz) liegen fast 87 Lebensjahre, die von einem tiefen Zwiespalt geprägt sind: Einerseits war Böhm ein großer Künstler, andererseits aber auch ein Mensch, der sich mit dem Nationalsozialismus gemein machte, um seine Karriere voranzutreiben: ein Profiteur des Dritten Reichs.
„Ich erinnere mich ganz genau“, lautet der Titel der Autobiografie, die Böhm im Alter von 85 Jahren veröffentlichte. Aber wie genau und woran genau wollte sich der Weltklasse-Dirigent, der auch bekannt war für sarkastische und zynische Ausbrüche, wirklich erinnern?
Der begnadete Puppenspieler und Puppenbauer Nikolaus Habjan beschäftigt sich in diesem Solo erneut mit dem finstersten Kapitel europäischer Geschichte, das ihn auch in anderen Stücken umtreibt, wie z.B. in F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig. Böhm stammt aus der Feder des Wiener Autors Paulus Hochgatterer, der für diesen Theaterabend Nikolaus Habjan und seinen Puppen die Rollen auf den Leib geschrieben hat.
Es geht schneller, als man denkt Gespräch mit dem Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan
Wie kam es zu der Idee für dieses Stück?
Das geht zurück auf meine allererste Arbeit, Schlag sie tot. Darin gibt es die Figur des Herrn Berni. Als ich die gebaut habe, hatte ich auf dem Schreibtisch, noch zuhause bei meinen Eltern, im Kinderzimmer, ein Plattencover von der Zauberflöte zu liegen – dirigiert von Karl Böhm. Ich hatte damals überhaupt keine Beziehung zu Böhm, aber wenn man sich den Herrn Berni ansieht, erkennt man ganz klar, dass der von Karl Böhm inspiriert ist. Später habe ich mich dann mit Böhm auseinandergesetzt, auch während meines Studiums, und da fand ich es natürlich besonders interessant, dass Böhm Grazer ist wie ich.
Und wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Paulus Hochgatterer?
Paulus Hochgatterer hat einmal für ein Projekt einen Text über das Gemälde Entführung des Ganymed geschrieben, den ich gespielt habe. Daraus hat sich dann ein weiteres Projekt entwickelt, bei dem er ein Stück dezidiert für mich und für die Figur, die ich für Ganymed kreiert hatte, geschrieben hat. Dabei hat mich die Art und Weise, wie Hochgatterer erzählt, wie er Handlungen entfaltet, sehr beeindruckt. Ich habe gemerkt, dass mir diese Art Geschichten zu erzählen, wahnsinnig zusagt. Außerdem ist Paulus Hochgatterer ein großer Opernfan mit einem ganz großen Wissen in diesem Bereich. Er ist – und das meine ich im absolut liebevollsten Sinn – ein totaler „Nerd“, was das angeht, und da treffen wir uns.
Hochgatterer hat keine klassische Künstlerbiografie geschrieben, sondern etwas ganz eigenes. Worum geht es?
Mich hat weniger die konkrete Lebensgeschichte von Karl Böhm interessiert als vielmehr die Geschichte dahinter. Paulus Hochgatterer hat dafür die Figur eines alten Mannes erfunden. Es bleibt weitgehend offen, wer das ist. Was man sagen kann: Es ist ein alter, pflegebedürftiger Mann, der eine unglaublich instabile Persönlichkeit hat und dem der Boden seiner eigenen Existenz immer wieder wegbricht und der sich dann nicht sicher ist, wer er eigentlich ist. Ihm gegenübergestellt ist die kleine Schwester seines 24-Stunden-Pflegers. Und im Grunde geht es um eine ganz zarte Begegnung zwischen dem Mädchen und dem alten Mann. Beide werden davon ein klein bisschen verändert und das ist sehr schön. Böhm lebt in der Vorstellung des alten Mannes, der ihn sehr verehrt. Die Rückblenden, die dann passieren, sind zum Teil wahre historische Begebenheiten, die genau recherchiert sind, dann aber in eine Szene gebracht sind, bei der man nicht genau weiß, ob es tatsächlich Erinnerungen des Mannes sind oder eben nicht.
Du spielst in diesem Stück so viele Puppen allein wie nie zuvor – nämlich elf. Wie hast du dich den unterschiedlichen Figuren genähert?
Es gibt verschiedene Ebenen: zum einen die ganz klare Realitätsebene, das Wohnzimmer mit dem alten Mann und dem Mädchen. In diesen beiden Figuren liegen die größte Genauigkeit und die größte Sensibilität. Gerade den alten Mann versuche ich mit so feiner Klinge wie möglich zu zeichnen. Je weiter es in die Fantasieebene übergeht, desto „puppiger“ wird es. So gibt es beispielsweise Böhm in unterschiedlichen Altersstufen, die sich äußerlich und auch sprachlich voneinander unterscheiden. Beim alten Mann versuche ich stark ins Steirische zu gehen, bei Böhm eher ins Wienerisch-Näselnde. Im alten Mann steckt – auch wenn er ein bösartiger, verzweifelter, aggressiver „Grantscherben“ ist – viel mehr Liebe als in den Erinnerungen von Böhm. Bei denen war mir wichtig, dass zu ihnen auch eine Distanz bestehen bleibt. Und dann gibt es noch meine Lieblingspuppen in dieser Produktion: die „Tischdiven“. Das sind die kleinen Puppen am Dirigierpult. Diese Puppenform spiele ich zum ersten Mal und ich bin sehr angetan davon. Diese kleinen, vielleicht einen Meter großen Puppen erfordern eine ganz andere Spielform, damit sie auch im zweiten Rang gesehen werden. Bei vielen historischen Figuren gibt es ja auch Vorlagen wie Film- oder Audioaufnahmen. Ich versuche nicht, sie zu imitieren, aber zu zitieren. Ich habe mich bei jeder Figur für einen „signature move“ entschieden: Christa Ludwig zum Beispiel stemmt ganz keck ihre Hände in die Hüften und wiegt sich vor und zurück. Und Walter Berry ist schockstarr, wenn Böhm ihn angiftet und schnellt zurück in eine Soldatenhaltung.
Welche Rolle spielt die Musik an diesem Abend?
In dem Stück gibt es sehr starke Vorgaben, die von Hochgatterer gründlich recherchiert sind, etwa das Programm vom ersten festlichen Konzert im neuen Deutschen Reich am 30. März 1938 im Konzerthaus, das Böhm dirigiert hat. Oder das Konzert am 9. November 1938, bei dem Böhm dem Konzertmeister im Konzerthaus noch sagte: „Zuerst packst du sie mit der ‚Tannhäuser-Ouvertüre‘ und dann walzt du sie nieder mit Bruckners Fünfter.“ Da finde ich es ganz besonders spannend, wenn man diese Musikstücke anklingen hört. Eine sehr wichtige Rolle spielt für mich auch Fidelio, der in Österreich ganz stark aufgeladen ist. Es gab die Staatsvertragsvorstellung von Fidelio und die letzte Vorstellung von Karl Böhm an der Wiener Staatsoper. Paulus Hochgatterer hat da auch musikalisch so schöne Bögen eingeschrieben, wenn er den alten Mann etwa sagen lässt: „Am Anfang ‚Der Trompeter von Säckingen‘ [Böhms erste Oper] mit ‚Behüt‘ dich Gott‘ und am Ende Fidelio mit ‚Gott, welch Dunkel hier‘“. Da liegt es natürlich nah, die Musik auch zu zitieren. Und wenn Böhm dann von der Staatsoper vertrieben wird, ist es schon wirkungsvoll, wenn man vom Rand hört: „Oh, grauenvolle Stille“.
„Wenn das Politische auf Sie zukommt, schauen Sie auf die Noten.“
Auf der Internetseite der Salzburger Festspiele heißt es zu Karl Böhm, er sei ein großer Künstler, aber politisch ein fatal Irrender gewesen. Wie stehst du dazu?
Goldschmidt, der Komponist, hat in seinen Memoiren sehr viel über Böhm geschrieben und er bezeichnet ihn als „virulenten Nazi“. Er beschreibt auch einen Zwischenfall, bei dem Böhms Frau Thea in Dresden angepöbelt wurde, weil man sie aufgrund ihrer schwarzen Haare für eine Jüdin hielt. Darüber, dass man sie für eine Jüdin hätte halten können, hat sich Böhm furchtbar aufgeregt. Das, finde ich, beschreibt ganz viel. Er hat gemeint, er würde sich bei Hitler beschweren, woraufhin alle davon geschockt waren, dass er offenbar Hitler kennt und Beziehungen hat. Er aber meinte, in München sei es gar nicht vermeidbar gewesen, Hitler kennenzulernen. Was mich bei dem Statement der Salzburger Festspiele ein bisschen stört, ist die Anführung einer Art Entschuldigung, zu der Böhm sich kurz vor seinem Tod herabgelassen hat. Das finde ich sehr fragwürdig, weil damit transportiert wird, er hätte sich einspannen lassen. Dem muss ich aber widersprechen. Einspannen lassen heißt, dass man sich nicht wehrt, aber Böhm hat sich ganz aktiv um Propagandadienste bemüht, wie man etwa an dem Briefwechsel mit dem Reichsdramaturgen Rainer Schlösser merkt. Man muss auch nicht solche Aussagen machen wie Böhm beispielsweise beim „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich: „Wer dieser Tat des Führers nicht mit einem hundertprozentigen Ja zustimmt, verdient nicht, den Ehrennamen Deutscher zu tragen.“ Gerade in der Opernwelt wird so viel weggeredet und nur Bezug auf großartige Referenzaufnahmen genommen. Ich finde, man muss trotzdem über die Künstler sprechen und ich sehe eine Gefahr darin, wenn immer abgeschwächt wird.
Du inszenierst als Regisseur auch im Musiktheater. Was macht den Mythos des Dirigierens aus?
Ich glaube, im Opernbusiness gibt es keine Berufsgruppe, bei der das Machtverhältnis so stark geklärt ist wie bei einem Dirigenten. Er steht an der Spitze einer Gruppe, deren Blicke allein auf seine Hände gerichtet sind. Der Dirigent steht auf einem Podest vor den Musiker:innen, ist der einzige, der Licht bekommt und überblickt alles, während die Orchestermusiker:innen dem Bühnengeschehen den Rücken zuwenden und nur auf ihn schauen. Der Dirigent steht in der Oper sogar über der Regie – an der Spitze eines sehr steil zulaufenden Systems. Natürlich kann ein Dirigent mit seiner Interpretation sehr viel gewinnen oder sehr viel verlieren, ich glaube aber, es wird eben ganz oft übersehen, dass Dirigenten eigentlich Interpreten sind, und nicht Schöpfer. Das wandelt sich zwar langsam, aber ich glaube, damals war es schon so, dass, wenn man von einem Bruckner „niedergewalzt“ wurde, es nicht Bruckner zugeschrieben wurde, sondern eben dem Dirigenten. Er steht einfach im Zentrum der Aufmerksamkeit, er ist es, der den ganzen Abend lenkt, deshalb bildet sich der Mythos, denke ich.
„Manchmal beunruhigen auch Möglichkeiten.“
War Böhm ein guter Künstler, aber ein schlechter Mensch?
Ich glaube, die Stärke von Böhm liegt, wie bei vielen Dirigenten, in der genauen Vorbereitung und nicht in der Aufführung selbst. Wir würden aber nie sagen, dass Böhm ein schlechter Dirigent war, darum geht es nicht und als Künstler wird er in dem Stück in keiner Weise angegriffen. Und es geht auch nicht darum, aus dem Theaterabend zu kommen und zu denken: „Der Böhm, das war aber ein Arschloch.“ Es geht vielmehr um seinen Opportunismus, der nicht so harmlos ist, wie man ihn gerne darstellen möchte. Das Publikum könnte also rausgehen und denken: „Ja, stimmt, es geht einfach schneller, als man denkt.“
Das Gespräch führte Elisabeth Geyer.