
Programmzettel Der Schimmelreiter / Hauke Haiens Tod
Der Schimmelreiter ist ein altes Buch.
In dem Buch geht es um einen Mann, der Hauke Haien heißt.
Hauke Haien hat in einem Dorf am Meer gewohnt.
Hauke Haien hat einen Deich gebaut, damit das Dorf vor dem Wasser sicher ist.
Dann ist er ertrunken. Seine Tochter Wienke Haien will wissen wieso.
Wienke macht sich auf die Suche nach ihrem Vater.
Wienke will wissen, wer schuld an dem Tod ist.
In dem Dorf lernt sie viele Menschen kennen.
Wienke fragt sich: Gibt es hier einen Mörder?
In dem Stück geht um Gespenster und um die Natur.
Es geht auch um Helden und um Krimis.
In dem Stück gibt es Puppen aus echten Tieren.
In dem Stück spielen Schauspieler ohne Behinderung und Schauspieler mit Behinderung zusammen Theater.
Das Stück ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Theater und dem RambaZamba Theater.
Auf gemeinsamer Bühne
„Soviel ist sicher“, so schließt der Erzähler in Storms Novelle Der Schimmelreiter seinen Bericht, „Hauke Haien mit Weib und Kind ging unter in dieser Flut“. Ihre toten Körper seien ins Meer hinausgetrieben worden. Auf dessen Grunde hätten sich Mutter und Kind in ihre Bestandteile aufgelöst. Der Deichgraf selbst dagegen reite seither als Geist auf seinem dem Teufel abgehandelten Schimmel über das nordfriesische Marschland. Der Deichbauer, der die Natur zu bezwingen versucht und beim Kampf gegen die Natur sein Leben lässt, wird in Storms Spukgeschichte zum Untoten des Fortschritts.
Mehr als ein Jahrhundert nach Storm – im Jahr 2001 – geben Andrea Paluch und Robert Habeck der alten Geschichte eine neue Wendung: Hauke Haiens mit einer kognitiven Einschränkung geborene Tochter Wienke, so die Grundannahme ihres Romans, sei in der Sturmnacht nicht ertrunken. Stattdessen habe Iven, ein ehemaliger Bediensteter, das Mädchen aus der Flut und in ein Wohnheim für Waisenkinder gerettet, von wo sie Jahre später aufbricht – auf der Suche nach ihrer Herkunft und nach dem Mörder ihres Vaters. Die Inszenierung von Jan-Christoph Gockel folgt der jungen Frau auf ihrem Weg zurück ins Dorf, zurück zu den Untoten der Vergangenheit.
Der aus diesen beiden Vorlagen abgeleitete Theaterabend ist ein gemeinsames Projekt zweier befreundeter Theater. Das RambaZamba und das DT gehen seit Jahrzehnten immer wieder gemeinsame Wege. Seit dieser Spielzeit haben die beiden Häuser ihre Zusammenarbeit intensiviert. Die Inszenierung ist das erste Großprojekt im Rahmen dieser erneuerten Partnerschaft.
Die Vielzahl an Tieren, die in Storms Novelle auftauchen – Hund, Möwe, Kater, Maus und Schimmel – zählen zum erweiterten Ensemble. Alle Tiere sind echt; alle sind eines natürlichen Todes gestorben. In ein neues Bühnenleben geholfen hat ihnen der Puppenbauer Michael Pietsch in Zusammenarbeit mit dem Präparator Jan Panniger, der der Textfassung darüber hinaus einige Sätze aus seiner Arbeitspraxis geliehen hat. So ist ein Abend entstanden, der die Toten und die Lebenden, Natur und Mensch auf gemeinsamer Bühne versammelt.
Seit 1888 im Clinch mit der Provinz: Über die Aktualität des Schimmelreiters. Ein Gespräch mit der Autorin Andrea Paluch
Was bedeutet Dir die Figur des Schimmelreiters?
In unserer Adaption des Stoffes setzt sich das Bild des Schimmelreiters aus vielen Perspektiven zusammen, seinen Charakter haben wir aber nicht grundlegend verändert. Er bleibt vor allem ein Kämpfer, er kämpft mit Logik und Erkenntnis gegen den Aberglauben und den Fatalismus der Dorfgemeinschaft. Darin ähnelt sein Schicksal dem der Kassandra – sein Wissen wird nicht angehört, er schafft es nicht, das Vertrauen der Leute zu gewinnen und sie zu überzeugen. In der Geschichte motiviert der Schimmelreiter die Beteiligten zu ihren Handlungen, persönlich scheitert die Figur jedoch trotz bester Absichten.
2001 erscheint Hauke Haiens Tod. Wie hat sich dein Blick auf diesen Stoff in den vergangenen Jahren verändert und was bedeutet es heute, sich mit Hauke Haien zu beschäftigen, im Vergleich zum Zeitpunkt des Schreibens?
Das Thema Sturmflut und Klimaveränderung ist medial seitdem mehr in den Vordergrund getreten, auch wenn das Wissen um die Zusammenhänge älter ist als das Buch. Der Stoff hat an seiner Aktualität nichts eingebüßt, nur die Aufmerksamkeit für das Thema ist größer. Dass dabei viele Leute heute mit der gleichen Emotionalität auf die Notwendigkeit des Menschheitsschutzes und die damit verbundenen Veränderungen reagieren wie die Dorfbewohner im Buch, ist allerdings eine unschöne Parallele.
Wie kam es zur Überschreibung der historischen Vorlage?
Wir wollten einen intertextuellen Roman schreiben, uns also auf einen Klassiker beziehen. Theodor Storms Schimmelreiter bot uns genug offene Enden und ein großes Rätsel, das wir lösen mussten – wie gemacht für unser Vorhaben. Wir haben die Geschichten der Dorfbewohner, ausgehend von ihrer Anlage bei Storm, weitergesponnen oder ihnen überhaupt erst eine Geschichte gegeben.
Theodor Storms Novelle erscheint 1888 zur Hochzeit der Industrialisierung, Städte im Ruhrgebiet platzen aus allen Nähten, um die Jahrhundertwende verdoppelt sich die Bevölkerung Berlins. Die Zeit rauchender Fabrikschlote und massiver Treibhausgasemissionen. Ist der Schimmelreiter von Anfang an eine Geschichte über die Rache der Natur an der Selbstüberschätzung des Menschen?
Ja, so kann man es lesen. Man könnte aber auch sagen, es geht um den Widerstand der Bevölkerung gegenüber Veränderungen, das Leugnen von Fakten und die Delegitimierung eines Amtsträgers, der als überlegen empfunden wird. Das sind sehr zeitgemäße Themen, die es offenbar auch schon vor dem Internetzeitalter gegeben hat, wenn auch mit weniger Reichweite. Die Fehler, die beim Deichbau gemacht werden, passieren eher wegen fehlender Unterstützung als aus Selbstüberschätzung. Und die Unterstützung fehlt wegen mangelnder Kommunikation.
Ganz im Gegensatz zum Titel ist der wahre Protagonist der Geschichte das Meer. Was können Künste und Theater leisten, um in einer erhitzten Welt im ebenso erhitzen Verhältnis zwischen Menschen und Natur zu vermitteln?
Ich glaube das erhitzte Verhältnis besteht vielmehr zwischen den Menschen. Vermittelt werden kann nur zwischen ihnen. Die Natur reagiert lediglich und ist argumentativ leider unzugänglich. Das Meer ist in diesem Zusammenhang eher das Sinnbild für die Urgewalten. Die Idee der Vermittlung ist schön und Kommunikation ist fraglos eine Schlüsselkompetenz bei der Gestaltung der Zukunft, ebenso wie Kreativität. Im Grunde geht es aber nicht mehr darum, zu reden oder Fragen zu stellen, sondern entlang der bestens bekannten Antworten zu handeln, beziehungsweise die Voraussetzungen für dieses Handeln zu schaffen. Dafür braucht es Mehrheiten, die in der polarisierten medialen Stimmung schwer zu organisieren sind. Die Künste könnten, im Sinne von Vermittlung, versuchen, Polarisierung zu moderieren und auf Solidarität hin zu arbeiten. Das ist höchst politisch, wäre aber meine Antwort.
Die Fragen stellte Johann Otten.
Alles ist größer. Sonst nichts. Ein Gespräch mit dem RambaZamba Ensemble
Worum geht es im „Schimmelreiter“ und wen spielst du?
Moritz Höhne Ich bin Drummer. Und auch Moritz ahmt Möwengeräusche nach und Moritz imitiert das Beten in einer Sekte. Es geht um den Vater. Richtig. Der Vater ist tot, Wienke ist alleine.
Hieu Pham Es geht darum die Wahrheit darüber herauszufinden, wer ihren Vater Hauke Haien ermordet hat. Wienke tötet Tiere und näht die Felle an ihre Kleidung. Der Vater war viel am Deich mit ihr und sie hat ihm dabei zugesehen, wie er die Tiere getötet hat. Ich hab außerdem die Vermutung, dass sie Modedesignerin sein will. Das mit den toten Tierpuppen war erst echt gruselig und angsteinflößend. Man sieht das Material und wie viel Arbeit da drin steckt. Langsam hab ich das Gefühl, als wären die Tiere unsere Haustiere.
Zora Schemm Hauke Haien hat den Deich für seine Tochter gebaut. Weil er sie lieb hat. Sie will immer ihren Vater finden, weil sie ihn vermisst und er ihr was bedeutet.
Sebastian Urbanski Sie bringt damit das Leben von ihrem Begleiter Iven Johns durcheinander, der sie damals vor dem Deichbruch rettete, dann in die Wohngemeinschaft brachte und nun wieder in das Dorf mit dem durchbrochenen Deich zurückbringt. Das Dorf hält ihren Vater für einen missverstandenen Messias, zu dem sie eine Hassliebe empfinden. Er hat versucht das Dorf zu retten, aber das Wasser war mächtiger. Das Wasser wurde zum Mörder und riss Bewohner und Haustiere mit sich.
Franziska Kleinert Iven Johns ist ein böser Typ. Weil er sie einfach zurück in die Wohngruppe schickt und sagt: Verschwinde, geh dahin, wo du hergekommen bist! Ich spiel ne Möwe in der Kneipe da und nen Priester und die Wohngruppenleitung und Sabine, die Lady First, und die Polizei. Mein Auftritt ist mit der Tatort-Musik. Mich interessieren Mord und Wasserleichen und so. Mich interessieren daran die Blutspuren und das Untersuchen mit nem Koffer und nem Puschel – Spurensicherung! Wer ist der Täter?
Was nimmst du von der Produktion mit?
Hieu Pham Ich nehme die Helligkeit der Geschichte mit, die bleibt bei mir.
Moritz Höhne Ich arbeite hier gern. Mit meinem Freund Gockel.
Zora Schemm Gockel ist ein ganz guter Regisseur. Fröhlichkeit ist auch immer ganz gut! Auf jeden Fall macht es mir Spaß. Mit Manuel sowieso.
Franziska Kleinert Die Leute beim Verkabeln sind auch nett. Die Drehbühne kenn' ich schon von Der gute Mensch von Downtown im RambaZamba.
Sebastian Urbanski Max Reinhardt hat mit dem eleganten sowie modernen DT einen Meilenstein für mich und andere Spieler erreicht. Es war mir eine Ehre!
Was ist bei den Proben im DT anders als im RZt?
Moritz Höhne Hier haben wir eine große Bühne. Alles ist größer. Sonst nichts.
Zora Schemm Eigentlich genau gleich – beides gut.
Frankziska Kleinert RambaZamba ist klein und Deutsches Theater groß und beides ist gut.
Was soll das Publikum beim Zuschauen fühlen?
Zora Schemm Sie werden dann gefesselt davon.
Sebastian Urbanski Das Stück ist ein Appell: Sie sollen verstehen, dass die Natur gegen seine Zerstörung zurückschlagen kann!
Hieu Pham Sie sollen traurig mitfühlen und am Ende glücklich sein.
Frankziska Kleinert Sie sollen bei der Spurensuche mitmachen! Und sich gruseln.
Moritz Höhne Bitte keine Angst! Nur Lachen.
Die Fragen stellte Joy von Wienskowski.