© Thomas Aurin Bernd Moss, Regine Zimmermann

Programmzettel Der geflügelte Froschgott

  • Adrenalin
  • Pizza
  • Schwerkraft
  • keine Tempeltänze

Nur mal so gefragt: Falls der Tod nicht das Ende ist, was käme danach? Geht es dort weiter, und wenn ja, in welchem Zustand? Und für wen? Und falls es so wäre: kann ich meine Chancen aufs Jenseits erhöhen und ist das sinnvoll? Und wie viele Jenseitse gibt es in etwa? Schwer zu sagen … Total schwer zu sagen, solange hinter jeder Frage eine neue lauert: Weiß die Hölle, dass sie eine Metapher ist? Können Dinge transzendieren, und angenommen ja, wie sieht eine transzendierte Pizza aus? Und wie schmeckt sie? Was ist das Kriterium für gut? Was ist das Kriterium für wahr? Ist der geflügelte Froschgott die Antwort? Ja, nein, vielleicht? Die Theaterautorin Ingrid Lausund kennt sich aus mit den allerletzten Dingen. Für ihre unter dem Pseudonym Mizzi Meyer verfassten Drehbücher zur Kultserie Der Tatortreiniger erhielt sie zweimal den Grimme- und 2019 den Deutschen Fernsehpreis. Mit ihrem neusten Theatertext begibt sie sich auf den Weg alles Irdischen und weit darüber hinaus: dorthin, wo die Luft dünn wird, ins Zwischenreich der ungesicherten Hypothesen. In diesem Reich der Fragen steht ein Mensch (oder ist es die Menschheit?). In die gottverlassene Einsamkeit eines Monologs geworfen, kämpft er (oder sie) gegen einen leeren Himmel an. Was daraus entsteht, ist ein Passionswerk für eine säkularisierte Welt, ein Klagelied für Zweifler:innen, ein Psalm für Atheist:innen. Aus tiefer Not schrei ich zu Dir, der Du nicht da bist.

Angenommen mal … von Bernd Isele

Paris, 1818: Im Jahr 1818 veröffentlicht der französische Jenseitsforscher Jacques Collin de Plancy einen veritablen Bestseller: Sein Dictionaire Infernal erlebt schon im 19. Jahrhundert mehrere Neuauflagen und gilt in  Okkultisten-Kreisen bis heute als Klassiker. Wie viele Dämonologen vor ihm versucht Plancy, die Agenten der Hölle zu katalogisieren. Dafür zitiert das Höllenlexikon einschlägige Quellen, die von 6666 Legionen berichten, die wiederum aus jeweils 6666 schwarzen Engeln bestünden. Von etlichen dieser Unterweltsbewohner weiß Plancy skurrile Details zu berichten, von 66 lässt er exakte Zeichnungen anfertigen, „d’après les documents formels“. Von Beelzebub, dem obersten Herrn der Hölle, von Satan, dem entthronten Prinzen, von Moloch, dem Herrscher des Tränenlands oder von Baal, dem Kommandanten der gehörnten Heere. Es sind die gesammelten Gesichter des Bösen: ein Kompendium geflügelter, hundsköpfiger, rüsseltragender, beschnäbelter oder schlangenschwänziger Zwerge, Kobolde, Phantome, Wiedergänger, Vampire, Ghule, Werwölfe, Gnome, Geister und Gespenster.

München, 1923: Thomas Mann kann es nicht lassen. Der Schriftsteller, dem sonst Vernunft und Verstand über alles gehen, hat in der Münchner Privatwohnung eines stadtbekannten Spukprofessors mehrere Geisterbeschwörungen besucht und sieht sich in einem 1923 erschienen Vortrag zu einer Beichte gezwungen: „Während die Welt voll ist von Problemen, durch deren Erörterung der Redner sich ein öffentliches Verdienst erwerben könnte (…), unterstehe ich mich, vor Sie zu treten mit einem Thema, das ich selbst gar nicht umhinkann als schrullenhaft zu empfinden (…): Ich bin den Okkultisten in die Hände gefallen“. Und in der Tat: bei aller Selbstironie ist der kultivierte Stilaristokrat von der Echtheit parapsychologischer Phänomene überzeugt. Mit „größter Erschütterung“ erlebt er, wie sich inmitten launiger Herrenrunden Taschentücher in die Luft erheben, wie sich Schreibmaschinen von selbst in Gang setzen, um Nachrichten aus dem Jenseits zu tippen, wie sich aus dem Nichts klauenartige Greiforgane materialisieren. Er habe das „Höllenfeuer“ gesehen, schreibt er – und nicht nur er. Denn nicht nur München, sondern die halbe Weimarer Republik ist im Fieber. Die Hauptstadtpresse berichtet, „dass man am Wedding, in der Mulack- und Weissenburgstrasse Abend für Abend Geisterrapporte abhält“. Stummfilme wie Das Cabinet des Dr. Caligari befeuern den Hype. Die „Geisterwelt“ hat sich eingenistet und will nun nicht mehr weichen. Und sie teilt die Menschen in ehrfürchtige Sympathisanten und wütende Skeptiker.

Wien, 2020: Lotte Ingrisch kann mit den Toten reden. Rund um die Wiener Hofburg, in der die österreichische Autorin bis zu ihrem Tod im Jahr 2020 lebt, weiß das jeder. Nicht nur ihr 1996 verstorbener Mann, der weltberühmte Komponist Gottfried von Einem, besucht die stadtbekannte Hofburg-Bewohnerin regelmäßig. Auch tote Freunde, verstorbene Haustiere und ehemalige Bewohner:innen der Residenz schauen gelegentlich vorbei. Von Zeit zu Zeit stehe eine verrückte Habsburgerin vor ihrer Wohnungstür, „die mit lauter Orden behangen ist und behauptet, sie sei die Chefin von Österreich. Aber das erschreckt mich nicht! Ich mag es, wenn die Toten ein und aus gehen“, sagt Lotte Ingrisch. Umso mehr, als diese Toten ihr manch Lebensrätsel lösen und die Begegnungen nicht selten heiter sind: „der Jenseitige behält seinen ganzen Humor“. Total normal sei das. Für eine „ganz gewöhnliche Sensitive“.

Die Welt der Verstorbenen, die für Lotte Ingrisch nur eine Tür weit entfernt ist, die Thomas Mann vor 100 Jahren so magisch anzieht und die Jacques Collin vor 200 Jahren mit Fratzen bevölkert, wird seit Menschengedenken als Angstraum behauptet, als Spekulationsobjekt vermessen, als Fantasieraum durchschritten. Für die Ich-Figur in Ingrid Lausunds Monolog Der geflügelte Froschgott ist diese Welt vor allem das Reich der Vermutungen. „Angenommen mal“ sind die beiden meistgesprochenen Wörter im Stück. Insgesamt 38mal kommen sie vor. „Angenommen mal, ich habe eine Seele …“, „angenommen mal, es gibt ein Jenseits …“, „angenommen mal, wir träfen uns dort…“. So folgt Hypothese auf Hypothese. Aber keine einzige erweist sich – bei genauer Betrachtung – als stichhaltig. Wie sollte es auch anders sein in einer Welt, in der (wo wüsste man das besser als in Berlin) die Engel und Teufel, Himmel und Höllen, Riten und Götter längst selbst beerdigt sind.

Was nicht verschwunden ist, sind die alten Menschheitsprobleme: der Tod, die Furcht, die Trauer. Und vor allem Letztere ist es, die Ingrid Lausunds SinnSucher:in keine Ruhe lässt. Wenn es keinen Himmel und keine Hölle mehr gibt, lebt der oder die Verstorbene „in uns“ weiter. Das Jenseits wird zum Spiegelkabinett. Wohin man auch schaut, blickt einem nichts weiter als die eigene Angst ins Gesicht. Was also tun? Für den Fall, dass uns kein okkultes Erlebnis zuteilwird? Für den Fall, dass unsere Toten nicht vor unserer Wohnungstür erscheinen? Was leider zu befürchten (und für die Schreckhaften unter uns wohl gleichzeitig zu erhoffen) ist? In Ingrid Lausunds Theatertext gibt es viele, bohrende Menschheitsfragen. Aber auch eine Antwort: Denn die conditio humana hat in all ihrer rührenden Vergeblichkeit etwas Tröstendes. Überall dort, wo das große Dramatische mit dem Allerbanalsten kollidiert, treffen sich Sinn und Unsinn zum Tanz.

Die Autorin Ingrid Lausund hat beidem – dem Tod und der Skurrilität und Absurdität, ja dem Witz, der darin begraben liegt – einen Monolog gewidmet, den es in zweifacher Ausführung gibt. Er kann von einer Frau oder von einem Mann gesprochen werden. Der Regisseur FX Mayr hat sich entschieden, beide zusammen zu besetzen und versammelt noch mehr Menschen zu einer gemeinsamen Welt. Zusammen mit seinem Team und einer Gruppe aus Spiel-, Sprech- und Tänzer:innen macht er die Bühne zu einem Transitort. Hier, wo schon immer die Lebenden den Toten begegnen, lädt er das Publikum zu einer Feier ein. Trotzdem allem und bis der Vorhang fällt.

Angenommen mal, ich habe eine Seele, die nach dem Tod ins Jenseits schwebt – ist in der Seele da mein Ich noch mit dabei oder ist mein Ich da nicht mehr mit dabei? Angenommen mal, mein Ich ist da noch mit dabei – gehören zu dem Ich auch noch Gefühle und Empfindung? Und angenommen, ja, da sind auch noch Gefühle mit dabei, dann könnt ich also postmortal zum Beispiel Traurigkeit empfinden, Freude oder Wut; sogar eine sexuelle Empfindung wäre dann nicht ausgeschlossen – nein, das bezweifle ich, denn Sexualität ist ja doch mit dem Körper sehr verbunden; wobei natürlich auch Freude mit dem Körper sehr verbunden ist, und Wut und Traurigkeit. Es wären also dann Gefühle ohne alles: Freude ohne Glückshormone, Sexuelles ohne irgendein Adrenalin, und auch meine Gedanken wären vollkommen gehirnloser Natur – das scheint mir doch sehr unglaubwürdig.

– Aus: Der geflügelte Froschgott